von Michael Wildt

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5. Juli 2017

Die wichtigsten Stationen der ersten 100 Tage der Hitler-Regierung sind hinlänglich bekannt: Am 30. Januar ernannte Reichspräsident v. Hindenburg Hitler zum Reichskanzler und schrieb auf dessen ausdrücklichen Wunsch am nächsten Tag Neuwahlen zum Reichstag am 5. März aus; der Wahlkampf war von staatlicher Repression gegen Sozialdemokraten und Kommunisten geprägt, besonders nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar setzte eine vehemente Verfolgung der linken Opposition ein. Dennoch errangen SPD und KPD noch über 30 Prozent der Stimmen, aber die NSDAP, die mit knapp 44 Prozent die weitaus stärkste Partei wurde, erhielt zusammen mit den Deutschnationalen die erhoffte absolute Mehrheit – und damit die beabsichtigte Unabhängigkeit vom Reichspräsidenten, mit dessen Präsidialdekreten seit 1930 regiert wurde. Mit Gewaltdrohungen der SA von unten und der Macht von oben, aufgrund der Reichstagsbrandverordnung, setzte die Hitler/Papen-Regierung innerhalb weniger Tage in allen Ländern nationalsozialistische Reichskommissare ein und entmachtete die gewählten Landesregierungen. Am 21. März zelebrierte das Regime die Eröffnung des neuen Reichstages (ohne kommunistische und etliche sozialdemokratische Abgeordnete) in Potsdam als nationalen Akt. Zwei Tage später stimmte der Reichstag seiner Selbstentmachtung zu und übertrug der Regierung das Recht, Gesetze zu erlassen. Am 1. April machte die Regimeführung mit den antisemitischen Ankündigungen ernst und ließ durch SA und SS allerorten jüdische Geschäfte boykottieren. Eine Woche später sorgte das „Gesetz für die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ für die Entlassung von jüdischen Angehörigen des Öffentlichen Dienstes, aber ebenso für linke oder sonst als entbehrlich gehaltenen Staatsdienern. Der 1. Mai, zum „Tag der nationalen Arbeit“ erhoben, wurde medial aufwändig als Angebot der Integration der Arbeiterschaft in die „Volksgemeinschaft“ inszeniert; tags darauf stürmte die SA die Gewerkschaftshäuser und zerschlug die freien Organisationen der Arbeiterbewegung.

Im Folgenden möchte ich auf vier Charakteristika dieser Machteroberung näher eingehen:

1. Die blinde Pfadabhängigkeit der alten Eliten

Ohne die Unterstützung der nationalkonservativen Eliten wären Hitler und die NSDAP nicht an die Macht gelangt. Die Gefährlichkeit und Verfassungsfeindlichkeit der Nationalsozialisten waren durchaus bekannt. Nicht zufällig weigerte sich der Reichspräsident im Juli 1932, Hitler mit der Kanzlerschaft zu betrauen, obwohl die NSDAP als stärkste Fraktion aus den Reichstagswahlen hervorgegangen war. Ein halbes Jahr später stimmte er zu, weil deutlich geworden war, dass ohne die Nationalsozialisten keine stabile Regierung der Rechten zu bilden war, und Franz v. Papen ihm versichert hatte, dass die rechtskonservative Mehrheit im Kabinett Hitler zügeln werde. Hitler verfügte im Unterschied zu v. Papen über keinerlei Regierungserfahrung und doch – oder vielleicht gerade deswegen – gelang es ihm, die Rechtskonservativen vor sich herzutreiben. Die Rechtskonservativen wiederum glaubten, dass es Hitler ausschließlich darum ging, die Linke zu zerschlagen und einen autoritären Staat zu errichten, somit Ziele verfolgte, die sie selbst vertraten. Zudem gingen sie davon aus, dass er sich an die etablierten Regeln des Regierens halten würde. Papens arroganter Ausspruch, man habe Hitler bloß „engagiert“, erwies sich als krasse Fehleinschätzung. Denn die Nationalsozialisten sorgten mit jener Radikalität und Gewalttätigkeit, mit der sie bisher Politik betrieben hatten, für eine revolutionäre Dynamik, die nicht nur die Deutschnationalen von der Macht verdrängte, sondern die politische Ordnung Deutschlands insgesamt innerhalb weniger Monate fundamental veränderte.

