von Jakob Saß

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29. März 2018

Unser Autor Jakob Saß sprach mit der Filmemacherin Katalin Ambrus über die Arbeit an der Webdoku, die sich mit einem Massaker an italienischen Kriegsgefangenen 1945 bei Treuenbrietzen auseinandersetzt. Darüber hinaus wollte er wissen, wie die Künstlerin die Zusammenarbeit mit HistorikerInnen erfahren hat und welche Chancen neue audiovisuelle Techniken der Public History in ihrem Vermittlungsauftrag bieten können.

„Fast so schlimm wie die Juden“ seien die Italiener, ein „Schweine- oder Lumpenvolk“, schrieben deutsche Soldaten 1943 nach Hause.[1] Nachdem die Alliierten im Sommer auf Sizilien gelandet waren, Italien am 8. September den Waffenstillstand unterzeichnete und sich gegen den einstigen Verbündeten wandte, hatte sich das Italienbild vieler Deutscher grundlegend geändert – befeuert durch die NS-Propaganda. Dieses propagandistisch aufgeladene Bild erklärt vielleicht, warum seit dem Kapitulationstag bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die deutschen Besatzer in Italien täglich durchschnittlich 165 italienische Zivilisten, Kriegsgefangene sowie aus politischen Gründen deportierte italienische Staatsbürger ermordeten, wie eine deutsch-italienische Historikerkommission in ihrem Abschlussbericht 2012 feststellte.[2] Schauplatz dieser Verbrechen war nicht nur Italien, sondern auch die Internierungslager in Deutschland. 

Über das nahezu vergessene Massaker an 127 italienischen Militärinternierten am 23. April 1945 bei Treuenbrietzen in Brandenburg informiert seit 2016 die deutsch-italienische Webdoku „Im Märkischen Sand“ (Nella sabbia del Brandeburgo). Das dreisprachige Filmprojekt wurde vielfach ausgezeichnet und zuletzt im Januar 2018 auf dem Internationalen Filmfestival in Biarritz in der Kategorie „international documentary“ nominiert. Kurz zuvor traf ich die Regisseurin Katalin Ambrus, eine freischaffende Filmemacherin aus Berlin, die auf der Konferenz „Beyond Camps And Forced Labour: A conference discussing current international research on survivors of Nazi persecution“ in London ihre Webdoku vorstellte. Als „Public Historian“ interessierte mich nicht nur das Thema, sondern vor allem auch das interaktive Format. Ich wollte von Katalin wissen, welches Potential sie darin sieht, besonders im Vergleich zu einer traditionellen Fernsehdoku – aber auch, wie sie die Zusammenarbeit mit HistorikerInnen erlebt hat, wie FilmemacherInnen und wir voneinander profitieren können. Das folgende Gespräch entstand aus einem schriftlichen Austausch und einem Telefoninterview zwischen dem 24. Januar und dem 1. Februar 2018. 

ZOL: Das Schicksal italienischer Militärinternierter im Zweiten Weltkrieg ist in der deutschen Erinnerungskultur kaum präsent. Wie seid ihr auf das Thema gestoßen?

Katalin Ambrus: Mein Kollege Matthias Neumann hat über den befreundeten Historiker Cord Pagenstecher von dem Gedenktag in Treuenbrietzen erfahren. Das ist mittlerweile fast zehn Jahre her. Er hat dort Antonio Ceseri kennengelernt, den letzten der vier Überlebenden des Massakers. Antonio hat nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft jahrzehntelang über das, was dort passiert ist, geschwiegen.

ZOL: Warum konnte er selbst in seinem Heimatland nicht darüber sprechen?

Katalin Ambrus: Nach dem Krieg interessierte sich niemand in Italien für dieses Verbrechen. Die italienischen Militärinternierten waren ja jene Soldaten, die vor dem Bruch der Achse zwischen Hitler und Mussolini gemeinsam mit den Deutschen gekämpft haben und nach dem Seitenwechsel Italiens nach Deutschland deportiert wurden. Nach dem Ende des Krieges wollte man nichts mit den Rückkehrern zu tun haben. Für die einen waren sie eine leidvolle Erinnerung daran, dass Italien den Krieg verloren hatte, für die anderen waren sie Kollaborateure. Oder man interessierte sich in den Nachkriegswirren schlichtweg nicht für sie. Das bekam auch Antonio zu spüren. Deswegen schwieg er. 

ZOL: Wann brach er sein Schweigen?

