von Roland Binz

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1. März 2011

In Deutschland läuft seit dem 24. Februar ein Fußballfilm. Zuletzt, im Jahr 2004, hat „Das Wunder von Bern“ die Ereignisse um den ersten deutschen Gewinn einer Fußballweltmeisterschaft im Jahr 1954 rekapituliert und eine politische Parallele zum deutschen Wirtschaftswunder der 1950er Jahre gezogen. Der aktuelle Film „Der ganz große Traum“ spielt genau 80 Jahre früher und erzählt eine Geschichte zum Beginn des Fußballspiels im Deutschland des Jahres 1874. Auch dieses Werk setzt dramaturgisch auf politisch-gesellschaftliche Umstände, hier ist es das Klima nach Gründung des Deutschen Reichs. Konnte der „Wunder“-Film anno 2004 nicht mit der ganz großen Publikumsresonanz rechnen, die tatsächlich eintrat (weit über 5 Millionen Besucher), so scheint die Bereitschaft der Deutschen, einem weiteren cineastischen Fußballerlebnis beiwohnen zu können durch die sympathischen Auftritte der deutschen Fußballnationalmannschaft 2006 (Deutschland) und 2010 (Südafrika) günstiger. Ob diese positiven Rezeptionsvoraussetzungen schon für einen analogen Kassenerfolg ausreichen, kann jedoch nicht als gesichert gelten. Denn das „Wunder von Bern“ hatte eine Bevölkerungsgruppe auf seiner Seite, die trotz Rentenalter vital und mobil genug war, in den Kinosälen ein nostalgisches Jugenderlebnis zu feiern. Der „Traum“ hingegen ist primär etwas für Kinoliebhaber mit Sport- und (deutschen) Geschichtsinteressen; und eigentlich spricht sein Sujet Schüler und Jugendliche an, denn sie sind die Protagonisten des Films – wie in der realen Entwicklung in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts.

Die Besprechung eines Films, der historische Fakten ins Rampenlicht der Öffentlichkeit rücken will, muss neben der Nutzung historischer Erkenntnisse auch den Medientrubel berücksichtigen. Von besonderer Bedeutung ist das Rezensionsverhalten der Feuilletons und Sportredaktionen. Deren Filmbesprechungen sind Teil des PR-Konzepts und werden von der Filmproduktion als Wirtschaftsfaktor kalkuliert: Sie entlasten den Werbeetat. Bei Rezeptionsunsicherheiten werden daher die Promotionsaktivitäten im Vor- und Umfeld des Kinostarts erhöht. In dieser Hinsicht setzte seinerzeit Sönke Wortmann, der „Wunder“-Macher, unübertroffene Maßstäbe, nicht zuletzt mit seinen persönlichen Beziehungen in die allerhöchsten Ränge des rot-grünen Politpersonals von 2004. Wortmann war Parteigenosse des Außenministers Joschka Fischer. Kanzler Gerhard Schröder, lange vor der politischen Karriere ein Amateurfußballer, bekannte Tränen der Rührung bei der Pressevorführung. Mit diesen Pfunden hat die „Wunder“-PR-Abteilung seinerzeit gewuchert und wohl entscheidend zur Sicherung des Kassenerfolgs beigetragen.[1] Ein ähnlicher Auftritt des heutigen Regierungspersonals Merkel, Westerwelle würde nur noch als Polit-Eigen-PR registriert. Sie verbietet sich zudem angesichts eines Films, der kritisch mit der liberalen Wirtschaftsverfassung des Kaiserreichs umgeht. Außenminister Westerwelle, Ikone des „Neoliberalismus“, als Promotor des Films? Ein kapitaleres Eigentor könnten Produzenten nicht schießen.

