von Susanne Pötzsch

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1. Dezember 2009

Rumänien im Jahr 1953. Das Land ist Teil des sowjetischen Machtbereiches und vom Stalinismus geprägt. Ein Dorf im Irgendwo des Landes bleibt indes durch seine Abgeschiedenheit unberührt von den Restriktionen der Besatzer. Die Dorfgemeinschaft lebt ihre eigene Ordnung und scheint unabhängig von der staatlichen Administration. Auch wenn die Machtverhältnisse des Dorfes reaktionär und patriarchalisch anmuten, leben die Sippschaften innerhalb der Gemeinschaft ihre Wünsche und Begierden aus. Mira und Iancu sind ein junges Paar, dessen Väter sich hassen, die aber mit der Entscheidung der Hochzeit ihrer Kinder Freundschaft schließen. In die Hochzeitsfeier als Höhepunkt aller dörflichen Idylle und Glückseligkeit platzt die Nachricht über Stalins Tod. Damit verbunden ist der Befehl zu einwöchiger Staatstrauer, der selbst Beerdigungsfeiern zum Hochverrat erklärt. Doch entgegen aller Angst vor den russischen Machthabern, die als apokalyptische Reiter ohne Pferd ins Dorf kommen, lässt sich die Dorfgemeinschaft ihre Feier nicht verbieten.

Geschichte und Authentizität im Film

Der filmische Anspruch Geschichte nachzuerzählen, bedeutet immer schon ein hochgestecktes Ziel. Wenn noch dazu die Regie einer selbst auferlegten Authentizitätswahrung folgt, endet dies nicht selten im pathetischen Geschichtsgefühl. Filme, die historische Wahrheiten erzählen wollen, können leicht zu Verklärung beziehungsweise Banalisierung beitragen. Bei der Umwandlung eines komplexen historischen Ereignisses in eine vermittelbare Story in Spielfilmformat drohen der Handlung wichtige Narrative verloren zu gehen, Figuren zu Stereotypen zu werden, und schließlich besteht die Gefahr der Mythenbildung. Das Verhältnis von Geschichte und Film kann aber auch in anderen Formen zum Tragen kommen: Wenn stattdessen mit dem Ansatz von Jacques Rancière von einer Geschichtlichkeit des Films ausgegangen wird, so führt die Definition der Relation von Film und Geschichte weg von der Frage der Problematik der Wahrheitsverpflichtung einem historischen Stoff gegenüber und eröffnet die Sichtweise auf eine andere Beziehung: Eine Denkweise, die beide Begriffe, Film und Geschichte, gemeinsam erfasst   und danach fragt, wie diese beiden „einander umgreifen und zusammen eine Geschichte bilden.“[1] Dazu Rancière: „Der Film hat eine innere Beziehung zu einer bestimmten Idee von Geschichte und zur Geschichtlichkeit der Künste, mit der er verbunden ist. Die Zeit des Films ist die Zeit einer bestimmten Geschichte und   einer bestimmten Geschichtlichkeit.“[2] Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der vermeintlichen Geschichtstreue des Films Stille Hochzeit nicht mehr. Dieser Film stellt, ohne Zweifel, keinen Anspruch auf historische Authentizität. Selbst wenn unmissverständlich ein historisch bedeutendes Ereignis Teil seiner Geschichte ist: Stalins Tod im März 1953.  Das rumänische Dorf, in dem die Handlung angesiedelt ist, bleibt aber beim Versuch einer historischen Bestimmung ganz unbestimmbar und gleicht vielmehr einer Theaterkulisse: Umgeben von goldenen Kornfeldern und Wäldern, aber undeutlich in seiner Größe, Anordnung und Erschließung zur Umgebung. Der Dorfweg als Verbindung in das „externe“ Rumänien endet sichtbar schon neben der Kirche. Aber dennoch spiegelt dieser Nicht-Ort eine ganz bestimmte Geschichte wieder: Die eines möglichen, eines fiktiven Widerstands gegen die Übermacht des Staates, die hier eindeutig die stalinistische Unterdrückung thematisiert, jedoch universell auf jede andere Geschichte des Widerstands zu übertragen ist. Es ist die Idee von Geschichte als Geschichte des Widerstandes unbeugsamer Dorfbewohner. Bewohner eines Dorfes, das standhaft wie das gallische Dorf unter Asterix der großen Übermacht Parole bietet. Neben dieser Idee von Geschichte verweist der Film aber auch auf die Geschichte des Kinos. Es wird verwiesen auf das Wanderkino, das einen von Propaganda gefärbten Liebesfilm zeigt und die einfach zu evozierenden Emotionen der Zuschauer weckt, die bis dahin resistent waren gegen  eine kommunistische Überzeugungsarbeit. Auch die Slapstickeinlagen im Zeitraffer, die die wenigen, überzeugten Kommunisten des Dorfes vor der Leinwand in Szene setzen und die ihre bereits offensichtliche Dummheit noch übersteigern, verweisen auf die Stummfilme Charlie Chaplins oder Buster Keatons.