Katalin Ambrus: Mitte der 1990er Jahre stießen die beiden Historiker Bodo Förster und Gianfranco Ceccanei zufällig auf die Liste der Opfer des Massakers. Genauer gesagt, bekamen sie die Liste von Don Luigi Fraccari, einem italienischen Priester, der zum Kriegsende als quasi einziger offizieller Vertreter der Italiener in Berlin geblieben ist, um sich um die Belange der in Deutschland verbliebenen Italiener zu kümmern, darunter auch die ehemaligen Zwangsarbeiter. Auf Grundlage dieser Liste begannen beide Historiker die Überlebenden bzw. Angehörige der Opfer ausfindig zu machen. Sie waren es auch, die den öffentlichen Aufarbeitungsprozess in Treuenbrietzen angeregt haben. So ist der Gedenktag entstanden, zu dem Antonio Ceseri jedes Jahr aus Florenz angereist ist. Als letzter der vier Überlebenden hat es sich Antonio zur Aufgabe gemacht, endlich über die Geschichte zu sprechen, damit sie nicht in Vergessenheit gerät. Er war der Letzte, der über die Ereignisse berichten konnte, und seine Erinnerungen wollten wir gerne festhalten.

 

Antonio Ceseri. Filmstill aus der Episode „Der letzte Überlebende“ © The Sand Mine.

Antonio Ceseri. Filmstill aus der Episode „Der letzte Überlebende“ © The Sand Mine.

 

ZOL: Eure Webdoku ist kein linearer Film, sondern er besteht aus 24 Episoden, 18 aus der Gegenwart sowie sechs, die den historischen Kontext erklären. Warum habt ihr euch für dieses Format entschieden? 

Katalin Ambrus: Das Massaker von Treuenbrietzen ist ja ein recht komplexes historisches Thema. Es gibt keine simplen Perspektiven und eindeutigen Rollen. Die italienischen Militärinternierten waren Opfer, sie waren aber auch Soldaten, die zu faschistischen Gesängen und zum Teil enthusiastisch in den Krieg marschiert sind und dabei viel Unheil angerichtet haben. Neben dem Massaker gab es vor Ort zur selben Zeit zudem noch ein anderes Verbrechen: Die Rote Armee hat das Zwangsarbeiterlager und Treuenbrietzen zwar befreit, dabei kam es aber auch zu Vergewaltigungen und Morden an Zivilisten, was bei der Aufarbeitung in Treuenbrietzen zu Grabenkämpfen geführt hat und teilweise immer noch führt.

Es gibt verschiedene Ebenen der Erzählung und manchmal auch Widersprüche zwischen persönlicher und kollektiver Erinnerung und keine Chronologie, alles existiert Seite an Seite. Durch die vielen unterschiedlichen Episoden haben wir versucht, die Komplexität dieses Themas abzubilden. Wir wollten, dass sich das Publikum Episode um Episode selbst ein Bild von den Ereignissen macht und sich die Geschichte dabei wie in einem Mosaik zu einem Ganzen zusammensetzt. Außerdem erlaubt uns dieses Format, viele verschiedene Materialien einzusetzen. Es gibt ja neben den Filmen auch jede Menge Zusatzmaterial, wie Tagebucheinträge, Fotostrecken, usw.

ZOL: Die sechs Geschichtsepisoden beleuchten nicht nur das Massaker an den italienischen Kriegsgefangenen, sondern auch die Hintergründe, wie etwa das Bündnis zwischen Hitler und Mussolini oder den Alltag in Zwangsarbeiterlagern. Warum habt ihr euch nicht nur auf die Aufarbeitung von und die Erinnerung an das Massaker konzentriert? Warum diese weite Perspektive?

Katalin Ambrus: Du hast es eben schon angedeutet: Das Schicksal der italienischen Militärinternierten ist in der Erinnerungskultur kaum präsent – weder in Deutschland noch in Italien. Das Zwangsarbeiterlager in Treuenbrietzen und das Massaker stehen dabei exemplarisch für die Geschichte von etwa 650.000 Italienern. Wir erzählen die Geschichte sozusagen „von unten“. Dabei war es uns auch wichtig, das System Zwangsarbeit zu beleuchten, auf dem schließlich auch die Wirtschaft des "Dritten Reiches" fußte. Es gab damals 40.000 Zwangsarbeiterlager — das muss man sich mal vorstellen. Sie existierten in allen Bereichen der Wirtschaft, von der Industrie über Bergbau, von der Landwirtschaft bis in die Privathaushalte. Und dabei darf man nicht vergessen, dass der Aufstieg vieler deutscher Konzerne mit der massenhaften Ausbeutung von Arbeitskraft durch das System Zwangsarbeit verbunden war.