An Stelle von Politikern übernehmen die Schauspieler den PR-Part, in erster Linie der Sympathieträger Daniel Brühl, der die Hauptfigur des Films gibt. Brühl bringt zu seiner Schauspielkunst auch Fußballtalent mit. Als Schüler hat er „gekickt“ und jongliert im Film zum Beweis 20mal unfallfrei mit dem Ball. Im Interview gewährt Brühl Einblicke in seine pädagogischen Ansichten und bekennt, dass er vom Typus „Kumpel-Lehrer“ am meisten gelernt habe. Deshalb habe er dieses Rollenmodell seinem Darstellungskonzept des Protagonisten Koch zu Grunde gelegt. Auch DFB-Präsident Theo Zwanziger tritt, von Deutschlands Massenblatt Nr. 1 ans Mikro gebeten, als Fürsprecher des Films auf. Doch gerade dessen Einlassungen („Drill, Disziplin, Gehorchen, Feindbilder“, wie im Film gezeigt, „das wollen wir heute nicht mehr“: Wer wollte es damals?),[2] geben eine Ahnung von den Schwierigkeiten des Films, den Sinn seiner Geschichte außerhalb von PR-Zielen zu definieren.[3] Denn Zwanziger repetiert zwar die plakativen politischen Argumente der PR-Abteilung zum Alltag des Kaiserreichs. Aber tragen diese Versatzstücke wirklich den Plot, wie Tobias Kniebe in der SZ[4] behauptet?

Der Film möchte die Geschichte erzählen, wie „Konrad Koch im Kaiserreich den Ball ins Spiel brachte“, so der Untertitel jenes Werkes, das die Produktionswebseite als historisch-wissenschaftliches Ausgangsmaterial anführt.[5] Doch: Was für eine Geschichte erzählen die Bilder tatsächlich und stimmen sie überein mit all den Interpretationen, welche Kritik und Film-PR über diese Phase deutscher Geschichte mit so einhelliger Gewissheit verbreiten? Diese Filmbesprechung sucht in der Unterscheidung zwischen der Ebene der Filmbilder und der von Produktion und Kritik vorgegebenen Interpretationsebene nach den Aussagen des Films und vergleicht sie mit jenem fußballhistorischen Erkenntnismaterial, das in das Drehbuch höchst selektiv eingegangen ist.  Der Film beginnt pittoresk. Eine altehrwürdige Postkutsche scheint direkt aus einem historischen Kupferstich einer Innenstadtansicht von Braunschweig in den Alltag des Jahres 1874 zu fahren, ein gelungener Auftakt. Der Kutsche entsteigt ein junger Mann, dessen Kleidung aus auffällig gelb-blau kariertem Dessin von Hose, Sakkoweste und Mütze, dazu eine leuchtend blaue Fliege, so gar nicht in das vorgefundene Umfeld passen will. Erst recht nicht in das Ambiente des Gymnasiums Martino-Catharineum, wo er – angeblich direkt vom Studium aus Oxford kommend – seine Stelle als Englischlehrer antreten soll. Konrad Koch, so heißt der Lehrer, wird vom Direktor als „Reformer“ herzlich begrüßt, auch wenn er ihn wegen seines verspäteten Dienstantritts rügen muss, mit milder Nachsicht allerdings. Schon die Thematisierung der „Pünktlichkeit“ zeigt an, dass bürgerliche Tugenden im Film, ebenso wie militärischer Drill, eine große Rolle bei der Charakterisierung deutscher Bildungscurricula spielen. In der dazu bald nach Filmbeginn arrangierten Szene hört man harte, rhythmisch exakte „Gleichschritt-Marsch“-Geräusche. Sie gehören zu einer im Turnsaal mit Gewehrimitaten exerzierenden Turnklasse, zackig befehligt vom Turnlehrer. Auch Kochs erstmaliges Betreten des Klassenraums der Untertertia wird von einer Erziehungsszene dominiert. Ein Lehrerkollege dringt in den Klassenraum ein und führt ein Bestrafungsritual (Stockschläge auf ausgestreckte Hände) durch, das dank Denunziation zweier Schüler den Kleinsten der Klasse trifft. Beim Prügelopfer handelt es sich um Joost, das wiederholt und geringschätzig „proletarius“ genannte, einzige Arbeiterkind der Klasse, dessen Außenseiterstellung durch seinen einsamen Platz in der hintersten Schulbank unterstrichen wird.

