von Jens Brinkmann

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1. August 2011

Gegründet als Gegenprogramm zum starfixierten Berlinale-Wettbewerb, gilt das Internationale Forum des jungen Films seit über 40 Jahren als die politischste und risikofreudigste Sektion des Festivals. Jens Brinkmann sprach für Zeitgeschichte-Online mit der Programmkoordinatorin des Forums, Anna Hoffmann, über Profil und Programmentwicklung, zeitgeschichtliche Themen im Film, Tendenzen der globalen Filmproduktion und die Zukunft von Kino und Festivals in Zeiten der Digitalisierung.

 

Frau Hoffmann, lange Zeit hat sich das Forum als eine Art Gegenprogramm zur herkömmlichen Berlinale verstanden. Ist das immer noch so?

 

Das ist ja der Beginn der Forumsgeschichte, dass es als Opposition zum langweiligen Establishment des Haupt-Festivals entstanden ist. Aber ab einem bestimmten Zeitpunkt ist das nicht mehr die Arbeitsgrundlage gewesen. Auch wenn das Forum nach wie vor unabhängig ist, Veranstalter ist das Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V., sehen wir uns nicht als Opposition zum Panorama oder zum Wettbewerb, sondern als Bestandteil der Berlinale. Aber wir wollen ein eigenes Profil wahren, was in meinen Augen auch immer noch gelingt.

 

Worin besteht dieses Profil? Was hätte der Berlinale ohne das Forum gefehlt?

 

Ein deutlich erweiterter Blick auf das, was in der Welt an Filmen existiert. Das Forum hat sich immer bemüht, international möglichst breit aufgestellt zu sein, also Filme aus Regionen zu zeigen, die sonst kaum präsent gewesen wären. Und umgekehrt, aus omnipräsenten Regionen den Underground zu präsentieren. Wir haben den nichtkommerziellen Film berücksichtigt. Und natürlich die Vielfalt von Genres: Von Beginn an wurden Dokumentarfilme gezeigt, Essayfilme, Experimentalfilme. Das Forum steht mehr als andere Sektionen für die verschiedenen Herangehensweisen und eben auch für Mischverhältnisse.

 

Gibt es den typischen Forum-Film?

 

Es gibt dafür keinen 10-Punkte-Katalog. Wir tragen ja in unserem offiziellen Titel den Begriff „junger Film“. „Jung“ ist nichts, was wir im Sinne des Geburtsjahrs des Regisseurs verstehen, sondern im Sinne eines Herangehens, einer Handschrift, auch einer Risikobereitschaft, etwas zu wagen, in meinen Augen hauptsächlich formal, damit verbunden natürlich oft auch inhaltlich.

 

Sie erwähnten den „nichtkommerziellen Film“. Ein anderer Begriff, der von den Gründern des Forums immer wieder bemüht wurde, ist der des „unabhängigen Films“, dem man eine Plattform bieten wollte. Was wäre heute darunter zu verstehen?

 

Heutzutage sind diese Kategorien weitgehend aufgeweicht. Das waren zu Beginn des Forums noch wesentlichere Kriterien. Dennoch gilt dieser Begriff des „Nichtkommerziellen“ immer noch: Das bedeutet aber von Land zu Land etwas Unterschiedliches. Hier in Deutschland haben wir eine vergleichsweise komfortable Förderlandschaft. An vielen Filmen ist das Fernsehen in der Produktion beteiligt. Andere Filme, die wir aus den sogenannten „Dritte Welt“-Ländern zeigen, oder durchaus auch Filme aus den USA, die nicht in dem Studiosystem sind und bei denen Filmemacher ihr privates Geld investieren, sind vielleicht doch noch unter den Begriffen „nichtkommerziell“ und „unabhängig“ zusammenzufassen. Und davon haben wir mehr Filme im Programm als zum Beispiel das Berlinale-Panorama, das eher auf der Suche nach auswertbareren, im Kino verleihbareren Arthouse-Filmen ist.

