von Dennis Krause

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1. Juli 2015

„Der historische Ort, in dem auch nach 40 Jahren diese Debatte stattfindet, bleibt auch in diesem Jahr, 1988, Auschwitz. Zwischen Juden und Deutschen gibt es für alle Zeiten keine einfachen Wahrheiten.“

(Otto Schily)

 

Zwei Stunden nahmen sich die Parteien des deutschen Bundestages am 11. März 1988, um über die sich zuspitzende Situation im Nahen Osten zu debattieren. Dabei legten sie ein besonderes Augenmerk auf die 1987 begonnene palästinensische Intifada und die darauf folgenden Reaktionen Israels. Diese hoben die Palästina-Frage schlagartig „wieder ins Rampenlicht der globalpolitischen Bühne“.[1] Doch rückte nicht nur der Konflikt in den Blickpunkt – vielmehr gaben die politischen, medialen und gesellschaftlichen Reaktionen auf die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten auch Anlass zu einer „Aussprache“, wie die Debatte vom Präsidium des Deutschen Bundestags überschrieben wurde. Diese Debatte bildete einen scharfen Kontrast zum Alltag der Parlamentarier. Mit Spannung und Unbehagen zugleich erwartete das Plenum die Redebeiträge ihrer Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen. Was folgte, war eine emotionsgeladene und mitreißende „Debatte unter deutscher Last“, wie die Tageszeitung einen Tag später prägnant und kurz titeln sollte.[2]

Die 69. Sitzung des Deutschen Bundestages der 11. Legislaturperiode (seit 1982 unter der Führung der konservativ-liberalen Regierung Helmut Kohls), nimmt retrospektiv nicht nur aufgrund der besonders emotional geführten Debatte einen exponierten Status im Jahr 1988 ein. Sie repräsentiert zugleich auch einen doppelten Bruch, sowohl in der inhaltlichen Auseinandersetzung als auch in Sichtweise und Semantik der westdeutschen Außenpolitik gegenüber den Interessengruppen des Nahen Ostens. Wie emotional und persönlich diese Debatte für alle Anwesenden war, zeigte sich in ihrem Ablauf immer wieder – so etwa am tränenreichen Abgang des Bundestagmitglieds Norbert Gansel (SPD) im Anschluss an seinen Redebeitrag oder aber im vorzeitigen Abbruch der Rede Otto Schilys, damals noch bei den Grünen. „Beim Thema Israel versagte Schily im Bundestag die Stimme“, stand denn auch am folgenden Tag in großen Lettern auf der Titelseite der Frankfurter Rundschau.[3] Warum die Debatte keine gewöhnliche unter vielen ist, verdeutlichte der Abgeordnete Gansel schon gleich zu Beginn seiner Rede, erkannte er doch in der Aussprache über die Lage im Nahen Osten auch noch eine zweite, tieferliegende Ebene: Schließlich sei eine solche Aussprache in einem deutschen Parlament „unvermeidlich auch eine [...] über uns selbst“.[4]

Die massiven militärischen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern auf der einen und den israelischen Soldaten auf der anderen Seite zwangen auch die Bundesrepublik zu einer Positionierung. Dabei stellten der militärische Konflikt und die damit einhergehenden menschlichen und moralischen Grauen allein noch keinen wesentlichen Unterschied zu den vorangegangenen Auseinandersetzungen dar. Vielmehr war es die bundesrepublikanische Sichtweise auf die Position der Palästinenser, die sich einhergehend mit den Protesten gegen die inhumanen Lebensbedingungen im Gaza-Streifen und der Westbank änderte. Nun waren es nicht mehr extern agierende Organisationen wie die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) als Vertreter der vertriebenen Palästinenser, die den Kampf gegen den Staat Israel führten, sondern die Bürger in den von Israel besetzten Gebieten, die handelten. Dies berücksichtigend sprach der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) in seiner Rede auch nicht von terroristischen Gewaltakten, sondern von einer „Bürgererhebung“, von einem „Aufbegehren einer Bevölkerung, deren Jugend vor allem die Hoffnung zu verlieren droht“.[5]