Dieser Filmeinstieg, wiewohl durch Momente leiser Ironie kontrastiert, erstaunt durch seine Häufung von sattsam verbreiteten Klischees über das Deutsche Reich. Ihre Berechtigung im Film legitimiert der Kritiker der Süddeutschen Zeitung ohne Umschweife mit den bekannten Begriffen: „(…) nationaler Chauvinismus, Kriegsbegeisterung, Standesdünkel, Sekundärtugenden, Prügelstrafe, Exerzieren … all das hat es ja nun wirklich gegeben“.[7] Deshalb erscheinen sie ihm als Grundstrukturen des Filmplots zwingend: „(Um) klare Gegensätze aufzubauen, damit das Spiel am Ende seinen Triumphzug antreten kann, muss erst einmal ein mächtiger Gegner her“.[8] Das Drehbuch scheint sich dieser Perspektive verpflichtet gefühlt zu haben, und man fürchtet als Kinobesucher einer politisch-pädagogischen Belehrung beizuwohnen. Doch der Fortgang des Films verblüfft mit Bildern, deren symbolkräftige Subtexte eine zweite Geschichte erzählen. In dieser treten zunehmend die Untertertianer in den Vordergrund, und es wird allmählich deutlich: Die Schüler, nicht Koch, sind die Hauptfiguren des Films. Nur im ersten Filmdrittel behauptet Koch den Mittelpunkt, strahlt seine Lockerheit in die Klasse hinein, fordert deren eigenes Denken heraus und beeindruckt die Schüler durch seinen Respekt vor ihnen.

Als Kontrast zur Lichtgestalt Koch ist das Klassenzimmer inszeniert. Der Film zeigt einen engen, abgeschlossenen Raum mit lediglich einem einzigen Fenster zur Welt. Der Raum korrespondiert mit der intellektuellen Düsternis der nationalistischen Parolen, die den Schülern indoktriniert werden. Erwartungsgemäß reproduzieren diese ihre geistige Enge in abrufbaren Formeln, etwa über die „barbarischen“, von „Inzucht“ zerrütteten Engländer, die „uns die Neger wegnehmen“, als Koch ihr Wissen über England abfragt. Auch die in geometrisch abgezirkelter Akkuratesse in Zweierbänken platzierten Schüler spiegeln gedankliche Unbeweglichkeit. Dieselbe Wirkung geht von der militärisch ausgerichteten Haltung von Armen und Händen der Schüler bei der Begrüßung des Klassenlehrers aus, und selbst das Anmelden eines Wortbeitrags scheint einer geheimen, antrainierten Choreographie zu folgen: Unterarm, Hand und Zeigefinger bilden einen rechten Winkel und in militärisch strammer Haltung äußert man seinen Beitrag. Dem Film gelingt hier die Suggestion der Allgegenwart von Disziplin und Unterordnung als „Bildungs“programm der Reichsgesellschaft, was den Geist der Unterwürfigkeit gegenüber Autoritäten zur Folge hat. Dieser Aspekt wird in einer weiteren Szene deutlich. Sie zeigt den Schüler Felix Hartung, Sohn des ortsansässigen Großfabrikanten, der gleichzeitig dem Schulförderverein vorsitzt. Hartung fordert Koch mit einem despektierlichen Kommentar zuerst heraus, um ihm dann seine Hände zur „verdienten“ Bestrafung mit Holzstockschlägen entgegen zu halten. Genau besehen, versinnbildlicht dieser Vorgang den jugendlichen Protest gegen die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung, dem ewigen Parieren, dem gerade der junge Hartung zuhause ausgesetzt ist. Koch löst die für seine Autorität heikle Situation, indem er die Klasse zum Antreten im Turnsaal auffordert und ihr zum ersten Mal den Umgang mit dem Fußball beibringt. Diese dramaturgische Lösung enttäuscht mangels Stimmigkeit mit dem zuvor gezeichneten Bild Kochs als in England zum Reformpädagogen geläuterten Deutschen.[9] Man hätte eher eine Lektion in Meinungsfreiheit erwartet, die mit dem Beginn der Aufklärung in England im 17. Jahrhundert als Grundrecht in das common law eingegangen ist.

