von Andreas Spreier

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1. September 2013

„Shadow Dancer“ ist ein Film, der nicht viel erklärt. James Marshs Inszenierung des gleichnamigen Romans von Tom Bradby, der auch das Drehbuch verfasst hat, berührt den Kern des Nordirlandkonflikts, ohne seine historischen Hintergründe im Detail offenzulegen.
Der Film beginnt ohne große Umschweife. Belfast, 1973. Die 12-jährige Colette McVeigh verliert ihren kleinen Bruder, der während eines Schusswechsels zwischen der britischen Armee und der Irish Republican Army (IRA) ums Leben kommt. Das Schuldgefühl steht Colette ins Gesicht geschrieben. Eigentlich hatte ihr Vater sie geschickt, Zigaretten zu holen. Geschrei, der vorwurfsvolle Blick des Vaters, der verzweifelte Gesichtsausdruck Colettes, Schnitt. Was in diesem Moment zählt, ist der Tod ihres Bruders. Die Sequenz verrät nichts über die Situation in Belfast im Jahr 1973. Die Bilder zeigen den sterbenden Bruder, die Auswirkungen der Gewalt, ohne den Versuch zu unternehmen, ihre Ursachen zu erklären. Der Zuschauer wird in den Film geworfen, ohne etwas über Colettes Kindheit in einem tief in der republikanischen Bewegung verwurzelten Haushalt zu erfahren, in einer Zeit, in der die sogenannten Troubles ausbrachen.

Im Jahr 1973 herrschte in Nordirland ein Bürgerkrieg, dessen unmittelbare Vorgeschichte auf die Gründung des nordirischen Staates im Jahr 1921 zurückgeht, auch wenn sich die Wurzeln des Konflikts jahrhundertelang in der irisch-britischen Geschichte zurückverfolgen lassen. Nach dem ersten Weltkrieg spitzten sich die Unabhängigkeitsbestrebungen Irlands zum Anglo-Irischen Krieg zu, der Anfang der 1920er Jahre zur Teilung der Insel führte. Mit der Gründung des nordirischen Staates war der Konflikt bereits angelegt, der Ende der 1960er Jahre virulent werden sollte, versuchte doch die protestantische Mehrheit um jeden Preis ihre Vorherrschaft zu bewahren, um die Union mit Großbritannien aufrechtzuerhalten, während die katholische Minderheit eine Wiedervereinigung Irlands anstrebte. Ernsthaft in Frage gestellt wurde die unionistische Einparteienherrschaft erst, als sich, inspiriert vom US-amerikanischen Civil Rights Movement, in den 1960er Jahren eine Bürgerrechtsbewegung formierte. Als Demonstrationszüge auf den Straßen die Gleichberechtigung der katholischen Minderheit forderten, sah die protestantische Bevölkerung die Union mit Großbritannien in Gefahr. Gewalt und Gegengewalt schaukelten sich hoch, bis die britische Regierung 1969 die Armee in Nordirland einsetzte, um die katholische Minderheit vor Übergriffen von Seiten der Protestanten zu schützen. In dieser Gemengelage griff die IRA zu den Waffen, um katholische Viertel zu verteidigen und ein vereintes Irland mit Gewalt zu erzwingen. Im Frühjahr 1972 war die Situation soweit außer Kontrolle geraten, dass die britische Regierung die direkte Regierungsverantwortung für Nordirland übernahm. Die IRA sah sich ihrem Ziel eines vereinten Irlands einen entscheidenden Schritt näher, rief 1972 als „the year of victory“ aus, überzog Nordirland mit einer Bombenkampagne, die sich in erster Linie gegen die Sicherheitskräfte richtete, aber auch vor zivilen Opfern keinen Halt machte, und trug die Gewalt nach England.