Der „unabhängige“ Film – das ist heutzutage eher ein finanzielles als ein inhaltliches Kriterium. Man muss sich ja immer fragen „unabhängig wovon“? Vom Studiosystem, von Geldgebern, vom Fernsehen, vom Geschmacksdiktat, von Förderungen? Es gibt neue Finanzierungsmodelle wie das „Crowd Funding“, wo über das Internet von Vielen kleinere Beträge gesammelt werden. Das ist einerseits unabhängig, aber auch hier wird es sicher Projekte geben, die nicht gängig genug sind, um sich auf diese Weise zu finanzieren. Außerdem stößt es in kleineren Sprachräumen gewiss schnell an Grenzen.

 

Das Forum hatte immer einen politischen Anspruch. Gerade in den Anfangsjahren spielte der politisch engagierte Film eine große Rolle im Programm. Was ist heute eigentlich noch der politisch engagierte Film und welchen Platz hat er im Forum der Berlinale?

 

Die Anfänge des Forums fallen in die politisch bewegte Zeit nach 1968. Da gab es auch außerhalb der Filmwelt andere Themen, wenn man z.B. die Rolle, die die Arbeit oder der Klassenkampf in den Filmen der 1970er Jahre gespielt haben, betrachtet. Vieles davon ist als Filmthema verschwunden, dafür sind andere Themen an die Stelle getreten.

Auch damals gab es Differenzen über das politisch engagierte Kino. In diesem Kontext stand Godards Äußerung, es gälte „keine politischen Filme zu machen, sondern Filme politisch zu machen“. Für uns ist das Politische immer noch ein sehr wichtiges Kriterium. Wir sind aber eher auf der Suche nach Filmen mit einer radikalen oder ungewöhnlichen filmischen Handschrift, die den politischen Funken aus dem Verhältnis von Inhalt und Form schlagen.

 

Könnten Sie das an einem Film aus dem Forum-Programm verdeutlichen?

 

Wir hatten zum Beispiel vor zwei Jahren einen Film zum Thema Neoliberalismus im Programm: Richard Brouillettes Dokumentarfilm L’encerclement. In diesem Fall ging es uns nicht darum, unbedingt einen Film zum Thema Neoliberalismus dabei zu haben. Vielmehr hat uns der Film in seiner spröden Konsequenz überzeugt, mehrere Protagonisten einfach in langen Schwarzweiß-Interviews zu präsentieren – ohne Mätzchen, ohne ermunternde, auflockernde, unterhaltsame Elemente, die ja doch nur dazu führen, dass man dadurch abdriftet.  

 

L encerclement (copyright: cinelibre.ch)

L'encerclement © cinelibre.ch

 

Oder in diesem Jahr hatten wir den niederländischen Film De Engel van Doel: Darin geht es um ein Dorf in der Nähe von Antwerpen, das der Hafenerweiterung weichen soll. Drei ältere Dorfbewohner setzen sich zur Wehr, der Pastor und zwei ältere Frauen. Am Ende ist eigentlich nur eine übrig, die standhaft bleibt und in ihrem Haus bleibt, obwohl links und rechts schon alles abgerissen wird. Uns hat der Film gefallen, weil er sehr poetisch gestaltet war, also die Schwarzweißbilder dieses Ortes die Wehmut, die mit der Aufgabe dieser Heimat in Verbindung stand, reflektierten. Der Film hat sich überhaupt nicht um irgendeine ausgewogene Form bemüht, in dem Sinne, dass alle Befürworter und Gegner der Hafenerweiterung zu Wort kommen müssen oder dass der Hintergrund des Projektes erklärt wird. In De Engel van Doel ging es auch nicht allein um Politisches, sondern vielmehr auch um Vergänglichkeit, Tod, Alter. Aber der Film wurde sehr politisch aufgenommen, weil er womöglich im Kontext von Stuttgart 21 und dieser Form des Bürgerwiderstands rezipiert wurde.

 

De engel van Doel © Arsenal Institut

De Engel van Doel © Arsenal Institut

 

Kann man bestimmte Themenkonjunkturen im Programm des Forums ausmachen?

 

In den ersten Forum-Jahrzehnten waren bestimmte Themenverdichtungen vielleicht noch greifbarer: politische Themen wie die Arbeiterbewegung, die Widerstandsbewegung in Lateinamerika, die Frauenbewegung oder die Schwulenemanzipation. Aber es gab immer auch andere Filme, die nicht in diese Schubladen passten. In der Gegenwart ist das schwierig: Es gibt schon viele Filme, die bestimmte Themen auf eine eher platte Art und Weise abhandeln, die wir dann gerade nicht zeigen…

 

… Politisch programmatische Filme, die formal nicht überzeugen?