Mit dem Umzug in den Turnsaal wird eine Wende in der Filmerzählung eingeleitet. Das Hauptgeschehen der Handlung wird aus dem Klassenzimmer, dem Ort geistiger und körperlicher Bedrückung, in die Turnhalle verlagert, vorübergehend. Zwar ist auch sie von den tumben Exerzierübungen mental belastet, doch die Übungsanweisungen in englischer Sprache und das Spiel mit dem Ball vertreiben diesen Geist. Die von Koch angeordneten Schussversuche auf einen zum Tor umfunktionierten Turnbarren haben zugleich die Funktion, die Klassenhierarchie zu irritieren: Bisherige Führungsfiguren wie Felix Hartung versagen unerwartet und andere wie der übergewichtige Otto und das Fliegengewicht Joost fallen durch Talente auf. Die Filmbotschaft ist spielerisch verpackt: In jedem Menschen stecken Qualitäten, überkommene Traditionen verhindern jedoch ihre individuelle Entfaltung. Dieses reformpädagogische Credo versucht Koch im Disput mit dem Schulförderverein vergeblich durchzusetzen. Man unterstellt ihm allerdings die Unterwanderung von Schul- und Gesellschaftsordnung und will ihn loswerden; dem kommt er mit seiner Kündigung zuvor. Doch nicht die politischen Hahnenkämpfe unter Erwachsenen entscheiden über die Bewegungsbedürfnisse der Schüler, sondern diese selber übernehmen die Handlung. 

Bevor ein weiterer Ortswechsel in Szene gesetzt und das letzte Filmdrittel eingeleitet wird, rundet der Film seine zeitgeschichtliche Studie mit einigen Szenen ab. So lässt er die alleinerziehende Mutter des Arbeiterkindes Joost den sozialen Aufstieg durch Bildung beschwören; der pubertierende Hartung-Filius darf, frei nach Wilhelm Buschs Frommer Helene, den bürgerlichen Hang zum Personal tradieren, deren Liebelei mit der vom Vater entlassenen Haushaltshilfe Rosalie eine heimliche Fortsetzung auf diesem Spielplatz findet; und Otto, Sohn des örtlichen Turngeräte-Fabrikanten, beweist kaufmännisch-innovatives Talent, er experimentiert mit Schweinsblasen als Inhalte von Lederhüllen: Erste echte Fußbälle.

Die Schüler haben nun endgültig die Regie übernommen. Auch weil der Turnsaal für Spiele verboten wurde, organisieren sie ein Treffen in einem städtischen Park, zu dem verabredungsgemäß auch Koch hinzukommt. Mit Ästen und Schnüren improvisiert man primitive, aber transportable Fußballtore. Der Film rekonstruiert hier eine Urszene, wie sie für den rund 15 Jahre späteren Beginn der Fußballvereinsbewegung in Deutschland von zentraler Bedeutung war. Der Spielplatz bot Heranwachsenden zum Ende des 19. Jahrhunderts die ideale Möglichkeit, um Bewegungs- und Kommunikations- Bedürfnisse zu verwirklichen. Hier waren sie, auch mangels alternativer Treffpunkte etwa in Gaststätten,[10] unter sich und entzogen sich der Erwachsenenkontrolle. Wie der Film zeigt, geschahen diese Treffen in Selbstorganisation, wobei man in den verbreiteten, aber verbotenen Schülerverbindungen ein vielfältig interessantes Vorbild hatte. Diese wiederum orientierten ihr Organisationshandeln und Selbstbewusstsein als Gruppe an den Studentenverbindungen. Aus diesem Milieu haben die neuen Vereine eine Vielzahl von gruppenspezifischen Merkmalen übernommen, etwa der einheitliche öffentliche Auftritt durch die Nutzung von Vereinsfarben, Vereinsfahne, Vereinstrikot, Vereinsmützen mit Insignien.[11] Auch in Fragen der Vereinsstatuten waren Verbindungen das Rollenmodell, und Vereinsnamen wie „Borussia“, „Alemannia“, „Eintracht“ haben ihre Wurzeln ebenfalls in der verbindungsstudentischen Kultur.[12] Das im Film gezeigte Aufbegehren der Schüler und Jugendlichen gegen die Etablierten hatte nichts mit „Lausbubengeschichten“ gemein, wie ein Rezensent vorschnell einwirft.[13] Ganz im Gegenteil, aus der Unzufriedenheit mit permanenter Bevormundung entstand etwas gesellschaftlich sehr Konstruktives. Mehr und mehr Jugendliche nutzten den Fußballsport zur Organisation von Vereinen, die rechtskräftigen Bestand erlangten.[14] Genau darin lag das herausragende Merkmal der in den 1890er Jahren in Deutschland entstehenden Fußballvereinsbewegung. Man kann an ihr den Aufbau, den Wandel und die Selbstreproduktion[15] einer modernen gesellschaftlichen Institution[16] studieren. Es hat daher seine historisch begründete Berechtigung, dass der Film seinen Aussageschwerpunkt sukzessive aus dem Handlungsraum der Erwachsenen herauslöst und die Schüler ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt.

