von René Schlott

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24. Oktober 2018

 

„Der Begriff  Europa war uns lieb und teuer, etwas unserm Denken und Wollen Natürliches. Er war das Gegenteil der provinziellen Enge, des bornierten Egoismus, der nationalistischen Rohheit und Unbildung, er meinte Freiheit, Weite und Geist und Güte.[1] Thomas Mann in einer Radioansprache im August 1942

Im hintersten Winkel des Hauses, an einer Ecke, liegt der Raum, in dem diese vielsagenden Sätze einst formuliert wurden und den ihr Autor als das „schönste Arbeitszimmer seines Lebens“ gepriesen hat. Und in der Tat ist der Blick aus dem Fenster auf die Palmen im Garten des Thomas Mann House und auf das Tal, das sich dahinter erstreckt, atemberaubend schön. Auf einem der gegenüberliegenden Hügel erhebt sich das Getty Center im Los Angeles-Stadtteil Brentwood.

An Thomas Mann erinnert jedoch von außen nur eine schon 1977 von der Bundesrepublik finanzierte Tafel mit einem Porträt des berühmten Bewohners. Zu seiner Nachbarschaft gehörten früher andere ExilantInnen des deutschen Kulturbetriebs, heute sind es vermögende Prominente aus Film und Fernsehen. So ist dieser Ort deutscher Geistes- und Literaturgeschichte fest eingebettet in seinen US-amerikanischen Kontext. Das Haus selbst ist ein Hybrid dieser beiden Lebenswelten. Äußerlich nimmt es die Formensprache der amerikanischen Moderne auf, im Inneren atmet es die Atmosphäre des bürgerlichen Europas. Das „bewohnte Museum einer verlorenen Heimat“ hat der Architekturhistoriker Heinrich Wefing einmal das „Haus des Zauberers“ genannt.[2] Der Autor Michael Lentz beschreibt das Haus in seinem Roman „Pazifik Exil“ weniger schmeichelhaft als „goldenen Käfig“: „Erzwungene Zweisamkeit inmitten eines übergroßen Living Room. Hustet man, schallt es vom Ende des Raumes scheppernd zurück.“[3]

Als ich das neu eröffnete Thomas Mann House Ende Juli 2018, eine Woche vor dem geplanten Einzug der ersten StipendiatInnen, zusammen mit dem Programmdirektor Nikolai Blaumer, einem promovierten Philosophen, vorher für die Kulturabteilung der Zentrale des Goethe-Instituts tätig, und seiner Assistentin Sylvia Mogel (zuvor beim Goethe-Institut Los Angeles beschäftigt), besichtige, sind die Arbeiten zur Schaffung von fünf Wohneinheiten für die zukünftigen temporären BewohnerInnen noch in vollem Gange. Das Haus liegt hinter hohen Hecken und Bäumen und ist von der Straße her kaum einsehbar. Ein provisorischer Durchgang im Zaun bietet Zugang zum Garten, durch den sich noch Gräben und Leitungen zogen und Erdhaufen türmten. Im ehemaligen Arbeitszimmer Manns, in dem einst der Münchener Schreibtisch stand, sind die mühsam wieder und neu beschafften Bücher seiner ehemaligen Bibliothek mit den Editionen der Werke von Flaubert, Dostojewski, Goethe, Schiller und Shakespeare noch von langen Folien geschützt. Hier entstanden nicht nur Werke, wie „Doktor Faustus“ und Teile der Joseph-Romane, sondern auch Essays („Deutschland und die Deutschen“) und Novellen sowie die monatlichen Radioansprachen Manns, in denen er sich über die BBC an seine deutschen Landsleute richtete.