Die sprachliche Verschiebung bedeutet insofern einen Einschnitt, als sich die Bundesrepublik damit nicht mehr wie bislang allein zum völkerrechtlichen Status der Palästinenser äußerte, sondern zugleich auch deren Lebensbedingungen in den Mittelpunkt der Diskussion rückte – und derart explizit Kritik an Israel übte. Gleich zu Beginn der Debatte erklärte der erste Redner, Hans Stercken (CDU), damals Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, dass die Zeiten, in denen Israel einen Existenzkampf zu führen hatte, nun beendet seien. Folglich müsse sich deshalb der Blick auf eine „menschliche und gerechte Lösung für das Schicksal all derer richten, die endlich aus den öden, kollektiven und inhumanen Lebens- und Herrschaftsformen befreit werden“ müssten.[6] Gerade in Bezug auf den deutlich negativ konnotierten Begriff der „Herrschaft“ über die Palästinenser, stellt diese Aussage eine richtungsweisende Veränderung im Umgang mit der Politik Israels dar. Auch sein Nachredner Norbert Gansel, wie Stercken ebenfalls Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, richtete in ungewohnter Schärfe einen Appell an die israelische Politik. Dabei erinnerte er, Theodor Herzl zitierend, an ihre eigene Geschichte: „Wir sind ein Volk, der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, wie das immer in der Geschichte so war.“ Und weiter: „In der Bedrängnis stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft.“ Damit warf er die Frage auf, ob die Israelis in diesem Zitat nicht heute auch das Werden einer palästinensischen Nation erkennen würden.[7] Diese Argumentation lässt unberücksichtigt, was Israels restriktives Vorgehen gegen die palästinensischen Bemühungen um einen eigenständigen und souveränen Staat motivierte, sah doch die jüdische Bevölkerung gerade aufgrund ihrer Vergangenheit ihre eigene Existenz durch einen solchen Staat Palästina bedroht.
Allerdings darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Gansel vorher ausführlich und eindrücklich an die Verbrechen des Nationalsozialismus und die damit verbundene deutsche Verantwortung erinnerte.[8] „Historische Kausalität“ aber, führte er im nächsten Abschnitt an, „nimmt uns [...] nicht die politische Entscheidungsfreiheit.“[9] Im Gegenteil:

„Nein, wir alle können der Entscheidung für eine selbstverantwortete Politik nicht entgehen. Ich bin überzeugt, daß Geschichte einen Sinn haben könnte, hielte sie Vergebung für die Deutschen bereit, so weit, wie sie zu einem sicheren Überleben und zu einem friedlichen Nebeneinander von Israelis und Palästinensern beitragen könnten. Es liegt an uns, der Geschichte diesen Sinn zu geben, auch indem wir es versuchen.“[10]

In diesem Sinne forderte er im Folgenden beide Parteien des Nahost-Konflikts dazu auf, politische Lösungen zu suchen. Dieser von Gansel formulierte direkte Appell an das israelische Parlament – wie auch die später noch zu erläuternde ambivalente Haltung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Israel und den palästinensischen Bestrebungen – stellte ein Novum in der politischen wie diplomatischen Rhetorik gegenüber Israel dar.