Längst hatten die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Eliten Deutschlands die Weimarer Republik und ihre Verfassung aufgegeben, wenn sie denn überhaupt je hinter ihr gestanden hatten, und wollten einen autoritären Staat, der die Arbeiterorganisationen zerschlug und die Freiheitsrechte seiner Bürger maßregelte. Im Bürgertum herrschte eine tiefsitzende Furcht vor einer kommunistischen Machtübernahme und eine hohe Bereitwilligkeit vor, die „marxistischen“ Parteien SPD und KPD nachhaltig zu zerschlagen. Hitler wandte sich gegen ein Verbot der Partei, da es „schlechterdings unmöglich [sei], die 6 Millionen Menschen zu verbieten, die hinter der KPD“ ständen, und plädierte vielmehr für Neuwahlen, um eine Mehrheit für die Rechtskoalition zu gewinnen. Zugleich würde, so Hitlers Argument, eine parlamentarische Mehrheit der neuen Rechtsregierung die demokratische Legitimität verschaffen, von der aus sie dann mit einem Ermächtigungsgesetz diktatorische Politik betreiben konnte. Es war von vornherein klar, dass die kommende Reichstagswahl die letzte sein würde. „Die Rückkehr zum parlamentarischen System sei unbedingt zu vermeiden“, so Hitler auf der Kabinettssitzung am 31. Januar 1933 ganz im Einklang mit seinen deutschnationalen Kabinettskollegen.[1]

Ebenso versicherte sich Hitler gleich nach seiner Ernennung zum Reichskanzler der Unterstützung des Militärs. In einer Geheimbesprechung mit den Befehlshabern des Heeres und der Marine am 3. Februar betonte Hitler, dass der Wehrgedanke gestärkt, die Reichswehr massiv aufgerüstet würde. „Ausrottung des Marxismus“, „straffste autoritäre Staatsführung“ und „Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie“ seien seine politischen Ziele. Der Unterstützung der Reichswehrführung konnte er damit gewiss sein.

 

2. Die Schwäche der rechtsstaatlichen Institutionen

Die Abkehr der alten Eliten von der verfassungsmäßigen Ordnung führte nicht zuletzt dazu, dass die Institutionen des Rechtsstaates kaum verteidigt wurden. Schon im Wahlkampf wurde staatliche Gewalt gegen staatsbürgerliche Rechte eingesetzt. Gleich am 4. Februar erließ Hindenburg die Verordnung „zum Schutze des deutschen Volkes“, die die Versammlungs- und Pressefreiheit einschränkte und von Hermann Göring, der nun kommissarischer Innenminister in Preußen war, dem größten und wichtigsten Land des Deutschen Reiches, genutzt wurde, um sozialdemokratische und kommunistische Zeitungen und Kundgebungen zu verbieten. Am 17. Februar wies Göring die preußische Polizei an, „die nationale Propaganda mit allen Kräften zu unterstützen“ und, „wenn nötig, rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch zu machen“.[2] Fünf Tage später ordnete er zur angeblichen Bekämpfung „zunehmender Ausschreitungen von linksradikaler, insbesondere kommunistischer Seite“ die Aufstellung von 50.000 Hilfspolizisten an, die aus SA und SS rekrutiert wurden. Die nationalsozialistischen Gewaltmilizen, die wenige Wochen zuvor noch von der preußischen Polizei als Straftäter verfolgt worden waren, wurden nun offiziell mit Schusswaffen ausgerüstet und konnten als legale Organe des staatlichen Gewaltmonopols ihre politischen Gegner bedrohen und verhaften.

Schließlich setzte die Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar wesentliche Grundrechte der Verfassung außer Kraft, verschärfte das Strafmaß und stattete die Polizei mit umfassender Verfolgungsmacht aus, ohne dass von rechtskonservativer Seite eine rechtsstaatliche Einhegung des Ausnahmezustandes gefordert worden wäre. Himmler errichtete im März 1933 das erste Konzentrationslager in Dachau, ein nicht legaler Ort des Terrors – ohne Widerspruch der bayrischen Justiz, die darauf hätte beharren können, dass sie für Strafverfolgung und Haft zuständig sei.

Noch ganz im Bann des Reichstagsbrandes stimmte eine Zweidrittelmehrheit des Reichstages einschließlich der Abgeordneten des katholischen Zentrums und der verbliebenen liberalen Parlamentarier, darunter der spätere Bundespräsident Theodor Heuß, am 23. März für das Ermächtigungsgesetz. Das Gesetz verlieh der Regierung zunächst für vier Jahre das Recht, eigenmächtig Gesetze, sogar verfassungsändernde, zu erlassen, soweit sie nicht die Stellung des Parlaments, der Ländervertretung oder des Reichspräsidenten betrafen. Neben dem irreführenden Versprechen Hitlers, die Rechte der katholischen Kirche auf ungestörte Religionsausübung und eigenständige Schulen nicht anzutasten, schien der Reichstagsbrand die angebliche kommunistische Bedrohung und damit die Notwendigkeit eines autoritären Staates zu bestätigen, der hart gegen linke Umsturzabsichten durchgreifen müsse. Gegen die Stimmen der sozialdemokratischen Abgeordneten beschloss der Reichstag somit seine eigene Entmachtung.