Etwas pathetisch allerdings gerät dann die Schlusseinstellung, in der die Untertertianer ein Fußballspiel gegen eine mit Koch befreundete Schülergruppe aus England austragen. Im visionären Vorgriff auf spätere Ereignisse kommt im Park eine große Menschenmenge zusammen und es brandet Stadionstimmung auf. Sie feuert das deutsche Team zum Sieg über „die Engländer“ an, was selbst die kaiserliche Evaluierungskommission von denallseitigen Vorteilen des Fußballspiels zu überzeugen scheint. Im Abspann erfährt man zwei Gründe für dieses märchenhafte Filmende, und man soll sie wohl als Legitimation für die Konstruktion der ganzen Geschichte ansehen. Zum einen heißt es da, habe der historische Konrad Koch ein Jahr nach den vom Film erzählten Ereignissen, also 1875, in Braunschweig einen Schülerfußballverein gegründet. Dieses Modell habe, zum zweiten, in den Folgejahren zu mehr und mehr Gründungen von Fußballvereinen im Deutschen Reich geführt, eine Aussage, die suggeriert, Koch habe die Initialzündung zu dem gegeben, was wir heute in Deutschland als Fußballspiel kennen.

Dieses Ende ist ein echtes Eigentor des Drehbuchs. Statt es bei der phantasievollen Bebilderung eines Gründungsmythos zu belassen, der historisch-reale Phänomene in groben Skizzen thematisiert und deren Wirklichkeitsnähe in der Schwebe hält, holen diese Tatsachenbehauptungen den ganzen Film auf die Ebene der historischen Fakten zurück. Koch, in Wirklichkeit Theologe und Altphilologe mit Englischkenntnissen[17], zum Englischlehrer mit Oxford-Studium zu machen, obwohl er dort höchstwahrscheinlich erst 1895 war,[18] ist als Ausdruck künstlerischer Freiheit tolerabel. Grenzwertig ist jedoch die Darstellung, Koch habe den Untertertianern das heutige Fußballspiel beigebracht: Das mit Sicherheit nicht. Koch hat seinen Schülern 1874 die Rugby-Version vermittelt, die er auch Zeit seines Lebens bevorzugte; Malte Oberschelp,[19] hat das zutreffend darlegt, genau wie alle anderen, die viel früher und intensiver zu Koch geforscht haben.[20] Der historische Konrad Koch war außerdem ein zäher Kämpfer. Er ist nicht, wie ihn der Film zeigt, vor scheinbar mächtigen Personen oder Institutionen eingeknickt, sondern er hat sein Leben lang für strukturelle Verbesserungen an den deutschen Schulen sich eingesetzt und als Mitglied des Zentralausschusses auch enorm viel erreicht.[21] Als passionierter Sympathisant des deutschen Turnens hat er sich dennoch nicht gescheut, wiederholt heftige, öffentliche Dispute mit dem gesellschaftlich einflussreichen Establishment der Deutschen Turnerschaft zu führen.