„Deutsche Hörer!“, so begann Thomas Mann jede der fast sechzig Sendungen, in denen er das aktuelle Kriegsgeschehen kommentierte und die ihm schon damals bekannten deutschen Verbrechen und Massenmorde an Juden, Polen und Serben scharf verurteilte. Die Texte dieser jeweils fünf- bis achtminütigen Ansprachen entstanden im Arbeitszimmer seines Hauses im San Remo Drive, und von dort kamen sie buchstäblich über mehrere Schritte in die Welt. Zunächst kabelte man sie nach London, wo sie ein Sprecher der BBC auf Deutsch verlas. Später sprach er seine Texte in einem NBC Studio in Los Angeles selbst auf Platte. Mit dem Flugzeug wurde diese Aufnahme dann nach New York gebracht und von dort aus telefonisch nach London auf eine andere Platte übertragen. In einem Londoner BBC-Studio lief sie schließlich vor einem Mikrofon ab und wurde auf Langwellen an die Volksempfänger im Reich gesendet.
So sprach der Exilant Mann von hier aus mit den Deutschen am anderen Ende der Welt in seiner und ihrer Sprache, so strahlte das Arbeitszimmer in Pacific Palisades über 10.000 Kilometer in die Stuben des „Dritten Reiches“ – und darüber hinaus auch in andere Länder Europas wie in die Niederlande und die Tschechoslowakei, was aus Bezugnahmen auf die Radioansprachen deutlich wurde. Als Treffpunkt exilierter Intellektueller und als „Radiostation“ wurde das Haus Thomas Manns „zu einer Zentrale der deutschen Demokratie im Exil“[4], von der aus die Deutschen noch während des Krieges über ihre Verantwortung für den Judenmord im Osten Europas aufgeklärt wurden.

In den Jahren 1941/42 ließen sich die Manns das Haus errichten, nachdem sie zuvor ihr Ostküstenexil in Princeton verlassen hatten, um sich dauerhaft in Kalifornien niederzulassen. Zwei interessante Neuerscheinungen aus dem diesjährigen Herbstprogramm widmen sich der Geschichte des Hauses: zum einen die Erinnerungen des Mann-Enkels Frido an seine Kindheit in dem Haus, die er mit einer aktuellen politischen Botschaft verknüpft, und zum anderen das Fotobuch „Seven Palms“, benannt nach den sieben Palmen, die heute wieder wie zu Lebzeiten Manns im Garten des Hauses stehen.[5] Zehn Jahre lang, bis 1952, war der Ort der Mittelpunkt der Familie Mann, bevor Thomas Mann, seit 1944 US-Bürger, und seine Frau Katia in der McCarthy-Ära die USA verließen und zurück nach Europa zogen. Danach ging das Haus mit seinen fünf Schlafzimmern für die sechs Kinder der Manns und ihre Enkel, die regelmäßig zu Besuch kamen, für fast sieben Jahrzehnte in Privatbesitz über, zeitweise war es vom Abriss bedroht, bis es die Bundesregierung 2016 für 13 Millionen Dollar kaufte, mit dem Ziel, es in einen transatlantischen Debattenort umzuwandeln. Heute hat es ähnlich wie die nahegelegene Villa Aurora, in der Lion Feuchtwanger im Exil lebte, ein Residenzprogramm, das laut Website „Intellektuellen und Vordenkern Gelegenheit zum Austausch untereinander und mit dem Gastland über die großen Fragen unserer Zeit bietet“.[6]

Zu den ersten Stipendiaten gehören die Berliner Soziologin Jutta Allmendinger, der Mikroelektroniker Yiannos Manoli, der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering und der Schauspieler Burghart Klaußner. Und auch die kürzlich erfolgte Auswahl der Stipendiaten für das kommende Jahr zeigt den interdisziplinären Anspruch des Hauses und die inhaltlichen Schwerpunkte seiner Arbeit auf Zukunftsfragen, beispielsweise der Stadtentwicklung, der Künstlichen Intelligenz und der Entwicklung der Demokratie im Zeitalter des Smartphones. So werden die Göttinger Migrationsforscherin Lisa Riedner, der in Frankfurt/Oder lehrende Soziologe Andreas Reckwitz, der KI-Forscher Damian Borth und der Historiker Andreas Platthaus, der als Journalist bei der FAZ arbeitet, im kommenden Jahr für einige Monate in einer der neu geschaffenen Wohneinheiten im Thomas Mann House leben und arbeiten.[7] Der Trägerverein des Hauses, zu dem auch die Villa Aurora gehört, will zudem über die Arbeit mit universitären Kooperationspartnern in Südkalifornien hinaus, in den Rest des Landes hineinwirken und plant Veranstaltungen auch im Mittleren Westen der USA, um Brücken zu bauen und nicht nur die intellektuelle Elite an der Ost- und Westküste zu erreichen.

