von Mona Körte

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1. September 2010

Freitag Abend, ein Tag nach Filmstart von Oskar Roehlers Spielfilm „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ im Delphi-Filmpalast in Berlin: Eine Handvoll Menschen verteilt sich in dem rie­sigen Raum – das muss selbstredend kein Qualitätsurteil sein. Nun ist es aber wohl tatsächlich so, dass sich kein Publikum für diesen Film finden wird, und dies aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Zu einem nur geringen Teil mag es daran liegen, dass Roehler bereits nach der Premiere auf der Berlinale 2010 durch den allzu freien Umgang mit Fakten, insbesondere aber durch die fragwürdige Inanspruchnahme der eigentlich katholischen Ehefrau des Jud-Süß-Darstellers Ferdinand Marian als jüdische, Geschichtsklitterung vorgeworfen wurde. Ein historische Sachverhalte verkürzendes, umdeutendes und gar manipulierendes Erzählen ist jedoch vor allem mit Blick auf jene die NS-Zeit fiktionalisierenden Filme ein weitverbreitetes Phänomen, das Publikumszahlen keinen Abbruch tut, im Gegenteil.

Weitaus signifikanter für diesen Film ist, dass er sich nicht entscheiden kann, wovon er erzäh­len möchte. Eigentlich sollen offenbar die Entstehungsbedingungen des NS-Propagandafilms „Jud Süß“ das Thema bilden; Roehler profiliert hierfür seine Hauptfigur, den omnipotenten, aber an mangelnden Rollen leidenden Künstler Ferdinand Marian, indem er aus Joseph Gobbels eine rheinländische Karikatur und aus dem Regisseur Veit Harlan einen devoten und hölzernen Erfüllungsgehilfen macht, den er in die Nähe Fritz Hipplers, des Regisseurs des Propagandafilms Der ewige Jude, rückt. Einmal meint man also einen Film über die Entste­hung eines Propagandafilms im Kontext nationalsozialistischer Kulturpolitik zu sehen, der in der zweiten Hälfte die Wirkungsmacht des Films auf den Zuschauer ins Visier nimmt, dann wieder einen Film über den Fall „Marian“, über die Manipulierbarkeit des Darstellers durch seine künstlerische Besessenheit und seinen bedingungslosen Willen zum Ruhm, der uns nach Art eines Künstlerromans präsentiert wird, und schließlich – und diese Momente sind ganz selten – einen Film über die prekäre Frage danach, ob und wie sich Ideologie und Ästhetik miteinander vereinbaren lassen und wie dies rezipiert werden kann. Das letzte Thema trägt solange, wie der Film im Film in der Entstehungsphase begriffen ist und Marian seinem aus dem „Ghetto in Polen“ als Statist geholten jüdischen Ex-Schauspielerkollegen das halbherzige Versprechen eines künstlerisch wertvollen Films geben kann. Im Kern ist dies die ungelöste Frage nach den Modalitäten des Ästhetischen, die sich heute immer wieder etwa an den Filmen Leni Riefenstahls entzündet. Mit Blick auf den NS-Film Jud Süß wird zumindest diese Frage von Roehler eindeutig beantwortet, indem nach der Fertigstellung des Films im Film nur eine Lesart zugelassen wird: Es handelt sich um ein perfides Werkzeug der Propa­ganda, das auf der besonderen, zunächst empathiegestreuerten Interpretation des Jud Süß durch Marian gründet.

Während Roehler vor den selbst angedeuteten Fragen nach den Modalitäten des Ästhetischen zurückschreckt und diese daher nur streift, ist die Verführbarkeit und Käuflichkeit des Künstlers, deren radikale Ausprägung in der bloßen Performanz von Propaganda kulminiert, ein Strang, dem Roehler ebenfalls nicht zu trauen scheint. Insgesamt ruht sich der Film auf schiefen Analogien aus, indem er zwischen dem Aufstieg und Niedergang des Jud Süß, wie ihn die Stoffgeschichte präsentiert und dem Fall Ferdinand Marian ungute Parallelen zieht. Roehlers Analogien hinken, denn dass der „Hofjude“ Süß Oppenheimer und der Schauspieler Marian ihre Haut zu Markte trugen, hat aus historischer und ethischer Warte gesehen je an­dere Bedingungen und Begründungen.