Die im Film betriebene Stilisierung Kochs zum Reformpädagogen ist allerdings grotesk. Zwar setzte sich Koch zunächst in Braunschweig und später im „Zentralausschuss zur Förderung der Volks- und Jugendspiele“[22] dafür ein, Spiele in den Schulablauf zum Abbau der einseitigen körperlichen Belastungen der Schüler zu integrieren. „Buchschule“ und „Überbürdung“ waren seinerzeit die wichtigsten Stichworte einer allgemeinen Schulkritik und zugleich Ausgangspunkt der reformpädagogischen Bewegungen am Ende der 1880er Jahre.[23] Zusammen mit anderen Lehrern des Martino-Catharineum erreichte Koch die Einführung von drei Spielnachmittagen in der Woche. Dabei favorisierte Koch nicht allein das Fußballspiel sondern auch Cricket sowie leichtathletische Disziplinen (Diskus- und Gerwurf, Schnell- und Dauerlauf) standen auf dem Spielplan, auch Ringkampf und insbesondere „Turnspiele“ (Barlaufen, Kaiserball, Schwarzer Mann), womit er als lebenslang begeisterter Turner die Kontinuität zu den Aktivitäten Ludwig Jahns herstellen wollte.[24] Koch jedoch mit dem modernen Begriff von Reformpädagogik in Verbindung zu bringen und seine persönliche Entwicklung zu diesen Idealen mit in England erfahrenen  Erziehungsmethoden zu begründen („von England lernen, heißt … überhaupt erst einmal Mensch werden“),[25] das beweist eine komplette Unkenntnis der historischen Hintergründe wie auch der gesellschaftlichen Ziele englischer Schulspiele, gerade des Footballs. Denn deren Programmatik der Ertüchtigung war nicht weniger militaristisch, wie manche Forschung der 1970er und 80er Jahre den Turnern des Deutschen Reichs vorgeworfen hat.[26] In Wirklichkeit war Football an den public schools des gesamten 19. Jahrhunderts ein elementarer Teil des Erziehungsideals „athleticism“.[27] Dessen systematische Praxis hatte den Sinn, der englischen Jugend sowohl „Patriotismus“ zu vermitteln als auch „den Willen sich zu opfern“ („spirit of self-sacrifice and patriotism“).[28] Generell sollte der Athletismus an den public schools die englischen Jugendlichen dazu befähigen, ihrem Land zu dienen („capable of serving their country“).[29]Dass der Film auf dem Weltmarkt, für den er ausdrücklich konzipiert wurde,[30] mit falschen Aussagen zur angeblichen englischen Reformpädagogik bestenfalls Kopfschütteln ernten dürfte, ist das eine. Dass der Film stellenweise eine stark verzerrte Sicht auf einen Abschnitt deutscher Geschichte preisgibt, diese Botschaft dürfte nicht minder irritieren.

So gesehen konterkarieren die Abspann-Aussagen unnötigerweise die im Film symbolisch erfasste historische Ausgangslage, die mitursächlich den Start der Fußballvereinsbewegung in den 1890er Jahren auslöste. Mit ihren fünfzehn Personen ist die Gruppe der Untertertia-Schüler die größte Ansammlung von Menschen, die im Film dramaturgisch relevant ist. Hiermit ist ein Größenverhältnis angedeutet, das die reale demographische Bedeutung der jugendlichen Altersgruppen im Kaiserreich angemessen repräsentierte: Man kann von einer „generelle(n) Jugendlichkeit der deutschen Reichsbevölkerung“ sprechen.[31] Im Jahr 1900 lag der Anteil der unter 30-Jährigen knapp über 61% und fast 35% der Gesamtbevölkerung war unter 15 Jahre alt.[32] In dieser tendenziell schon seit den 1870er Jahren vorgefundenen gesellschaftlichen Konstellation konnte sich „Jugend als soziale Gruppe“[33] herausbilden und ihren Eintritt in die Welt der Erwachsenen „in eigener Regie“[34] gestalten. Das Fußballspiel lieferte dafür eine Vorlage. Allerdings: Mit „kicken“ war es nicht getan. Erst die Institutionalisierung als (bürgerliche) Fußballvereine zwischen 1890 und 1900, die Übernahme des Liga-Wettbewerbs mit regelmäßigen Heim- und Auswärtsspielen zur Ermittlung eines Saisonmeisters sorgte für organisatorische Kontinuität; hinzu kam der Aufbau des Jugendspielbetriebs, die zentrale Subinstitution zur Selbsterhaltung von Sport und Verein. Eine entscheidende organisatorische Weiterentwicklung waren Zusammenschlüsse auf lokaler Ebene, zuerst in Berlin, später in Karlsruhe und Freiburg sowie Hamburg, aus denen gingen Landesverbände hervor, als erstes der Süddeutsche Fußballverband (1897), gefolgt vom Rheinischen Spielverband (1898), beide zählten zu den Antriebskräften für einen nationalen Verband: 1900 als Deutscher Fußball-Bund gegründet.[35]

Vor diesem historischen Hintergrund erscheint der Film „Der ganz große Traum“ als durchaus gelungener, oft amüsanter und anrührender Einstieg in die deutsche Fußballgeschichte. Er regt dazu an, einen politisch bislang unterbewerteten, aber gesellschaftlich relevanten Sozial- und Kulturkontext am Ende des 19. Jahrhunderts erneut und noch genauer zu betrachten.