So abrupt wie der Film eingestiegen ist, springt er auch zur nächsten Szene. London, 1993. Inzwischen ist Colette eine erwachsene Frau. Sie fährt mit der Londoner Tube, steigt aus, wechselt die U-Bahn, fährt eine Weile, steigt wieder aus, wartet am Bahnsteig, sieht sich um, läuft die gewundenen Gänge entlang, lässt ihre Handtasche auf einer Treppe stehen, verschwindet in einem dunklen Schacht. Im Hintergrund ertönt dumpf eine Evakuierungswarnung. Colette sagt kein Wort. Minutenlang. Doch Andrea Riseborough spielt die Nervosität, die Anspannung, die Zweifel Colettes so greifbar, dass man sich als Zuschauer gut vorstellen kann, wie die 20 Jahre des Nordirlandkonflikts, die seit dem Tod ihres Bruders vergangen sind, in diesen Minuten an ihr vorbeiziehen.

Als Colette aus dem Schacht ans Tageslicht tritt, zerreißt keine Explosion die Stille. Sie hatte den Zeitzünder nicht aktiviert. Auch als plötzlich MI5-Agenten auftauchen und sie in ein Auto zwingen, bleibt Colette stumm. Der britische Geheimdienst stellt sie vor die Wahl, entweder sie landet in einem englischen Gefängnis, 400 Meilen von ihrem Sohn entfernt, oder sie arbeitet als Informantin und verrät damit nicht nur ihre Familie und die IRA, sondern setzt auch ihr eigenes Leben aufs Spiel. Denn es stand außer Frage, dass die IRA sie als Informantin hinrichten würde, sollte sie auffliegen. Um sie unter Druck zu setzen, wird ihr eine Akte vorgelegt. Colette schlägt den Pappdeckel auf und sieht eine Fotografie der Leiche ihres kleinen Bruders. Die Aufnahme stellt den Zusammenhang zwischen ihrem traumatischen Kindheitserlebnis und ihrem Anschlagsversuch her. Die Szene suggeriert das Motiv der Rache als einen Grund für die Gewalt des Nordirlandkonflikts, um es sofort in Zweifel zu ziehen. Denn die Akte gibt vor, dass Schüsse der IRA den Bruder tödlich getroffen haben. Colette nimmt das Angebot an. Sie kehrt als Informantin nach Belfast zurück. Der Film erzählt ihre Geschichte, die von diesem Punkt an nicht mehr gut ausgehen kann, und die ihrer Beziehung zu dem MI5-Agenten Mac, gespielt von Clive Owen, der sie in diese unlösbare Situation gebracht hat und sie dennoch zu schützen versucht. Die Geschichte des Konflikts, die zwischen den beiden Eingangssequenzen liegt, bleibt als Leerstelle zurück.