 

… Ja, eine Zeitlang gab es zum Beispiel viele Filme zu den Folgen von Hurrikan Katrina oder zu den Fragen der Globalisierung: Da könnte man ganze Festivals mit gestalten, und diese Festivals gibt es ja auch.

 

In diesem Jahr hatten Sie osteuropäische und lateinamerikanische Filme im Programm, die sich mit den Spuren von Geschichte und Erinnerung auseinandersetzen. Welche Rolle spielen zeithistorische Themen?

 

Auch hier ist es eher die Qualität des Films als sein möglicherweise brisantes oder aktuelles Thema, die darüber entscheidet, ob wir ihn auswählen oder nicht. Dieses Jahr hatten wir z.B. einen chilenischen Film (El mocito) über einen Mann, der als Jugendlicher in der Pinochet-Diktatur als eine Art Dienstbote in einer Villa gearbeitet hat, in der Folterverhöre stattfanden. Das hat sein Leben geprägt in der Rolle, nicht wirklich Opfer, nicht wirklich Täter zu sein. Der Film begleitet ihn in einer Phase seines Lebens, in der er versucht, irgendwie mit sich selbst ins Reine zu kommen und auch mit den Leuten, die damit in Verbindung standen. Seine persönliche Geschichte und die große, nationale Tragödie Chiles beginnen dabei einander immer mehr zu spiegeln – der Film sucht feinfühlig nach den Analogien und findet sie eher in Bildern als in Worten.

 

El Mocito © Icalma Films

El Mocito © Icalma Films

 

Es gibt sogar eine auffällige Tendenz, z.B. bei jungen osteuropäischen Regisseurinnen und Regisseuren, sich mit der eigenen Vergangenheit zu befassen, das jedoch auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Die Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen Fragen ist aber allein kein Auswahlkriterium.

Ich gebe einmal ein Gegenbeispiel: Wir hatten vor einigen Jahren einen japanischen Dokumentarfilm (Manzan benigaki) über das Trocknen und Konservieren von Kakipflaumen im Programm. Das war ein sehr, sehr schöner Film, in der Art und Weise, wie er das darstellt, also wie er seinem Sujet entspricht, wie es um Arbeit geht, wie es um eine Liebe zu dem geht, was man tut, wie es vielleicht auch darum geht, etwas einzufangen, was verloren zu gehen droht. Das hat den Film für das Forum prädestiniert. Da müsste man aber schon sehr viel biegen, um da einen politischen Kontext hineinzubringen.

 

Red Persimmons © Icarus Films

Red Persimmons © Icarus Films

 

Dennoch haben Sie Filme im Programm, die sich explizit mit Geschichte auseinandersetzen. Sie bevorzugen aber subtilere Zugänge?

 

Das kann man vielleicht an dem tschechischen Film Eighty Letters deutlich machen, den wir dieses Jahr im Programm hatten. Der versucht, eine Zeitstimmung durch Genauigkeit im Hinblick auf Drehorte, Ausstattung, Farben und andere Details zu erzeugen, das aber auf eine sehr dezente Art und Weise. Er spielt an einem Märztag 1987 in der Tschechoslowakei und zeigt eine Mutter und ihren Sohn dabei, die notwendigen Papiere für einen Ausreiseantrag zusammenzubekommen. Beide wollen nach Großbritannien, wohin der Vater emigriert ist. Das war kein gewöhnlicher Geschichtsfilm, der Nachhilfeunterricht zu vergangenen Zeiten erteilen will. Dem Film gelingt es mit einem außerordentlichen Gespür etwa für Einstellungsgrößen und Dauer, das Ausgeliefertsein an die Bürokratie spürbar zu machen. Darüber hinaus spricht er aber sehr sensibel von zwei Menschen an der Schwelle zu einem ungewissen Aufbruch mit allen Unsicherheiten und Verlusten. Historische Präzision und persönliches Erleben werden da zu einem Kunstwerk verknüpft.