(Regie: Sebastian Grobler, Deutschland 2011)

Siehe dazu außerdem den Beitrag auf filmportal.de

 

Beckers, E./Richter, E.: Kommentierte Bibliographie zur Reformpädagogik. St. Augustin 1979.

Binz, Roland: „Borussia ist stärker“ Zur Alltagsbedeutung des Fußballs, gestern und heute. Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris 1988.

Hamer, Eerke U.: Die Anfänge der „Spielbewegung“ in Deutschland. London 1989

Hoffmeister, K: Ein Braunschweiger Lehrer als Begründer der Schulspiele in Deutschland, mschr. M. 1978.

Hopf, Wilhelm: Fußball. Soziologie und Sozialgeschichte einer populären Sportart, Bensheim  1979.

Kniebe , Thomas: Der Club der lebenden Kicker, in: Süddeutsche Zeitung online, 24.2.2011, 10:18.

Moritz, Rainer: Der ganz grosse Traum … oder wie der Lehrer Konrad Koch den Fußball nach Deutschland brachte. Reinbek bei Hamburg 2011.

Oberschelp, Malte: Der Fußball-Lehrer. Wie Konrad Koch im Kaiserreich den Ball ins Spiel brachte. Göttingen 2010.

Preising, Wulf: Die Spielbewegung in Deutschland: Die Entwicklung einer gesellschaftlichen Bedeutung des Spiels, in: Ueberhorst, Horst: Geschichte der Leibesübungen Bd. 3/1. Berlin 1980.

Tenbruck, Friedrich: Jugend und Gesellschaft. Freiburg 1962.

Tenfelde, Klaus: Großstadtjugend in Deutschland vor 1914, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 69, 1982, 182-218.

 


 

[1] Vgl. Wenn sogar der Kanzler weint. Die Berliner Republik und ihr „Wunder von Bern“, in: http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208221/default.aspx#pgfId-1033039

[2] http://www.bild.de/BILD/video/clip/unterhaltung/kino/2011/02/23/der-ganze-grosse-traum-feiert-premiere-agvideo.html

[3] Der Filmetat von 5,5 Mio. Produktionskosten wurde dank einschlägiger Förderinstitutionen aufgebracht: vgl. Rubrik „Archiv“ auf http://www.cuckooclock.tv/cms/index.asp?cuckooclock.

[4] Vgl. Tobias Kniebe: Der Club der lebenden Kicker, in: Süddeutsche Zeitung, online am 24.2.2011/10:18, nachfolgend zitiert als: Kniebe, SZ, Seitenzahl.

[5] Es handelt sich um Oberschelp 2010, vgl. http://www.derganzgrossetraum.de/, Stichwort „über Konrad Koch“. Der dort ebenfalls genannte Rainer Moritz hat „aus dem Filmdrehbuch von Philipp Roth und Johanna Stuttmann“ einen Roman mit dem Titel des Films gemacht. Es handelt sich hier um ein Novum: Moritz schrieb den Roman zum Drehbuch, vgl. http://www.rowohlt.de/magazin_artikel/Rainer_Moritz_Der_ganz_grosse_Traum.2928157.html

[7] Kniebe, SZ, 2

[8] Ebd.

[9] Zur Stilisierung siehe S. 8f.

[10] Später wurde der Jugendschutz nicht selten unterlaufen, indem ein Wirt offiziell den Vereinsvorsitzenden gab, vgl. Binz 1988, 267ff.

[11] Vereinsmützen wurden noch nach 1900 auch beim Spiel getragen; die Versportlichung des Fußballspiels bezog den Kopf mit ein und machte Mützen zum Hindernis. Die Mützentradition war auch in England verbreitet; noch in den 1970er Jahren erhielten die Nationalspieler der FA für jede Berufung eine Mütze; vgl. Morris 1981, 193.

[12] Der gesamte Themenkreis ist ausführlich behandelt in Binz 1988. Das Buch ist die Publikation einer Disserta-tion, die von der Sepp-Herberger-Stiftung des DFB zwischen 1984 und 1986 finanziell gefördert wurde.