Zwischen 1973 und 1993 hatte sich die grundsätzliche Konfliktkonstellation nicht verändert. Die Troubles waren nicht gelöst. Doch seit dem Ende der 1980er Jahre hatte die IRA mit grundlegenden Problemen zu kämpfen. Die Sicherheitskräfte gingen immer erfolgreicher gegen die paramilitärischen Gruppierungen vor, töteten IRA-Mitglieder in Feuergefechten, hoben Waffendepots aus, vereitelten Anschläge mithilfe von Informanten, die der MI5 anwarb. Diese Entwicklung war nicht zuletzt dem fundamentalen Wandel der britischen Sicherheitspolitik seit der Übernahme der direkten Regierungsverantwortung für Nordirland geschuldet. Zu Beginn des Konflikts war die britische Regierung vor allem mithilfe der Armee gegen die IRA vorgegangen. Als sich abzuzeichnen begann, dass der Konflikt nicht mit militärischen Mitteln beendet werden konnte, verlagerte London die Bekämpfung der politischen Gewalt auf die nordirische Polizei, die Royal Ulster Constabulary (RUC), um die Akzeptanz der Sicherheitskräfte innerhalb der Bevölkerung zu erhöhen. Zudem hatte die britische Regierung im Laufe der Jahre die geheimdienstlichen Aktivitäten erheblich ausgebaut. Anfang der 1970er Jahre musste die Armee noch auf die Informationen des Special Branch der RUC zurückgreifen, welcher der Überwachung der sich schnell vergrößernden IRA nicht gewachsen war. Erst nach der Übernahme der direkten Regierungsverantwortung rückte Nordirland ernsthaft in den Fokus des britischen Geheimdienstes und insbesondere der MI5 begann, seine Operationen gegen die IRA zu intensivieren. Darüber hinaus musste die republikanische Bewegung auch im Propagandakrieg gegen die britische Regierung schwere Rückschläge hinnehmen. Die IRA geriet aufgrund der zivilen Opfer ihrer Gewalt Ende der 1980er Jahre immer stärker in die Kritik. Ein Debakel, dem die republikanischen Paramilitärs kaum etwas entgegenzustellen vermochten, da London ein Gesetz erlassen hatte, nach dem Rundfunkanstalten Organisationen nicht zu Wort kommen lassen durften, denen unterstellt wurde, „Terrorismus“ zu unterstützen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Entwicklungen mehrten sich Anfang der 1990er die Stimmen innerhalb der republikanischen Bewegung, die eine friedliche Lösung mit Großbritannien forderten.

Als Colette nach Belfast zurückkehrt, kommt ihre Familie kaum auf ihren missglückten Anschlagsversuch zu sprechen. Im Hintergrund läuft der Fernseher. Keiner schenkt den Nachrichten besondere Beachtung. Dabei geben der britische Premierminister John Major und das irische Staatsoberhaupt Albert Reynolds die gemeinsame Downing Street Declaration bekannt, die als entscheidende Grundlage für Friedensgespräche zwischen allen Konfliktparteien angesehen wurde. Die republikanische Bewegung begegnete den Bemühungen der britischen Regierung, einen Frieden herbeizuführen, mit Skepsis. Dennoch rief die IRA im Sommer 1994 eine Waffenruhe aus, die fast eineinhalb Jahre anhalten sollte und einen weiteren Schritt hin zum Good Friday Agreement von 1998 darstellte, mit dem der Nordirlandkonflikt weitgehend beigelegt werden konnte.

Auch wenn „Shadow Dancer“ die politischen Verstrickungen der Troubles nur streift, verkörpert Colette die Zerrissenheit der republikanischen Bewegung zwischen der Fortsetzung des „long war“ und der Suche nach einer friedlichen Konfliktlösung. Sie will eine Bombe in London explodieren lassen, doch schreckt zurück. Der Film buchstabiert die politischen Ziele der IRA nicht aus, sondern rückt die persönlichen Bindungen der Protagonistin in den Vordergrund. Colette, als Schwester, die ihren Bruder verliert, als Tochter, die sich ihrer Familie verbunden fühlt, als IRA-Anhängerin, die der republikanischen Bewegung auf Leben und Tod verpflichtet ist, als Informantin, die vom MI5-Agenten Mac abhängig ist. „Shadow Dancer“ zeigt, wie sich der Handlungsspielraum Colettes im Beziehungsgeflecht der Filmfiguren immer weiter einengt, bis es keinen Ausweg mehr zu geben scheint, ohne damit die Gewalt zu rechtfertigen oder gar zu entschuldigen. Doch auch wenn der historische Kontext eine Leerstelle bleibt, ist die Geschichte des Nordirlandkonflikts ständig präsent. Der immer graue Himmel Belfasts, der die Farbgebung von „Shadow Dancer“ bestimmt, wirkt wie der Schatten der Vergangenheit, aus dem Colette nicht herauszutreten vermag.

 

"Shadow Dancer"
Regie: James Marsh, Großbritannien/Irland 2012 (http://www.magpictures.com/shadowdancer)
Der Film lief erstmals in Deutschland auf der Berlinale im Februar 2013.