 

Eighty Letters © Václav Kadrnka

Eighty Letters © Václav Kadrnka

 

Das wäre ein Filmbeispiel für Versuche einer formbewussten Annäherung an ein anderes Jahrzehnt oder Jahrhundert, die wir interessant finden. Uns begegnen dagegen eher selten Filme, die historische Themen auf einer konventionellen Ebene angehen wie beispielsweise Der Untergang – die haben woanders ihren Platz, aber nicht im Forum.

 



Der Untergang © Constantin Film

Der Untergang © Constantin Film

 

Das Forum legt ja viel Wert auf den Publikumsdialog und die Diskussion im Anschluss an die Filmvorführungen. Kommt es bei solchen filmischen Annäherungen an die Geschichte auch zu Kontroversen?

 

Im letzten Jahr ist uns ein rumänischer Film ein bisschen um die Ohren geflogen: Portrait of the Fighter as a Young Man. Da ging es um Partisanen im antikommunistischen Widerstand in Rumänien nach 1944/45. Der Film hat uns auch erst mal formal überzeugt, weil er wie ein Western Männerbünde in den Karpaten und ihr Durchhaltevermögen sehr überzeugend inszeniert hat. Er war auch weit entfernt von Reenactment-Geschichten, wie man sie eher aus dem Fernsehen kennt. Der Film hat aber für Aufregung gesorgt, weil der Filmemacher offenbar einiges an der Biografie des Protagonisten, der ein reales Vorbild hatte, weggelassen hat. Die teilweise nationalistischen und antisemitischen Hintergründe dieser Kämpfer bleiben ausgeblendet, was sicher durch den gewählten Ausschnitt, von dem der Regisseur erzählt, erklärbar ist. Es ging ihm um andere Aspekte. Es gab dann aber eine kritische öffentliche Diskussion zu dem Film. Wir hatten die problematischen Aspekte vorher durchaus gesehen und im Auswahlkomitee diskutiert, aber mit der Vehemenz bestimmter Reaktionen nicht gerechnet.

 

Ein früher Anspruch des Forums war es auch, sich mit der Filmgeschichte auseinanderzusetzen und vergessene Kinematographien zu präsentieren. Welchen Stellenwert hat das heute?

 

Der Blick zurück in die Filmgeschichte spielt immer noch eine Rolle. Oftmals ist das auch ein Blick zurück in die Forum-Geschichte, weil ja schon Filme aus dem eigenen Programm zu Klassikern geworden sind. Oder wir führen Filme wieder auf, die restauriert wurden.

 

Portretul luptatorului la tinerete © Filmex Romania

Portretul luptatorului la tinerete © Filmex Romania

 

Früher gab es allerdings eine ganz andere Notwendigkeit, diese Filme überhaupt erst einmal zu zeigen, sei es die sowjetischen Avantgardefilme oder die italienischen Neorealisten… Da kannte man Vieles noch gar nicht.

 

Es ist rückblickend beeindruckend, wie viele Regisseure und heute kanonisierte Filme im Forum entdeckt wurden und ihre Premiere hatten.

 

In der Tat. Man muss allerdings berücksichtigen, dass früher nicht alle Filme im Forum Erstaufführungen waren. Das hat sich geändert, was auch mit den härteren Bandagen, die auf dem Festivalmarkt angelegt werden, zu tun hat. Als frühere Forumsbesucherin bin ich sehr froh gewesen, dass auch diese Filme, die keine Erstaufführungen waren, trotzdem gezeigt wurden. Zum Beispiel der Film Shoah war vorher bereits in Venedig gelaufen, und trotzdem war das damals keine Frage, dass man den hier präsentiert.

 

Shoah © Les Films Aleph-Historia Films

Shoah © Les Films Aleph-Historia Films

 

Woher kommt eigentlich dieser Fetisch der Erstaufführung? Wenn man den Anspruch hat, über Filme einen Dialog zu führen, kann ja dieses Premieren-Muss nicht allein das Kriterium sein.