Das „Phantasma“ des Balkanismus

Der Regisseur von Stille Hochzeit Horatiu Malaele selbst und auch seine Kritiker betonen die Nähe zum Werk von Emir Kusturica, besonders zu „Schwarze Katze, weißer Kater“[3] ,in dem ebenfalls eine Landhochzeit mit Hindernissen die Handlung bestimmt. Es drängt sich geradezu auf, vom Genre der „osteuropäischen Dorfkomödie“ zu sprechen, die sich vor allem bei Kusturica herausgebildet hat und zu einem Motiv des osteuropäischen Filmschaffens geworden ist. Auffällig ist hier der Parabelcharakter: Für das Dorf ist Tradition wichtiger als die Anordnung an ein System. Die Figuren in Stille Hochzeit sind zeitlos konstruiert, die Unbestimmbarkeit der Requisiten gründet auf  einem raum- und zeitlosen und damit ahistorischen Rahmen. Sind es bei Kusturica die Sinti und Roma als Außenseiter einer Gesellschaft, so nimmt man in Malaeles Film die Dorfbevölkerung nicht als spezifische Volksgruppe dar. Beide Regiearbeiten vereint jedoch der exzentrische Humor, der als folkloristisches und karnevaleskes Volkstheater die Figuren bestimmt, die ansonsten nicht durch individuelle Charakterzüge zu identifizieren sind und daher nur auf dieser Bühne funktionieren. Dadurch stellt sich das Dorf als realitätsfernes, geschlossenes System dar. Absurd und originell sind hier nicht die einzelnen Figuren, wie noch bei Kusturica, absurd sind die Dorfbewohner nur in ihrer Gesamtheit als Gruppe, die ausschließlich auf der Volkstheaterbühne funktioniert und außerhalb dieser kulissenhaften Welt keine Daseinsberechtigung hat. An dem unübersehbaren Volkstheatercharakter setzt auch die Kritik der Feuilletons an, die den Film als überdrehte, übertriebene Burleske deuten, welche an dieser Adaption des Kusturica-Stils nur scheitern kann. So weist die Filmkritikerin Kerstin Decker auf die hohe Kunst des Humoristischen im Film hin: „Originalität und Absurdität sind empfindliche Geister des Augenblicks“.[4] Die popkulturelle Darstellung eines „Balkanismus“ hat sich vor allem durch seine Verbreitung im westeuropäischen Kino etabliert und dabei ein Bild heraufbeschworen, das sich auf die Bewunderung der Anderen, als ein Neid auf dieses einfache Leben stützt. Slavoj Žižek bemerkt hierzu:  „Balkanismus beruht auf einer mythischen Identität, die beispielsweise Emir Kusturica in seinen Filmen reflektiert. Er thematisiert […] die so genannten 'primitiven Leidenschaften' des Balkan, indem er genau das schafft, was der Westen zu sehen wünscht: Krieg, Sex, Essen und Trinken als Bestandteil einer traditionellen Ordnung. Das ist die einfache westliche Phantasie über den Balkan.“[5]