Simultan dazu lässt sich die Debatte auch als Reaktion auf antisemitische Tendenzen in der Medienlandschaft und Gesellschaft lesen. Im Zuge der Verschärfung des Konflikts und insbesondere unter dem Eindruck der Bilder leidender und getöteter Palästinenser – vor allem auch Kinder – veränderte sich die Wahrnehmung Israels und seiner Bürger in zweierlei Hinsicht. Um diesen Wahrnehmungswandel fassbar zu machen, müssen wir zunächst tiefer in die Geschichte zurückgehen: Nur wenige Tage nach der Proklamation eines souveränen und selbstbestimmten demokratischen Staates Israel und der folgenden Anerkennung durch große Teile der Staatengemeinschaft am 14. Mai 1948 sah sich Israel massiven militärischen Angriffen durch seine Nachbarstaaten ausgesetzt. Zwar konnte sich das kleine Land, nicht größer als Hessen, in diesem Verteidigungskrieg erfolgreich behaupten und sogar 20 % Landgewinn verzeichnen, doch endete damit noch keineswegs die Bedrohung von außen. Die Zerschlagung des Staates Israels blieb auch nach dem Ende des Ersten Arabisch-Israelischen Krieges das erklärte Ziel seiner Gegner. Auf diese Zeit geht die Allegorie Israels als David zurück, der sich mit einem zahlenmäßig überlegenen Feind konfrontiert sieht.
Nun, im Jahre 1988 jedoch, wandelte sich dieses Bild. Israel wurde in der breiten Öffentlichkeit selbst als Goliath wahrgenommen, der eine Bedrohung für die Palästinenser darstellte. Dies wird beispielsweise in einem Artikel des Spiegel vom Dezember 1988 offenbar, in dem gegenüber dem israelischen Militär Vorwürfe erhoben werden, seine Soldaten schössen ohne ersichtlichen Grund, kaltblütig und hinterhältig auf unschuldige palästinensische Kinder:

„Hin und wieder schoss die Armee, als wolle sie etwas Abwechslung ins Spiel bringen, an den Kindern vorbei, statt direkt auf sie zu zielen. Damit löste sie Panik aus; die Kinder flohen. In ihrer Angst kletterten sie Mauern hoch, um den Soldaten zu entkommen. Die schossen dann erneut und zwangen die Kinder so, von der Mauer herunter zu springen. Dabei brachen sie sich oft Beine und Füße.“[11]

In der Berichterstattung der führenden deutschen Printmedien war das Bild Israels als Aggressor und Kriegstreiber allgegenwärtig. Insbesondere der Spiegel war „(...) als meistzitiertes Medium erwiesenermaßen der wichtigste Meinungsführer und Themensetzer in der deutschen Presse- und Rundfunklandschaft (...)“.[12] Das Blatt zeigte sich nicht nur israelkritisch, sondern bewegte sich an den Grenzen zum Antisemitismus.[13] Die Hintergründe der militärischen Auseinandersetzungen wurden systematisch verschwiegen, äußere Bedrohungen, denen sich der Staat Israel ausgesetzt sah, nicht angeführt. Zusätzlich wurden nahezu in jedem Artikel alte Ressentiments über „die Juden“ bemüht. In seiner Untersuchung der Spiegel-Berichterstattung über Israel kommt Rolf Behrens zu dem Ergebnis, dass israelkritische Stereotype die Berichterstattung dominiert hätten. Kaum ein Text wäre ohne bewertende Kommentare, die den vorgefassten Meinungen von Journalisten und Lesern entsprächen, ausgekommen.[14] Dadurch verfestigte sich das Bild Israels als kriegstreibender Aggressor.

Selbst die Bundestagsdebatte, in der die Solidaritätsbekundungen mit Israel überwogen, wurde medial umgedeutet. Wer einen Tag später beispielsweise die Titelseite der Süddeutschen Zeitung studierte, musste schon nach der Lektüre der Schlagzeile „Genscher verurteilt Vorgehen der Israeli[s]“[15] ein völlig anderes Bild vom Verlauf der Debatte gewinnen. Umso bemerkenswerter ist, dass tags zuvor fast alle Rednerinnen und Redner auf die einseitige Berichterstattung der Medien hingewiesen hatten. Insbesondere Sissy Geiger (CDU) verurteilte diese Praxis scharf und führte dazu auch konkrete Beispiele an. Dass Israel die Berichterstattung in den besetzten Gebieten nicht zu behindern versuche, sondern sich tagtäglich mit den Bildern auseinandersetze, spreche gerade für den am medialen Pranger stehenden Staat:

