von Sylvia Nagel

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1. Februar 2012

Wer war Sergej Tschachotin? Wer war der Mann, der das Leben seiner Nachfahren auch über dreißig Jahre nach seinem Tod noch durcheinander bringt? Und warum ist die Urne mit seiner Asche nie beigesetzt worden, sondern steht noch immer auf dem Wohnzimmerschrank seines Sohnes Eugen?

Sergej Stepanowitsch Tschachotin, 1883 in Konstantinopel, im heutigen Istanbul, geboren, russischer Wissenschaftler, Pazifist und Propagandist, liebte die Frauen. Gleich fünfen gab er das Jawort und zeugte mit ihnen acht Kinder. Wissenschaft und Politik waren die Themen seines Lebens, die ihn zu einer schillernden Persönlichkeit seiner Zeit machten. Sergej Tschachotin zählte Albert Einstein und andere herausragende Wissenschaftler zu seinen Freunden. Nicht zuletzt war er Zeuge vieler historischer Ereignisse im langen 20. Jahrhundert, an denen er bisweilen aktiv mitwirkte.

Der Regisseur Boris Hars-Tschachotin, 1973 im Todesjahr seines Urgroßvaters geboren, erzählt in der Dokumentation „Sergej in der Urne“ die Lebensgeschichte seines berühmten Urahns, den er bis dahin nur aus den Erzählungen seines Großvaters Wenja kannte. Die Urne Sergej Tschachotins entdeckt er zufällig. Dieser Fund ist Anlass für den Berliner Filmemacher tiefer zu gehen und sich auf die Suche nach der Geschichte seines umtriebigen Urgroßvaters zu machen. Gleichzeitig ist es die Suche nach den eigenen Wurzeln. Seine Reise in die Vergangenheit - zur „Generation Null“ - wie Andrej, ein weiterer Sohn Tschachotins, sagt, führt ihn dabei in viele Länder Europas.

Die Stationen des Urgroßvaters sind zahlreich. Er kämpfte als junger Moskauer Student im zaristischen Russland für eine neue Verfassung, entgeht dank der guten Verbindungen seines Vaters der Verbannung. Tschachotin überlebt gemeinsam mit seiner Familie 1908 im italienischen Exil in Messina das wohl schwerste Erdbeben im Europa des 20. Jahrhunderts und promoviert im gleichen Jahr in Heidelberg. Er erfindet das Strahlenskalpell und macht sich in der Krebsforschung verdient. Im Alter von 33 Jahren beendet Sergej seine Zeit im Exil und folgt der Einladung des Nobelpreisträgers Iwan Pawlows an die Russische Akademie der Wissenschaften. Doch seine Leidenschaft für die Politik lässt ihn nicht los.

Während des Ersten Weltkriegs unterbricht Sergej Tschachotin seine wissenschaftliche Arbeit, um die russische Armee zu unterstützen. Er gründet in den Räumen der Akademie und ohne Wissen Iwan Pawlows das Büro des Komitees für technisch-militärische Hilfe und zieht damit den Unmut seines Vorgesetzten auf sich. Er verlässt die Akademie.

Anfang der 1930er Jahre wieder in Deutschland und am Kaiser-Wilhelm-Institut in Heidelberg tätig, initiiert er Propagandakampagnen gegen die Nazis. Dabei entwickelt Tschachotin gemeinsam mit Carlo Mierendorff, dem führenden Propagandisten der SPD, den „Dreipfeil gegen Hakenkreuz“. Der Dreipfeil ist das Symbol der Eisernen Front, eines Zusammenschlusses von SPD und Gewerkschaften gegen die Nationalsozialisten. Bis zu seiner Flucht 1933 aus Deutschland nach Dänemark, später nach Frankreich organisiert er Massenaufmärsche für die Anhänger der Eisernen Front. In Frankreich wird er 1941 gemeinsam mit Sohn Eugen in Compiègne interniert.Nach dem Krieg setzt er sich mit großem Engagement im Kampf gegen die Atombombe ein. Im Jahr 1958 kehrt er mit dem jüngsten Sohn Petja in die UdSSR zurück, wo er seine Tätigkeit an der Akademie der Wissenschaften wieder aufnahm. 1973 stirbt Sergej Tschachotin in Moskau.

 

Die Söhne

Wenja, Eugen, Andrej und Petja, Brüder wie sie unterschiedlicher nicht sein können, sind die Protagonisten des Films. Boris Hars-Tschachotin hat mit den noch lebenden Söhnen Sergej Tschachotins Gespräche geführt. Dabei beschreibt jeder von ihnen einen Lebensabschnitt des Vaters, den er intensiv miterlebt hat. Alle sprechen aus ganz persönlichem Blickwinkel vom Vater und der Familie, in die sie hineingeboren wurden.

Wenja ist Chemiker und lebt in Frankreich. Er hat keine guten Erinnerungen an seinen Vater und nimmt ihm übel, von ihm verlassen worden zu sein. Andrej, der Algerienkämpfer, bewundert an seinem Vater vor allem sein Sprachentalent. Eugen, der „Lieblingssohn“, durchlebte mit dem Vater die Internierung in Frankreich. Er wurde von seinen Brüdern vor über 30 Jahren damit betraut, die Beisetzung des Vaters zu organisieren. Sergej Tschachotin sollte nach seinem letzten Willen auf Korsika begraben werden. Nach einem gescheiterten Versuch, dem Wunsch des Vaters zu entsprechen tut Eugen sich nun schwer, weshalb die Urne immer noch von ihm verwahrt wird. Und dann ist da noch Petja, der Maler und Friedensaktivist, der die gemeinsame Zeit mit dem Vater in guter Erinnerung hat. Er fasst die schwierige Beziehung zwischen den Brüdern knapp zusammen:

„Kurz gesagt, wir sprechen nicht miteinander. Ich glaube, ein Familiengefühl entsteht, wenn man zusammen wohnt […] Wir wissen, wir sind alle Tschachotins. Wir haben denselben Vater, Sergej Stepanowitsch Tschachotin, aber da hört es auch schon auf.“

Das Bild, das Boris Hars-Tschachotin von seinem Urgroßvater zeichnet, setzt sich aus den Erinnerungen seiner vier noch lebenden Söhne und Dokumenten aus dem Nachlass Sergej Tschachotins zusammen. Der Film erzählt sehr anschaulich das Leben der Familie Tschachotin vor dem Hintergrund der Geschichte des langen 20. Jahrhunderts.

Was bleibt, ist eine letzte Frage: Was geschieht mit der Urne?

 

Der Film „Sergej in der Urne“ ist ab 23. Februar bundesweit in den Kinos zu sehen.

Siehe dazu außerdem den Beitrag auf filmportal.de