Die Bedeutung des Ermächtigungsgesetzes kann kaum überschätzt werden, denn mit ihm wurde nicht nur die verfassungsmäßige Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive zerstört, sondern es verlieh den Gesetzen der Hitler-Regierung Legalität und Legitimation, die für die Fügsamkeit der Verwaltung unerlässlich waren. Die Beamten führten in ihrer Perspektive keine Willkürmaßnahmen der Regierung aus, selbst wenn sie vom Rechtsstaat abwichen, sondern legitime Gesetze, die sie in konkretes staatliches Handeln umzusetzen hatten. Mit dem Ermächtigungsgesetz stand der NS-Regierung der gesamte staatliche Apparat gehorsam zur Verfügung, zumal auch die Gerichte an die Gesetze gebunden waren und es damals noch kein Oberstes Verfassungsgericht gab, das hätte angerufen werden können.

Mit dem Gleichschaltungsgesetz vom 31. März wurden Landtage, Bürgerschaften und kommunale Parlamente aufgelöst und nach den regionalen bzw. lokalen Stimmenverhältnissen der Reichstagswahl vom 5. März neu zusammengesetzt. Die kommunistischen Stimmen durften dabei nicht gezählt werden, die sozialdemokratischen Sitze wurden einbehalten, so dass schließlich nur noch nationalsozialistisch dominierte Einheitsorgane übrigblieben.
Die Legislative als Vertretung der Wählerinnen und Wähler existierte nicht mehr.

 

3. Politik der Gewalt

Gewalt war den Nationalsozialisten nicht bloßes Mittel der Politik, sie war – wie in den übrigen faschistischen Bewegungen Europas auch - von Anfang an Politik. Wobei das Ziel eindeutig war: Es ging um die Zerstörung der demokratischen Verfassungsordnung und den Sturz der Republik. Das Dilemma der Weimarer Republik bestand darin, dass sie sich weder der Loyalität ihrer Bürger sicher sein konnte noch die des Militärs besaß, um der gewalttätigen Herausforderung Herr zu werden. So reichten etwa die Polizeikräfte nicht aus, um die gewalttätigen Saal- und Straßenschlachten zu unterbinden, und die politische Führung in Berlin scheute sich, die Bildung bewaffneter Milizen zu verbieten. Jede Straßenschlacht zwischen rechten und linken Milizen erschütterte indes das Vertrauen in die Fähigkeit der Republik, Recht und Sicherheit zu schützen und das Gewaltmonopol des Staates zu verteidigen.

Anfang 1933 waren 400.000 Mann in der SA organisiert, viermal so viel wie in der Reichswehr – ein gewalttätiges Potential, das systematisch eingesetzt wurde, um durch physischen Terror die Opposition einzuschüchtern und zu zerschlagen. SA- und SS-Leute drangsalierten und verhafteten bereits im Wahlkampf als von Göring eingesetzte Hilfspolizisten, Kommunisten und Sozialdemokraten. Noch in der Nacht des Reichstagsbrandes am 27. Februar begannen die Verhaftungen nach vorbereiteten Listen. Tausende wurden von der SA verschleppt, in Gefängnisse, Kasernen, Lagerhallen oder auch SA-Lokale gebracht, dort misshandelt, gefoltert, getötet. Der Erfolg bei den Reichstagswahlen Anfang März potenzierte die Gewalt. Auf dem Berliner Kurfürstendamm kam es einen Tag nach der Reichstagswahl zu antijüdischen Ausschreitungen, die sich in blutige Verfolgungsjagden steigerten. Der Deutschlandkorrespondent des Manchester Guardian berichtete am 10. März: „Viele Juden wurden von den Braunhemden geschlagen, bis ihnen das Blut über Kopf und Gesicht strömte. Viele brachen ohnmächtig zusammen und wurden in den Straßen liegen gelassen, bis sie von Freunden oder Passanten aufgehoben und ins Krankenhaus gebracht wurden.“ In Breslau überfielen SA-Trupps das Amts- und Landgerichtsgebäude, um die jüdischen Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter zu vertreiben, ebenso wie in Berlin und anderen Städten. Sozialdemokratische Funktionäre wurden öffentlich gedemütigt, Gewerkschaftsbüros überfallen; ganze Stadtviertel, die als „rot“ galten, wurden abgesperrt und Razzien durchgeführt. Im Ruhrgebiet waren in manchen Orten bis zur Hälfte der KPD-Mitglieder verhaftet worden.

