von Sebastian Ziegler

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1. April 2010

Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Bilder, die sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt haben. Massenhaft verfügbar, reproduzier- und manipulierbar – die Medienrevolution der Moderne hat die menschliche Wahrnehmung so verändert wie seinerzeit der Buchdruck.

Der zeitgeschichtlichen Bedeutung des Mediums Bild trug das Deutsche Historische Museum Rechnung, als es vor 20 Jahren seine Sammlungstätigkeit auf dem Gebiet der Fotografie aufnahm. Die Kuratoren Dr. Dieter Vorsteher und Christin Pschichholz nehmen dieses Jubiläum zum Anlass, einen Ausschnitt aus ihrem reichhaltigen Fundus zu präsentieren. Hinter dem Titel „Das XX. Jahrhundert – Menschen-Orte-Zeiten“ steht ein mehrschichtiges Konzept. Zum einen lässt man ein „langes zwanzigstes Jahrhundert“ Revue passieren. Zum anderen geht es um die kulturgeschichtlichen Aspekte der Fotografie. Im Zentrum steht nicht zuletzt die eigene Sammlung. Knapp 400 Exponate haben die Ausstellungsmacher aus den 1,7 Millionen Bildobjekten des Museums extrahiert.

Der Titel „Menschen-Orte-Zeiten“ spiegelt sich gleich zu Anfang. Portraits, Landschaften und Ereignisse bilden ein Spannungsverhältnis. Allseits bekannte Motive hängen neben mittlerweile in Vergessenheit geratenen Fotografien. Diese Gegenüberstellung hat Methode, zeigt sie doch, dass die ständige Wiederholung von Bildern einen Bezugsrahmen bildet, der Erinnerung erst ermöglicht. Folgt der Besucher dem Zeitstrahl, begegnet er einigen alten Bekannten wie zum Beispiel dem Rosinenbomber und den freudig erregten Berliner Kindern. Der jüdische Fotograf Henry Ries schenkte dieses Bild der Stadt Berlin in den 1970er-Jahren. Vormals unbekannt, hat es seitdem seinen Platz in den deutschen Schulbüchern gefunden und steht nun synonym dafür, dass aus ehemaligen Feinden – Freunde, aus Besiegten – Verbündete geworden sind. Wie sehr unser Gedächtnis durch visuelle Eindrücke geprägt wird, zeigt auch Wolfgang Albrechts Bild vom 17. Juni 1953: „Demonstranten in der Leipziger Straße bewerfen sowjetische Panzer mit Steinen“. Als ein fester Bestandteil unserer Erinnerungskultur sehen wir hier David gegen Goliath kämpfen. Berühmt wurde vor allem der zentrale Ausschnitt des Fotos. Die Bildränder werden zumeist ausgeblendet. Die Dramatik der Szene soll nicht relativiert werden durch Passanten mit Aktentasche, die allzu sehr nach Alltag aussehen. Den Ikonen des Fotojournalismus haftet eine gewisse Aura an, wodurch ihr Anblick nicht langweilt, obwohl sie schon oft zitiert wurden. Jedoch handelt es sich bei der Mehrzahl der gezeigten Bilder um Raritäten. In der Zusammenstellung ziehen die Jahrzehnte zwischen 1880 und 1990 am inneren Auge des Betrachters vorüber, ohne dass es langatmiger Erläuterungen bedürfte.

Auch bezogen auf die persönliche Lebenswelt hinterließ die Erfindung des Lichtbildes gravierende Spuren. Stand die Porträtfotografie anfänglich noch in der Tradition der Bildnismalerei und war den Wohlsituierten vorbehalten, sorgten technische Innovationen für eine stetig steigende Anzahl von Bildern für immer breitere Gesellschaftskreise. Die eigene Biografie kann seitdem visuell dokumentiert werden, eine Gedächtnisstütze von unschätzbarem Wert. In der Ausstellung wird diese Bedeutung hervorgehoben durch Reisealben und Postkarten. Das Bildmedium beeinflusste nachhaltig das ästhetische Empfinden der Menschen; man denke nur an Mode, Star- oder Körperkult. Zudem revolutionierte die Fotografie die Wissenschaft, was anhand von Röntgenaufnahmen oder der 1899 begonnenen Kartografie des Mondes illustriert wird.

Die Kuratoren bieten den Besuchern einen heterogen, facettenreichen Einblick in das Fotoarchiv des Museums. Bildquellen machen laut Dieter Vorsteher, Sammlungsleiter des DHM, zwei Drittel der Gesamtbestände aus. Die Aufgabe des Sammelns und Bewahrens zahlt sich dabei sogar finanziell aus. Durch die Bildrechte ergeben sich Einnahmen, die wiederum in die weitere Erschließung des Materials fließen. Denn ein Großteil der Filme lagert nach wie vor ungesichtet in Kisten und Kartons, genug Arbeit für ein weiteres Jahrhundert. Bildagenturen, die durch den Strukturwandel der digitalen Zeit schwer getroffen wurden, waren oft froh, ihre analogen Schätze loszuwerden. Nachlässe von Fotografen und die Archive mancher Verlage ließen die Sammlung innerhalb der kurzen Zeit von 20 Jahren schnell anwachsen.

„Das XX. Jahrhundert – Menschen-Orte-Zeiten“ hat das Potenzial für mindestens drei Ausstellungen. Als Jubiläumsschau konzipiert, ist der Fokus bewusst breit angelegt. Lohnenswert wäre eine tiefergehende theoretische Reflexion der mediengeschichtlichen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts. Das Konzept der Visual History hat erst vor wenigen Jahren Einzug in die Geschichtswissenschaften gehalten. Das DHM wird darauf reagieren – wir sind gespannt auf weitere Fotoausstellungen.

 

Vortragsreihe:

28. April 2010
Imaginiertes Reisen mit August Fuhrmanns Kaiserpanorama, Heike Hartmann

16. Juni 2010
Genauso war es? Fotografie als historische Quelle, Marion Tulka und Christin Pschichholz

30. Juni 2010
Zeitgeschichte versus Fotogeschichte, Überlegungen zu den Wertigkeiten von Fotografien, Dr. Enno Kaufhold