Dass Roehler auf diesen Strang allein nicht setzen möchte, zeigt nahezu jede seiner Szenen, die eine Vielfalt anderer Themen aufwerfen. Der Regisseur erzählt, wenn auch verkitscht von der Kraft der Dichtung, den Möglichkeiten von Film und Theater, bringt symptomatische Versatzstücke des authentischen NS-Films ins Spiel, die er bearbeitet, kurz: Er häuft die Themen ohne Gespür für deren Scharnierstellen und verliert sich dadurch buchstäblich im Ungefähren.

Auf der Suche nach der Motivation und dem Zusammenhalt des filmischen Erzählens gibt nicht der Titel, sondern sein Untertitel „Film ohne Gewissen“ einen Anhalt, der sich im übri­gen (ironisch) an dem 1984 ausgestrahlten Dokumentarfilm „Jud Süß und das deutsche Ge­wissen“ von Karl-Heinz Meyer orientiert. Es ist die Gewissensfrage, die, im Untertitel reiße­risch als Leerstelle besetzt, die Szenen ordnet und die Themen zu bündeln versucht. Es scheint, als habe Roehler durch Absicherungen nach verschiedenen Richtungen die eigene Fallhöhe zu berechnen versucht: Das zeigt sich auch darin, dass sich seine Figuren in der Stoffgeschichte zu Jud Süß auszukennen scheinen. Damit betonen sie gleichsam, dass sie ihn nicht alleine ‚verbrochen’ haben, wenn sie den Bogen von Wilhelm Hauffs Jud Süß-Novelle bis zu Lion Feuchtwangers Roman spannen, letzteren aber irrtümlich als Vorlage des NS-Films begreifen.

Die Gewissensfrage ins Zentrum eines Films zu rücken, der nicht den Jud-Süß-Film von Veit Harlan selbst, sondern die Entstehungsbedingungen dieses ideologischen Produkts themati­siert, ist ein zwar naheliegendes, aber deshalb nicht minder uninteressantes Unterfangen. Denn damit rücken die Akteure im Doppelsinn in den Blick, diejenigen nämlich, die als Re­gisseure, Schauspieler und Produzenten die Sehgewohnheiten und möglichen Rezeptionshal­tungen der Zuschauer antizipieren müssen, um sie zu lenken. Die Frage des Gewissens kontu­riert zumindest all jene (wenigen) Figuren, die anders als Goebbels und Harlan keinen ein­förmigen, sondern einen ambivalenten Charakter besitzen. Roehler inte­ressiert, wie es insbe­sondere um diese Charaktere bestellt ist, ohne hierbei ein Werturteil im Sinne einer einengen­den, verabsolutierenden Interpretation liefern zu wollen. Anders formu­liert könnte es darum gehen, das prekäre Wirkungsfeld der am Film Beteiligten zu entfalten ohne sogleich von dem Hof an Verurteilungen überwältigt zu werden, der das Gewissen als Instanz umgibt. Das muss nicht heißen, dass diese Figuren mit dieser Methode in einem höhe­ren Sinne notwendig straf­frei davonkommen, sondern dass sich – abseits eines biederen, fest­gefahrenen Gewissensdis­kurses über die Korrumpierbarkeit des Menschen durch totalitäre Re­gime – neue und überge­ordnete Deutungshorizonte ergeben.