[13] http://www.getidan.de/film/peter_claus/24210/der-ganz-grose-traum-ab-24-februar

[14] Typisches Beispiel ist der Karlsruher SC, der 1953 durch Fusion entstanden ist: aus „Phönix“ Karlsruhe (gegr. 1894; deutscher Meister 1909) und VfB Mühlburg, seinerseits aus Fusionen hervorgegangen, wobei der älteste, 1. FV Sport Mühlburg, gegr. 1895, auf eine im Jahr 1890 entstandene Schüler- und Jugendverbindung zurück geht (Binz 1988, 168ff).

[15] Die Einrichtung von Jugendabteilungen innerhalb der Vereine, deren Mannschaften an speziellen Wettbewerben teilnahmen, war bereits zur Wende zum 20. Jahrhundert als Phänomen verbreitet, schon vor 1914 kannte man die Einteilung in jugendliche Altersgruppen unter und über 15 Jahre; ab 1919 wurde ein Spielbetrieb mit Altersgruppen durchgeführt, deren Einteilung zwei Jahrgänge umfasste und die bis in die 1970er Jahre gültig war; vgl. Binz 1988, 24f.

[16] Dies ist eines der Hauptergebnisse meiner Forschungen, vgl. Binz 1988.

[17] Hoffmeister 1978, 20; zit. nach Hamer 1989, FN 791

[18] Vgl. Hamer 1989, FN 149 und 791

[19] Oberschelp 2010, 75ff.

[20] Hier ist insbesondere Hoffmeister (1978) zu nennen; weitere biographische Daten hat Hamer (1989, 456ff) recherchiert.

[21] Koch hat sich insbesondere für die „Spielplatzfrage“ engagiert. Als Ergebnis kann man darauf verweisen, dass sich die Zahl der Spielplätze im Deutschen Reich zwischen 1890 und 1900 nahezu verdoppelte, und enorme Zuwächse nicht nur in den großen Städten über 100.000 Einwohner sondern auch in Gemeinden unter 20.000 zu verzeichnen waren; vgl. Binz 1988, 94ff.

[22] Der Zentralausschuss setzte sich ab 1891 das Ziel, den Spielerlass von 1882 auf breiter Ebene zu realisieren. Die gründlichste Analyse dieser als „Spielbewegung“ bezeichneten Initiative und ihrer gesellschaftlichen Hinter-gründe hat Hamer (1989) geleistet; nach einer Phase stark ideologisierter Sportgeschichtsschreibung in den 1970er Jahren hat Preising (1980) als erster die Spielbewegung ohne ideologische Vorbehalte untersucht.

[23] Vgl. insbesondere Beckers/Richter 1979; Hamer 1989.

[24] Vgl. Hamer (1989, 482ff), der weitere Einzelheiten zu den später „Schulspiel“ genannten Bewegungsspielen recherchiert hat.

[25] Kniebe, SZ, 2

[26] vgl. Hopf 1979

[27] „Athleticism“ im 19. Jahrhundert ist das Spezialgebiet des englischen Sporthistorikers James A. Mangan (2001/1981).

[28] Hamer 1989, FN 792.

[29] Ebd.

[30] Diese Absicht war Gegenstand von Presseveröffentlichungen des Produzenten Anatol Nitschke; vgl. http://www.kino-news.de/news-details-25821592/daniel-bruehl-holt-fussballpionier-aus-dem-abseits.html, http://www.n-tv.de/leute/Bruehl-wird-Fussballlehrer-article1192706.html, http://www.ad-hoc-news.de/dreharbeiten-zu-film-ueber-fussballpionier-koch-in--/de/News/21524618.

[31] Diese Formulierung von Schmoller (Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, München/Leipzig 1923, 164 wurde von Tenfeld (1982, 186, FN 21) zitiert.

[32] Tenfelde 1982, 186.

[33] Tenbruck 1962, 47f

[34] Tenbruck 1962, 92

[35] Vgl. Binz 1988, 248ff. Heute bilden die rund 3,5 Millionen aktiven SpielerInnen in etwa 26.000 Vereinen, verteilt auf 21 Landesverbände nicht nur die Basis des DFB (http://www.dfb.de/index.php?id=11227) sondern eine wenig beachtete soziale Realität der deutschen Gesellschaft; vgl. Binz 1988 mit sozialempirischen Daten zum Fußballvereinsbetrieb, am Beispiel des Fußballverbands Baden; leider gibt es keine Vergleichsforschung zur Gegenwart des Amateurfußballs angesichts der demographischen und Migrationsentwicklung in Deutschland.