Mit Gewalt drohte die SA nach der Reichstagswahl in Ländern und Gemeinden und forderte die politische Macht - und bot damit dem nationalsozialistischen Reichsinnenminister Frick den bereits kalkulierten Anlass, auf der Grundlage der Reichstagsbrandverordnung nationalsozialistische Kommissare einzusetzen, damit wieder „Ruhe und Ordnung“ einkehren könne. Landesregierungen und Bürgermeister fügten sich, ohne den Machtkampf zu wagen und mit dem Einsatz der Polizei die Regierungsgebäude und Rathäuser gegen die SA zu schützen.

Die terroristische Gewalt gegen die Linke sollte jedweden Widerstand brechen und allen Hitler-Gegnern zeigen, dass das neue Regime keine Opposition dulden würde. Die KPD-Führung empfahl das Abtauchen in den Untergrund; die Parteispitze der Sozialdemokraten gestand das Scheitern eines Massenprotestes ein und hoffte auf ein Abflauen der revolutionären Gewalt; die Gewerkschaften passten sich den neuen Verhältnissen an und bemühten sich um ein Arrangement mit den nationalsozialistischen Machthabern. Zwar veröffentlichten Hitler und die NSDAP-Führung Aufrufe zur Disziplin, die exzessive, kaum kontrollierbare und illegale SA-Gewalt jedoch war kalkulierter Bestandteil der Machteroberungspolitik.

 

4. Politische Mobilisierung

Die Reichstagswahl 1933 setzte die politische Mobilisierung fort, die bereits das Wahljahr 1932 bestimmt hatte, indem der Reichspräsident in zwei Wahlgängen im März und April, der Reichstag im Juli sowie im November, in mehreren Ländern wie Bayern, Hessen oder Preußen neu gewählt worden waren. Unmittelbar nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler fanden nicht nur in Berlin, sondern überall im Deutschen Reich Fackelzüge der örtlichen NSDAP- wie SA-Gruppen und anderer nationaler Verbände statt.

Im März begannen auch Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte, häufig begleitet von gewalttätigen Ausschreitungen. Die NS-Führung bemühte sich, die lokalen Aktionen unter Kontrolle zu bekommen, aber der Druck von unten hielt an. Die Parteispitze entschloss sich daher Ende März, einen reichsweiten Boykott zu organisieren, angeblich um die ausländische Gräuelpropaganda, vor allem in den USA, gegen die Judenverfolgungen in Deutschland zurückzuweisen. Überall in Deutschland standen am 1. April SA- und SS-Posten vor Geschäften mit jüdischen Inhabern, die angesichts der Drohungen ihre Läden zumeist geschlossen hatten. Obwohl die Regimeführung immer wieder betonte, dass die Boykottaktion mit Ruhe und Disziplin vonstattengegangen sei, brach die Gewalt an etlichen Orten auf.

Mit rasanter Dynamik und einem geschickten Spiel aus Gemeinschaftsversprechen, Inklusionsangeboten und symbolischer Politik auf der einen sowie radikaler Exklusion, Terror und Verfolgung auf der anderen Seite versuchte die NS-Führung, eine Mehrheit der Bevölkerung für sich zu gewinnen und Zugehörigkeiten wie Grenzen der „Volksgemeinschaft“ zu bestimmen. So zelebrierte das Regime unter der Regie von Joseph Goebbels die Eröffnung des neuen Reichstages am 21. März in der Potsdamer Garnisonskirche als nationale Einigung mit Festgottesdienst, Salutschüssen und Aufmarsch von Reichswehr, SA und SS. Das Bild der ehrerbietigen Verbeugung des Kanzlers vor dem greisen Reichspräsidenten, der Verbindung von alter und neuer Rechten bildete den ikonologischen Höhepunkt der Inszenierung. Überall im Reich forderten die lokalen NSDAP-Gruppen die Bevölkerung erfolgreich auf, am 21. März die Häuser zu beflaggen, um so öffentlich ihre Loyalität zum „nationalen Aufbruch“ zu demonstrieren. Keineswegs musste es eine Hakenkreuzfahne sein, vielfach wurden die alten Reichsfarben schwarz-weiß-rot geflaggt. Aber es fielen bereits diejenigen auf, die keine Fahne heraushängten.

Am selben Tag verkündete die Regierung sowohl eine Amnestie für Straftaten, die „im Kampfe für die nationale Erhebung des Deutschen Volkes“ begangen worden waren, als auch eine Verordnung zur „Abwehr heimtückischer Angriffe“, mit der jedwede Kritik an der Regierung mit Gefängnis bestraft werden konnte. Spezielle Sondergerichte wurden geschaffen, um „Heimtücke“-Fälle abzuurteilen.