Žižeks zynischer Beurteilung des Phantasmas Balkan kann aber entgegengehalten werden, dass das Bild des von „primitiven Leidenschaften“ geprägten Balkanismus weniger durch eine westliche Außensicht gebildet wurde, sondern vielmehr der Balkanfilm aus Südosteuropa selbst das Dörfliche, Karnevaleske bewusst und außerordentlich betont. Oksana Bulgakowa sieht dies in der Geschichte des Balkans begründet: „Ihren Abschied von der Utopie zelebrierten die Bruderländer in der Zeit des Zusammenbruchs dieser Bruderschaft im gleichen Genre: als Groteske, in welche die neuen Filmvisionen der jüngsten Geschichte, zumeist in die der fünfziger Jahre, gegossen wurden. [...] In der Zeit der Diktaturen – ob nun Stalins oder Titos – wird ein dankbarer Zusammenprall zwischen Utopie und Realität  entdeckt. [...] Die Geschichte erscheint als exzentrisches Guignolspiel, als Horrorspiel, als traumatischer Geschichtskarneval mit zyklischer Rückkehr zu Repressalien […]. Die freie Mixtur aus Wahrheit und Phantastik führt zu prädigitalen Spielen mit der Produktion einer anderen Geschichte.“[6] Das Zitieren eines anderen Filmstils ist Malaele so schlecht gelungen, dass es als Farce schon in dieser Kopie seine eigene Historisierung durchläuft. Das wiederholte Zeigen: Ich machs wie Kusturica! und die gleichzeitige strenge Trennung von der Rahmenhandlung unterstreicht den Zitiercharakter des Films im Film als Zitat. Der Kusturica-Stil wird hier in so starkem Maße adaptiert und in einen hermetischen Handlungsrahmen gesetzt, dass er dadurch nur als Zitat der Filmgeschichte verstanden werden kann. Aber nicht nur die Analogie auf das Filmschaffen Rumäniens beziehungsweise des Balkans stellt sich als Prozess von Geschichtlichkeit heraus. Der Film-Prolog erinnert eher an den Auftakt zum Horror- oder Mystery-Genre. Die Rahmenhandlung, die die Jetzt-Zeit suggeriert, verweist auf ein längst zurückliegendes Phänomen: Das der Amateur-TV-Teams des amerikanischen Fernsehens der 1990er Jahre, die ständig auf der Suche nach Phänomenen waren, die nichts anderes sind als „unheimliche“ Beobachtungen der Parapsychologie. In der toten Ruinenlandschaft, die nicht mehr auf die Reste des Hochzeitsdorfes verweisen (außer der Holzkirche), sondern auf eine ebenfalls schon historische Epoche - die der industriellen Welt, wirken diese Reste einer riesigen Industriebrache wie der Friedhof der Geschichte. Denn die trauernden Witwen sind noch immer da; sie haben ihre Männer verloren, als die Hochzeitsfeier 1953 mit dem Einzug der Panzer endete. Unter den Witwen ist auch die damalige Braut, die neben dem Interviewer steht und sich weigert die tragische Geschichte des Dorfes zu erzählen. Sie schließt den Film mit einer Anklage:  „Was wollt ihr mir noch alles nehmen?!“ Die Reportage scheitert, was bleibt ist das unangenehme Gelächter des Teams über die stummen Witwen.

Damit scheitert auch die mediale Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Geschichte verweigert sich der Gegenwart, dem Medium Fernsehen und bleibt als märchenhafte, phantastische Erzählung nicht transformierbar. Doch eine Figur schließlich bleibt, die sich der Weitergabe der Geschichte nicht verweigert: Die Prostituierte des Dorfes, der das TV-Team als Erste, im Prolog, begegnet. Sie bietet noch immer das Geschäft der Liebe an. An dieser Figur der Prostituierten könnte eine besondere Kategorie von Geschichtsvermittlung fest gemacht werden, denn sie hat die Zeit überdauert und spielt auch noch in der Gegenwart ihre Rolle. Georg Seeßlen differenziert unterschiedliche „Hurenbilder“ im Film, die er entsprechend der Genreordnungen beschreibt: Die dem melodramatischen Klischee entsprechende „Hure mit Herz“ im populärem Film, die tapferen good bad girls im Western, die romantisch-unwirkliche Hure im Kriminalfilm. Die Komödie hingegen produziere ein eigenes, komödiantisches Hurenbild. Allen diesen Darstellungsmodi ist laut Seeßlen die paradoxe Vereinigung aus Hure und Heiliger eigen: „In ihnen [den Huren, Anm. S.P.] absolutiert sich die (männliche) Gesellschaft, und den Bild- und Sprechverboten ist genüge getan. Doch im Grunde entsteht eine von einem Vorbild in der Wirklichkeit fast unabhängige, virtuelle und magische Gestalt, die sündig und unschuldig zugleich ist, und die es nur   so in den Träumen des Kinos gibt.“[7]

In Malaeles Film findet sich bezogen auf das Heilige ein ganz offensichtlicher Hinweis: Die Prostituierte will Religion studieren. Georg Seeßlen weiter:  „Das Bild der Prostitution ist immer wieder auch als historische Metapher für eine allgemeine Abhängigkeit und Unterdrückung benutzt worden.“[8] Die Prostituierte in Stille Hochzeit gibt vor, im Postamt gewohnt zu haben und ist damit ganz eindeutig mit Informationen versorgt. Sie besitzt Zugang und Macht über alles, was kommuniziert wird und: Sie besitzt als Einzige das uneingeschränkte Wissen um die Geschichte des Dorfes.

                                            

                                                            


 

[1] Jacques Rancière: Die Geschichtlichkeit des Films, in: Eva Hohenberger, Judith Keilbach (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Vorwerk 8, Berlin, 2003, S. 230. 

[2] Ebd.

[3] Schwarze Katze, weißer Kater (Crna macka, beli macor), Frankreich/Deutschland/Jugoslawien, 1998, Regie: Emir Kusturica. 

[4] Kerstin Decker: Schriller als der Dorfhahn[Dezember 2009], erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 28.11.2009.

[6] Oksana Bulgakowa: Film als Verdrängungsarbeit. Der osteuropäische Film, in: Rainer Rother (Hg.): Mythen der Nationen. Völker im Film, Koehler & Amelung, München 1998, S. 215.

[7] Georg Seeßlen: Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Schüren, Marburg 1996, S. 254.

[8] Ebd. S. 259.