Beim Abschied streift mein Blick entlang der Glyzinien, Oleander-, Avocado-, Eukalyptus- und Zitronenbäume. Einen dieser Bäume hat der Bundespräsident bei der Eröffnung des Hauses Mitte Juni gepflanzt. Ich schaue auf das „elegante, weiße Schiff“[8] und das klare Wasser des vorgelagerten Pools, in dem ein paar herabgefallene Blätter schwimmen, und bin in Gedanken bei der morgendlichen Zeitungslektüre mit den Nachrichten aus dem anderen Weißen Haus einige tausend Kilometer von hier entfernt und doch im selben Land. In der ZEIT hieß es anlässlich der Eröffnung des Hauses im Juni: „Jetzt wird das Thomas Mann House zum Anker der Alten Welt in der Neuen, während sie auseinanderdriften.“[9] Doch in den USA ist Thomas Mann heute nahezu vergessen. Alex Ross berichtete im New Yorker von einer Unterhaltung mit zwei jüngeren Amerikanern, von denen einer den Journalisten bei der Eröffnungsfeier des Hauses fragte: „So, is Thomas Mann the architect?“[10]

Dazu auch:
Jutta Allmendinger, Im Westen was Neues
Die Soziologin Jutta Allmendinger lebt und forscht vier Monate im Thomas Mann Haus in Los Angeles. Für uns hat sie die Erkenntnisse ihres Aufenthalts in Texten und Bildern dokumentiert, in: DIE ZEIT, 24. Oktober 2018, Nr. 44/2018.
 


[1] Zitiert nach: Thomas Mann, Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940 bis 1945, Frankfurt am Main 1987, S. 44 [Originalausgabe Stockholm 1942/45], S. 74.
[2] Heinrich Wefing, Das Haus des Zauberers, in: Building Paradise: Exile Architecture in California. Villa Aurora Edition, Berlin 2004, S. 82.
[3] Michael Lentz, Pazifik Exil, Frankfurt am Main 2009, S. 457 [Originalausgabe Frankfurt am Main 2007].
[4] Alexander Cammann, Unter der Sonne Kaliforniens. Bundespräsident Steinmeier eröffnet das Thomas Mann House, in: Die Zeit vom 14. Juni 2018, S. 41.
[5] Frido Mann, Das Weiße Haus des Exils, Frankfurt am Main 2018. Francis Nenik/Sebastian Stumpf, Seven Palmes. Das Thomas Mann House in Pacific Palisades/Los Angeles, Leipzig 2018.
[6] Zur Geschichte des Thomas Mann House (zuletzt abgerufen 24.10.2018).
[7] Pressemitteilung der Villa Aurora vom 26. Juli 2018 (zuletzt abgerufen 24.10.2018).
[8] Moritz von Uslar, Party beim Zauberer. In Los Angeles wird in Anwesenheit des Bundespräsidenten das Thomas-Mann-Haus eröffnet, in: Die Zeit vom 21. Juni 2018, S. 37.
[9] Alexander Cammann, Unter der Sonne Kaliforniens. Bundespräsident Steinmeier eröffnet das Thomas Mann House, in: Die ZEIT vom 14. Juni 2018, S. 41.
[10] Alex Ross, At Thomas Mann’s House, the German President defends democracy, in: The New Yorker vom 22. Juni 2018, (zuletzt abgerufen 24.10.2018).