ZOL: Die Gegenwartsepisoden werden durch die Erzählungen des letzten Zeitzeugen Antonio Ceseri lebendig. Es kommen aber auch andere Stimmen zu Wort. Stimmen, die betonen, auch die toten deutschen Soldaten seien Opfer, derer man gedenken müsse. Im Gegensatz zu den sechs historischen Episoden werden die verschiedenen Perspektiven hier nicht von einer Sprecherin aus dem Off kommentiert oder eingeordnet. Warum?

Katalin Ambrus: Im Grunde kommentiert die Sprecherin in den historischen Teilen das Geschehen auch nicht. Sie ist mehr eine Erzählerin. Kommentare sind meines Erachtens nach auch nicht nötig. Die entstehen beim Publikum ohnehin im Kopf. Ich finde nicht, dass man sich davor scheuen sollte, verschiedene Perspektiven zu zeigen – selbst wenn wir damit nicht einverstanden sind. Das gehört dazu, wenn man wirklich verstehen will, was geschehen ist. 

 

Ausschnitt vom Storyboard von Cosimo Miorelli zur Episode „Die Achse“ © The Sand Mine/Cosimo Miorelli.

Ausschnitt vom Storyboard von Cosimo Miorelli zur Episode „Die Achse“ © The Sand Mine/Cosimo Miorelli.

 

ZOL: Um das Quellenmaterial für diese multiperspektivische Darstellung zu sichten, habt ihr euch Hilfe bei HistorikerInnen gesucht. Welche Erfahrungen hast du als Filmemacherin bei der Zusammenarbeit mit unsereins gemacht?

Katalin Ambrus: Generell finde ich es sehr spannend und produktiv mit HistorikerInnen zusammenzuarbeiten. Wir nutzen natürlich deren Recherchen, haben aber unsere eigenen Mittel, um Geschichte lebendig zu machen und wohl auch einem viel breiteren Publikum näher zu bringen, als dies mit wissenschaftlicher Literatur möglich ist. Ich habe beobachtet, dass einige HistorikerInnen zunächst eine gewisse Scheu vor neuen Darstellungsformen zeigen. Sie haben Angst, dass ihre Themen nicht seriös genug dargestellt werden. Diese Angst verlieren sie jedoch, wenn sie das Potential neuer medialer Techniken erkennen.

In dieser Hinsicht gab es in den letzten Jahren einige interessante neue Entwicklungen und Projekte. Zum Beispiel stellte die USC Shoah Foundation 2016 das Projekt „New Dimensions in Testimony (NDT)“ vor, das es mit Hilfe von Hologrammtechnik ermöglicht, sich mit einer virtuellen Aufnahme eines Holocaust-Überlebenden über dessen Erinnerungen zu unterhalten.[3] Auch die Gedenkstättenarbeit wird immer digitaler. In Bergen-Belsen wird zum Beispiel bei Führungen eine speziell entwickelte Applikation eingesetzt. Mithilfe der „augmented reality“-Technik können die BesucherInnen durch eine grafische Darstellung der Gebäude des ehemaligen Konzentrationslagers navigieren, die auf die jetzige Landschaft projiziert werden. Man kann also auf dem Tablet sehen, wo in dem Waldstück früher die Baracken oder Wachtürme standen. Zusätzlich gibt es auch Berichte von ZeitzeugInnen. 

Um auf unsere Zusammenarbeit mit HistorikerInnen zurückzukommen – die war sehr gut. Zunächst konnten wir von der Vorarbeit durch die erwähnten Historiker enorm profitieren. Für die Recherchen zu unserem Film haben wir uns dann gezielt Hilfe von dem Historiker Max von Schoeler geholt. Was wir in den Archiven fanden, haben wir zum Teil als Zusatzangebote in die Webdoku mit eingebaut. 

ZOL: Dieses Zusatzmaterial in euer Webdoku ist sozusagen das Äquivalent zur Fußnote in einem wissenschaftlichen Text.

Katalin Ambrus: Ja, genau. Das ist der Vorteil gegenüber einer traditionellen TV-Doku. Wenn sich jemand beim Schauen für die Zusatzinfos, zum Beispiel zum Schicksal der Überlebenden interessiert, ist es möglich, die Webdoku zu stoppen und tiefer in die Materie einzusteigen. Danach geht’s weiter.