Der 1. Mai 1933 sollte nach dem Willen der NS-Führung zu einer großen, reichsweiten und nachhaltigen Manifestation eines Verständnisses von Arbeit als Dienst an der Volksgemeinschaft, jenseits klassenkämpferischer Interessenvertretung, und der Integration der Arbeiterschaft in den Nationalsozialismus werden. Es war die Hitler-Regierung, die als erste deutsche Regierung den 1. Mai, den „Kampftag der Arbeiterklasse“, in einen „Tag der nationalen Arbeit“ umdefinierte und zugleich diesen Tag zu einem staatlichen Feiertag erhob. „Ehret die Arbeit und achtet den Arbeiter!“ war das offizielle Motto dieses 1. Mai 1933. Überall im Reich wurden die Gewerkschaftshäuser mit schwarz-weiß-roten Fahnen geschmückt. Auf dem Berliner Tempelhofer Feld fand eine riesige Massenkundgebung statt, zu der zahlreiche Belegschaften Berliner Betriebe geschlossen aufmarschierten. Die Reden von Joseph Goebbels und Hitler wurden im Rundfunk gesendet und in vielen Orten des Reiches auf öffentlichen Plätzen durch Lautsprecher übertragen – eine der ersten Erfahrungen medialer Simultanität in Deutschland.

Am darauf folgenden Tag, dem 2. Mai 1933, besetzten SA-Stürme die Gewerkschaftshäuser, verhafteten Funktionäre und beschlagnahmten Gewerkschaftseigentum. An die Stelle der freien Gewerkschaften trat die Deutsche Arbeitsfront, die Tarifautonomie wurde aufgehoben, sogenannte Treuhänder der Arbeit regelten nun Lohn- und Arbeitsbedingungen. Dem gewaltsamen Überfall der Gewerkschaften durch die SA ging kein Gesetz voraus; er war nicht Gegenstand der Tagesordnung im Kabinett, sondern wurde von der NS-Führung ohne Absprache mit den politischen Verbündeten angeordnet. Nicht die Polizei verhaftete Gewerkschaftsfunktionäre und beschlagnahmte das Eigentum der Gewerkschaften, sondern die SA. Die Zerschlagung der freien Gewerkschaften offenbarte, wie sicher sich die nationalsozialistische Führung mittlerweile fühlte und der staatlichen Camouflage exekutiver Macht nicht mehr bedurfte.

Ohne die aktive Beteiligung großer Teile der Bevölkerung hätte die nationalsozialistische Revolution 1933 nicht diese nachhaltige Transformation von Staat und Gesellschaft erzielen können. Zahlreiche Vereine schlossen ihre jüdischen Mitglieder aus, ohne dass sie dazu eigens aufgefordert worden wären. Deutsche Studenten verbrannten öffentlich Bücher und zerstörten damit bewusst wissenschaftliche wie geistige Überlieferungen. Pfarrer, Lehrer, Schriftsteller stellten sich in den Dienst der „nationalen Revolution“, begeisterten sich für den empfundenen Aufbruch und ließen es zu, dass der Rechtsstaat, bürgerliche Freiheiten wie staatlicher Schutz zurückgedrängt und untergraben wurden. Die Angst vor der Gewalt, vor willkürlicher Verhaftung, Misshandlung und Konzentrationslager ließ den Protest verstummen. Diejenigen, die sich nun als Teil der „Volksgemeinschaft“ verstanden, glaubten, endlich zu den Siegern der Geschichte zu gehören. Andere bemühten sich, schnell ihr Fähnchen nach dem neuen Wind zu drehen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Hunderttausende drängte es im Frühjahr 1933 in die NSDAP, so dass diese im Mai einen Aufnahmestopp verhängte, um nicht völlig überrollt zu werden. „Was macht eine Demokratie, wenn eine Mehrheit des Volkes sie nicht mehr will?“, kommentierte Sebastian Haffner im Rückblick 1939 im englischen Exil.

 

 

 

 

 

 

[1] Ministerbesprechung vom 31. Januar 1933, in: Akten der Reichskanzlei. Die Regierung Hitler, Teil I: 1933/34, Band 1, bearbeitet von Karl-Heinz Minuth, Boppard am Rhein 1983, S. 5-8, Zitat S. 6.
[2] Ministerialblatt für die preußische innere Verwaltung, Teil I, Ausgabe A, 94 (1933), S. 169; vgl. Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1969, S. 93.

 

 

 

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