 

Das stimmt. Aber die Berlinale ist ein sogenanntes A-Festival, dafür gibt es Regularien, die von der FIAPF (Fédération internationale des associations de producteur des films) festgelegt werden. Und diesen Spielregeln ist auch das Forum als Teil der Berlinale unterworfen. Die Berlinale hat zudem einen großen Filmmarkt: Man spricht auch die Branche an, die nicht Filme sehen will, die sie schon woanders gesehen hat. Natürlich ist es für eine Debatte, für eine Auswahl dessen, was in der Welt gerade filmisch geschieht, manchmal ein Hemmschuh. Aber um im Bild der Spielregeln zu bleiben: Wenn man statt „Schach“ nun plötzlich „Mensch ärgere dich nicht“ spielen würde, hätte man es mit anderen Einschränkungen zu tun. Man hätte vielleicht andere, nicht unbedingt größere Freiheiten.

 

In den letzten Jahren gibt es zunehmende Kritik an der Programmentwicklung. Da heißt es, das Forum habe sich davon verabschiedet, minoritäre Positionen im Weltkino zu präsentieren. Es sei inzwischen nur noch ein „Laboratorium für den Mainstream“, eine Nebenveranstaltung, die keiner erkennbaren Linie folge. Was entgegnen Sie dieser Kritik?

 

Das sehen wir natürlich anders. Mir ist aufgefallen, dass einzelne Filme gar nicht so schlecht bewertet werden, dass aber vielleicht dieser Zwang zur Generalkritik dazu führt, dass ein negativeres Gesamtbild gezeichnet wird als die Kritiken zu den einzelnen Filmen vermuten ließen. Die notorische Unzufriedenheit, wie sie seit Jahren auch mit anderen Aspekten der Berlinale, insbesondere dem Wettbewerb artikuliert wird, mag bei manchen Kritikern eine Müdigkeit gezeitigt haben: Man möchte womöglich auch nicht jedes Jahr das Gleiche schreiben.

Es gibt von den unterschiedlichsten Berlinale-Nutzern Reaktionen, vom Publikum, von der Presse, von den Branchenprofis, da lobt der eine, was der andere bemängelt, sodass man nicht den Kopf verlieren darf. Wir schauen, was wir besser machen können. Ich wünsche mir die Kritik aber ein bisschen mehr entlang der Filme, weniger diese allgemeinen Behauptungen.

 

Sehen Sie sich da mit hohen Erwartungen konfrontiert, die noch aus der Entstehungsgeschichte des Forums herrühren?

 

Manchmal macht es diesen Eindruck. Es ist vielleicht auch eine Frage der Auseinandersetzung mit der Rolle, die Festivals heute überhaupt spielen können. Die Vorstellung, dass man jetzt die 30 besten Filme aussucht und präsentiert, ist in gewisser Weise naiv: Was wären diese Filme dann? Und durch welche äußeren Zwänge und Einschränkungen wird ein Festivalprogramm gestaltet oder beeinflusst? Der Leiter des Forums, Christoph Terhechte, hat einmal gesagt, für ihn gehe es nicht um die Frage der Auswahl der 30 besten Filme, sondern um ein kohärentes Programm.

 

Nun wird ja gerade diese Kohärenz vermisst. Welche spezifische Perspektive auf das „Weltkino“ eröffnet das Forum denn?

 

Für mich besteht eine Qualität in dem Facettenreichtum der Ansätze. Das heißt, jeder Film im Programm zeichnet sich in seinem Herkunftskontext durch Neuartigkeit oder eine ungewöhnliche Handschrift aus, sei es etwa im Hinblick auf sein Genre, sein Thema, seine Erzählweise, seine Verweise auf die Filmgeschichte oder auch seine Finanzierung. Dennoch ist das Programm kein Gemischtwarenladen, sondern unsere wohlüberlegte Auswahl aus dem, was uns in einem Jahrgang zur Verfügung steht.  

„Weltkino“ ist für mich auch ein sehr zweifelhafter Begriff: Das ist so griffig. Jeder stellt sich darunter etwas vor. Aber eigentlich ist das für mich eine Vokabel, die ich zu vermeiden versuche, weil die so etwas Eurozentrisches hat. Das ist so wie „man hört jetzt Folklore aus diesen und jenen Weltregionen“. „Weltkino“ hat auch immer den Ruch von Festivaltauglichkeit, als gäbe es ein paar Schlüsselreize, die bedient werden müssten, damit ein Film dann eine Reise antreten kann, weil er universell verstehbar ist.