ZOL: Nicht nur durch das Zusatzmaterial, das man sich jeweils in Ruhe anschauen kann, hebt sich eure Webdoku von anderen Dokumentarfilmen ab, sondern auch und vor allem durch die Animation. Warum habt ihr euch gegen historisches Bildmaterial und Reenactment-Szenen und für den italienischen Zeichner Cosimo Miorelli entschieden?

Katalin Ambrus: Das mit dem historischen Bildmaterial ist so eine Sache. Man muss sich bei den Bildern, die wir von dieser Zeit kennen, immer vor Augen führen, wie diese entstanden sind. Und vieles davon ist Propagandamaterial. Das wollten wir nicht. Abgesehen davon gibt es von diesem verhältnismäßig „kleinen“ Ereignis in Treuenbrietzen natürlich überhaupt kein Archivmaterial. Wir haben relativ früh angefangen, über Animation zu diskutieren – zum Teil auch kontrovers. Als wir dann aber auf Cosimos Arbeit gestoßen sind, haben sich alle Zweifel darüber, ob Animationen bei diesem Thema angemessen sind, erledigt.

 

Ausschnitt vom Storyboard von Cosimo Miorelli zur Episode „Das Massaker“ © The Sand Mine/Cosimo Miorelli.

Ausschnitt vom Storyboard von Cosimo Miorelli zur Episode „Das Massaker“ © The Sand Mine/Cosimo Miorelli.

 

ZOL: Was hat euch so überzeugt?

Katalin Ambrus: Zum einen passte Cosimo gut zu unserem deutsch-italienischem Team. Viel wichtiger noch: Er hatte bereits an Filmprojekten zu italienischen Militärinternierten gearbeitet, kannte sich also mit unserem Thema aus und ging daher auch sehr sensibel die Sache an. Zum anderen hat seine Arbeit einfach einen extrem hohen künstlerischen Wert. Er nennt seine Technik „live painting“: Er zeichnet in Photoshop und nimmt den Prozess per Screencapture auf. Das legen wir dann in unserem Schnittprogramm übereinander, sodass die ZuschauerInnen das Gefühl haben, sie sehen Cosimo live beim Zeichnen zu. Die Animation wirkt daher sehr lebendig.

ZOL: Im April 2018 steht bald der jährliche Gedenktag in Treuenbrietzen an. Wird sich an den Feierlichkeiten durch eure Webdoku etwas verändern? 

Katalin Ambrus: Es gab seit der Veröffentlichung unserer Webdoku bereits zwei weitere Gedenktage. Bei dem ersten Gedenktag nach der Veröffentlichung haben wir den Film auch in einer „Treuenbrietzen-Premiere“ vorgestellt. Ich glaube nicht, dass sich am Tag an sich etwas verändert hat oder verändern wird. Vielleicht dient der Erfolg der Webdoku dem einen oder anderen als Motivation, beispielsweise für die SchülerInnen der Geschichts-AG am Treuenbrietzener Gymnasium, weiter an diesem Projekt zu arbeiten. Das haben wir jedenfalls von der damaligen AG-Leiterin Katrin Päpke immer wieder gehört. Frau Päpke versucht, mehr oder weniger im Alleingang, mit einer Handvoll SchülerInnen die ehemaligen Baracken der Italiener als Gedenkort zu erhalten und jedes Jahr aufs Neue von den Überwucherungen des Waldes zu befreien. 

Ich frage mich jedoch vor allem, welche Auswirkungen es auf den Gedenktag haben wird, dass Antonio Ceseri am Ende des vergangenen Jahres verstorben ist. Er war dort jedes Jahr der Ehrengast und für alle Beteiligten eine moralischen Instanz. Seine Präsenz regte zum Nachdenken und zum Gedenken an. Er war sozusagen die „Stimme der Geschichte“.

Die Webdoku „Im Märkischen Sand“ gibt es in deutscher, englischer und italienischer Sprache unter: imidoc.netIm Downloadbereich steht unter anderem Bildungsmaterial für den Schulunterricht zur Verfügung.

 

 

[1] Bericht der von den Außenministern der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik am 28.3.2009 eingesetzten Deutsch-Italienischen Historikerkommission, Juli 2012, S. 59.
[2] Vgl. ebd.; Paul Badde, Für Landser waren Italiener ein „Schweinevolk“, in: Welt.de, 19.12.2012. [zuletzt abgerufen am 06.03.2018].
[3] Vgl. dazu: David Traum u.a., New Dimensions in Testimony: Digitally Preserving a Holocaust Survivor’s Interactive Storytelling, in: Henrik Schoenau-Fog u.a. (Hg.), Interactive Storytelling. Lecture Notes in Computer Science, Cham u.a. 2015, S. 269-281.