Das klingt zunächst paradox, ist aber das unerreichte Ziel jener filmischen Erzählweise, der man leider eine unfreiwillige, aber umso vollkommenere Unentschiedenheit attestieren muss. Mehr als deutlich ist der Film allein in seiner Bildersprache, die groteske Inszenierungen und grelle Kolportage als Stilmittel benutzt. Die Frauen des Films sind nach dem bewährten Muster der arischen Blonden und der dunklen Jüdin besetzt, und dort, wo diese Polarisierung aufgebrochen wird, geschieht dies nur zum Schein, denn die dunklen Arierinnen haben sich dem ‚jüdischen Wesen’ anverwandelt, sie sind verführerisch, berechnend, pervers und sexbe­sessen. Die optische Ausrichtung der Figuren und die sie umgebenden Utensilien sind plaka­tiv, ohne dass dies einer immanenten Logik oder intendierten Strategie gehorchte: Peinlich genau folgt deren Ausrichtung der Ikonographie von Schuld und Unschuld (Ma­rians Frau Anna ist im ersten Teil etwas zu oft ganz in Weiß) und führt einem vor Augen, dass jedes, wirklich jedes Utensil der Ausstattung die erzählte Geschichte mitinterpretiert. In Interviews betonte Roehler das Ziel der Wertfreiheit, einen Schuld-/Unschulddiskurs führen seine Figuren tatsächlich wenig im Mund, dafür hat er ihn im Kostüm und in der Ausstattung im Ganzen (notdürftig) versteckt. Roehler scheut auch pseudo-realistische Ghettoszenen nicht, die ihre Kraft als Realitätssignale längst verloren (oder nie inne gehabt) haben und de­ren Inflationarität kaum noch zu überbieten ist.

Schlimmer aber ist die krude Dramaturgie, die gegen Ende neben der ethischen Fragwürdigkeit auch jeder fiktionalen Kohärenz entbehrt. Marian unterscheidet nicht nur nicht mehr zwi­schen sich und seiner Rolle, er kommt den tatsächlichen Opfern in Gestalt jüdischer Häftlinge auch räumlich immer näher, wenn sich ihm bei der Filmvorführung vor SS-Leuten in Auschwitz dessen radikalisierende Wirkung auch physisch durch aufgeheizte und mordbereite Zuschauer-Aufseher mitteilt und er von seinem Film weg- und justament hin zu den Gräben aushebenden Häftlingen von Auschwitz läuft. Die peinliche und unglaubhafte Begegnung des trunkenen, zerbrochenen Genies Marian mit den KZ-Häftlingen wohl eines Außenlagers von Auschwitz insinuiert, dass sich hier gleichsam unterschiedlos Opfer des NS-Systems begeg­nen. Hier brennt Roehlers Erzählweise mit ihm durch, wenn er den von Goebbels benutzten und bald achtlos weggeworfenen Künstler mit dem zum Tod durch Arbeit oder Gas verur­teilten weiblichen Häftling solidarisiert und die nationalsozialistische Ideologie mithin als ein viele Menschen betreffendes Unrechtssystem verniedlicht. In dieser Szene kristallisiert sich das Problematische des Films: Roehler suggeriert hier, dass sich am Ende zwei durch das NS-System erniedrigte Gruppen als Opfer begegnen und in stillem Einverständnis ins Auge blicken. Auch zeigt diese Szene, dass Roehlers Verfahren, jede der dargestellten Szenen, egal welchen Inhalts, allein auf Marian auszurichten und zu zentrieren, sie also so zu inszenieren, dass nur nach der Wirkung auf ihn gefragt wird, Figuren zu Staffage macht und Orte wie Auschwitz auf abgründige Weise der bloßen Bebilderung seines Seelenhaushalts dienen.

Der Film weicht seinen selbst beschworenen Konsequenzen aus; er wechselt so unvermittelt und nahezu launisch die Ebenen von Satire und konventionellem Erzählen, von biederer In­szenierung und trashigen Einlagen und von Politischem und Privatem, dass die ganz große und die kleine Geschichte einmal distanzlos ineinanderfallen, sich dann wieder gegenseitig ablösen oder unreflektiert nebeneinander her laufen. Dabei würde man sich doch gerade er­zählerische Sorgfalt bei der Verzahnung dieser beiden Geschichten wünschen.