Was daran stimmt, ist natürlich, dass wir abzubilden versuchen, was in der Welt geschieht. Allerdings ist das keineswegs immer ein Minderheitenkino, wenn ich z.B. an die Filme aus Asien denke: In Ländern wie Korea oder Japan gibt es eine viel lebendigere Filmkultur als bei uns. Was wir für wichtig halten, ist die Filme überhaupt zu zeigen, weil die Verleihsituation in Deutschland oder auch das, was das Fernsehen anbietet, ja desaströs ist. Das hört sich simpel an, aber es ist nach wie vor Aufgabe, die Filme sichtbar zu machen, immer noch, auch in Zeiten, in denen man auf Internetportalen Vieles anschauen oder runterladen kann. Wir wollen sie jedoch nicht mit einer paternalistischen Geste präsentieren, sondern sie in ihrer Vielfalt und unterschiedlichen Herkunft nebeneinander stellen – und genau da entsteht für uns eine produktive Spannung.

 

Auch wenn Sie mit dem Begriff des „Weltkinos“ wenig anfangen können: Gibt es aus Ihrer Sicht bestimmte Tendenzen in der internationalen Filmproduktion?

 

Früher gab es die weißen Flecken auf der Filmlandkarte, die dann auf den Festivals präsentiert wurden. Das hat sich stark geändert. Wenn man sich zum Beispiel den thailändischen Regisseur Apichatpong Weerasethakul anschaut, der im letzten Jahr in Cannes die Goldene Palme gewonnen hat: Es läuft ja nicht so, dass sich ein Gremiumsmitglied die Malaria-Impfung holt und in weit entfernte Teile der Welt reist und dort einen Filmemacher entdeckt. Hinter dem steht mittlerweile ein großer Weltvertrieb. Damit sind wirtschaftliche Interessen verbunden.

Wenn ich sage, dass „Weltkino“ für mich keine Kategorie ist, dann habe ich natürlich trotzdem eine Vorstellung davon, was damit gemeint ist: dieses vielleicht etwas konfektionierte, globaliserte, international taugliche Arthouse-Kino (womit ich jetzt nicht Apichatpong Weerasethakul meine). – Das ist vielleicht eine Tendenz. Es gibt internationale Förderungen, die Welt ist zusammengewachsen, und da bildet sich dann eine Schicht von Filmen heraus, die die Grenzen ihrer Länder überschreiten und sichtbar gemacht werden hauptsächlich durch Festivals. 

 

Könnte man diese „Schicht von Filmen“ näher charakterisieren?

 

Ich glaube nicht, dass das formal oder thematisch bedingt ist. Ich glaube mehr, dass das eine Frage der Bedingungen der Filmindustrie ist, wie große Koproduktionen entstehen (denn das sind diese Filme in den meisten Fällen), welche Förderinstrumente es gibt, welche Weltvertriebe schon zu Beginn der Produktion welche Filme unter ihre Fittiche nehmen, was noch in den Verleih kommt. Dahin muss man als Filmemacher erstmal den Sprung geschafft haben durch die ersten Filme, die dann womöglich in der Quinzaine oder im Forum laufen. Und dann kommen sie vielleicht irgendwann in so eine Art „Champions League“. Wenn es soetwas wie eine „Konfektionierung“ gibt, dann fängt sie nicht erst mit den Festivals an.

Für mich ist dieses von Ihnen zitierte kritische Etikett „Laboratorium für den Mainstream“ auch anders interpretierbar: Das, was heute visuell, technisch, narrativ neuartig, manchmal auch sperrig und gewöhnungsbedürftig ist, findet mit der Zeit auch Eingang in Filme, die deutlicher für eine kommerzielle Auswertung konzipiert sind. Es ist ja nichts Verwerfliches, wenn die Filmemacher, die wir hier anfänglich zeigen, die noch keinen Namen haben und vielleicht auch nie einen bekommen werden, diesen Weg gehen, in internationalen Wettbewerben ihre Filme zeigen wollen oder sogar auf eine Kinoauswertung hoffen. Bei denen findet ja auch eine Entwicklung statt und oft können die Filmemacher es selbst auch gar nicht mehr steuern.

 

Wie steht es um die Zukunft der Festivals und konkret des Forums in Zeiten des digitalen Wandels?

 

Ich bin da eigentlich nicht so pessimistisch. Natürlich kann man sich die Frage stellen, wozu man noch ein Festival oder Kinoprogramm macht, wenn man auch auf ganz andere Art und Weise an die Filme kommen kann. Ich glaube dennoch, dass Veranstaltungen wie das Forum weiterhin eine wichtige Rolle spielen werden. Gerade weil es so viele Filme gibt, wird es weiterhin jemanden geben, der so eine Art Vorkoster ist und einen Menüvorschlag macht, was vielleicht interessant wäre. Und dazu kommt nach wie vor das Verführerische einer großen Leinwand und auch der Begegnung.

 

Wie geht das Forum mit seiner eigenen Geschichte um? Welche Formen der Selbsthistorisierung gibt es?

 

Zunächst haben wir das Film-Archiv des Arsenals. Das besteht zu einem großen Teil aus den Filmen der Forum-Geschichte, weil wir Filme ankaufen, untertiteln und aufbewahren. Von manchen Filmen gibt es nur noch hier eine Kopie. Dann haben wir immer schon großen Wert darauf gelegt, die Filme auch während des Forums angemessen zu präsentieren. Dazu gab es die Forums-Blätter, später wurde daraus der Katalog. Darin veröffentlichen wir möglichst viel Hintergrundmaterial zu den Filmen, etwa Interviews und Presseberichterstattungen zu den Premieren. Vor kurzem haben wir alle alten Forums-Blätter digitalisiert, die sind jetzt im Internet verfügbar. Seit einiger Zeit gibt es auch eine Filmdatenbank, die öffentlich zugänglich ist. Schließlich gibt es ein Archiv für Fotos, Plakate, Schriftwechsel etc. Früher sind die Gespräche aufgenommen worden, die nach den Filmen geführt wurden. Es könnte eigentlich ganz attraktiv sein, so etwas im Rahmen von Web 2.0 auch wieder zu machen.

 

Sie sprachen vom Kopien-Schatz in Ihrem Film-Archiv. Welche Auswirkungen hat der technische Wandel auf die Verfügbarkeit dieser Filme? Und wie gehen Sie mit den neuen digitalen Formaten um?

 

Da verändert sich in der Tat Vieles. Gerade in dem Segment, mit dem wir umgehen, sind Kopien gar nicht mehr State-of-the-art. Erst gab es verschiedene Video-Formate, jetzt ist es HD, langsam geht es zu DCP über. Dieser technische Wandel ist mit vielen Fragen verbunden, etwa wie man das aufbewahrt. Aber auch die Frage, wer die Filme eigentlich noch zeigen kann, ist nicht mehr so leicht zu beantworten. Ein Großteil unseres Archivs besteht aus 16mm-Filmen – das war einfach das Format, das früher den unabhängigen Film ausmachte. Es ist inzwischen wie mit Super-8: Die Projektoren werden in den Kinos abgeschafft, und es ist immer schwieriger, das noch zu zeigen. Andererseits ist es für die Klientel, die in Deutschland unsere Filme zeigt, also vor allem die Kommunalen Kinos und die Filmclubs, bisher zu teuer, die HD-Technik anzuschaffen. Jetzt werden aktuell endlich die Weichen dafür gestellt, dass auch diese Kinos Zuschüsse oder Kredite für die Digitalisierung beantragen können.

Da ist das Kino in einer Umbruchsituation. Ich sehe da aber auch Chancen für die Filme, um die es uns geht, weil sie jetzt auch anders verbreitet werden können. Und für die Filmemacher ist der Zugang zu guter technischer Ausrüstung erleichtert. Aber das wird sich zeigen, der Ausgang ist offen.

 

Anna Hoffmann ist seit 2000 für das Internationale Forum des Jungen Films tätig. Mit dem Wechsel in der Leitung des Forums von Ulrich Gregor zu Christoph Terhechte im Jahr 2001 wurde sie Programmkoordinatorin und Mitglied des Auswahlkomitees dieser Berlinale-Sektion.