Wie viel sich Roehler vorgenommen hat, und welche Themen er anschneidet, zeigt der un­mittelbare Beginn: Hier tritt das Theater als Medium im Film nach Art einer Apotheose auf. Für Shakespeares „Othello“ ebenso wie für den Othello verkörpernden jüdischen Schauspieler Adolf Wilhelm Deutscher ist die Zeit abgelaufen. Kultur muss fortan der Unkultur in Gestalt des wild gestikulierenden und dekretierenden Goebbels weichen, der den jüdischen Schau­spieler mit einem Berufsverbot belegt. Der Jude verschwindet von der Bühne und mit ihm die kanonischen, hier hochgradig allegorisch verstandenen Texte der Moderne. Goebbels Auftritt inmitten der Probe zu Othello markiert die Bruchstelle, die Stunde Null, das Theater muss dem Film und der jüdische muss dem arischen Schauspieler weichen, der fortan allein deshalb jüdische Figuren verkörpern muss, um sie zu perhorreszieren und ihren längst überfälligen Untergang nachhaltig zu legitimieren. Der jüdische Schauspieler nimmt das kulturelle Archiv literarischer und theatraler Texte mit sich fort, rezitiert diese noch in seinem Kämmerlein, bevor er nach Polen, dem Synonym für Ghetto und KZ, deportiert wird, um schließlich mit offenbar unzerstörbaren Bildungspartikeln zurückzukehren.

Roehlers Film zitiert wichtige Zusammenhänge an, möchte sie aber nicht erzählen bzw. näher beleuchten und weicht aus in das Konglomerat einer konventionellen Erzähl- und vor allem Bildersprache, durchsetzt mit Elementen aus Trash, Kitsch und Folklore. Aporien lässt er nicht stehen und daher nicht gelten; politisch-ethische Fragen beantwortet er allein mit privaten Verfehlungen, worin sie sich verlieren und leerlaufen.

Am Ende – es ist das Jahr 1946 – treffen Marian und der Ex-Schauspielerkollege Deutscher als Überlebender eines Konzentrationslagers in München, hier einem Ort der Lederhosenträ­ger und amerikanischen Besatzer, noch einmal aufeinander. Und wieder bedient Roehler das mächtige Stereotyp, das den Bogen zum Anfang schlägt: Deutscher kehrt zwar nicht mit Shakespeare, wohl aber mit den Versen Heinrich Heines auf den Lippen wieder und wirft sie dem als „Nazi“ titulierten Marian wie Flüche ins Gesicht, nachdem er ihm vom Tod seiner Frau durch Vergasung erzählt hat. Den Wahrheitsbeweis seiner Geschichte erbringt Deutscher durch das Medaillon Annas mit dem Bildnis ihrer Mutter, das als mächtig aufgeladenes Uten­sil immer schon von brüchigen Genealogien erzählt; daraufhin lässt er Marian von der umste­henden Gruppe Überlebender zusammenschlagen. Dies geschieht ausdrücklich nicht, weil Marian der 1940 in die Wege geleiteten Auswanderung mit seiner Frau die Promotion seines Films auch in den besetzten Gebieten vorgezogen hat, sondern weil er sein Versprechen, mit Jud Süß keinen propagandistischen, sondern einen künstlerisch wertvollen Film vorzulegen, nicht gehalten hat.

Roehler antwortet immer anders als man denkt, allerdings führt dies nicht zu überraschenden Einsichten, sondern verstärkt den Eindruck einer enormen Fliehkraft, die der Film vor seinen eigenen Fragen entwickelt.

Siehe dazu außerdem den Beitrag auf filmportal.de