„Wo sonst geschieht dies auf der Welt, wo Bevölkerungsgruppen gegen eine Staatsgewalt aufbegehren?“[16]

Auch die SPD-Abgeordnete Edelgard Bulmahn, die nach ihrem Abitur für ein Jahr in Israel im Kibbuz Bror Chail gelebt und somit eine enge Bindung zu Land und Bevölkerung hatte,[17] widersprach in ihrer Rede Jürgen Möllemann (FDP) ebenso emotional wie energisch. Der damalige Minister für Bildung und Wissenschaft hatte vom Bild der „Opfer der Opfer“ gesprochen:

„Es ist gespenstisch, wenn Herr Möllemann erklärt, Israels Ministerpräsident Schamir setze offenbar kühl darauf, daß vor dem Hintergrund des ungeheuerlichen Völkermordes an den Juden während der Naziherrschaft kaum jemand bereit sei, die derzeitige Politik Israels zu kritisieren. Diese einseitige Verurteilung Israels,zudem noch verbunden mit Drohungen durch deutsche Politiker, gibt nur jenen Alt- und Neunazis Auftrieb, die dankbar jede Gelegenheit ergreifen, die Verbrechen der NS-Zeit zu relativieren und zu verharmlosen und sie gegen andere Verbrechen aufzurechnen.“[18]

Auch ihr Parteikollege Norbert Gansel hatte schon zuvor auf die Worte des FDP-Politikers Bezug genommen und diese als „unerträgliche Gleichsetzung von Nazi-Deutschland mit Israel, also von Tätern und Opfern“, verurteilt.[19] Gansel war es auch, der die sich verschärfende mediale, gesellschaftliche und politische Kritik an Israel anhand eines Zitats des Theologen Helmut Gollwitzer in einer bedenklichen Ecke verortet hatte:

„Wo jüdisches Unrecht größer gemalt wird und mit strengeren Maßstäben gemessen wird, als Unrecht anderswo, da regt sich Antisemitismus in moralischer Tarnung.“

Wer vor der Debatte allerdings befürchtet hatte, es könne eine von der medialen Berichterstattung beeinflusste einseitige Schuldzuweisung an Israel formuliert werden, ja einzelne Redner könnten sich auf Entlastungssuche begeben, wurde schnell eines Besseren belehrt: Kein Redner und keine Rednerin vergaß, die historische Schuld und das unsagbare Verbrechen am jüdischen Volk mit der damit verbundenen deutschen Sonderstellung zu erwähnen. So beschrieb Gansel das Verhältnis der Deutschen zur Shoa – inklusive derer, die ihres Alters wegen die Kollektivschuld der deutschen Bevölkerung nicht mehr tragen könnten – in klaren Worten:

„Aber ich kann doch die Haftung für die Taten der Generation meiner Eltern nicht von mir weisen und die Scham für die historischen Untaten meines Volkes nicht abstreifen. […] Es gibt nicht die Gnade der späten Geburt, und eine Arroganz der Spätgeborenen darf es nicht geben.“[20]

In direktem Bezug dazu führte er weiter aus, die Palästinenser seien durch die Staatsgründung Israels Opfer anhaltend wirkender Untaten der Deutschen an den Juden: „Die Kausalkette, die die Nazis in Gang gesetzt hatten, reicht eben von Polen bis Palästina, von 1933 bis 1988 und weiter.“[21] Diesen Gedanken formulierte auch Otto Schily in Bezug auf Möllemanns Worte, wenngleich noch deutlich prägnanter:

„Ich habe mit eigenen Ohren unlängst die Äußerungen eines Deutschen gehört, der seinen Abscheu vor den Brutalitäten der Israelis gegenüber den Palästinensern zum Ausdruck brachte. Im gleichen Atemzug entrüstete er sich darüber, daß die Juden den Deutschen immer noch die alten Geschichten vorhalten. Seine auftrumpfende Logik war: Wir sind quitt! Das Blut lässt sich aber nicht abwaschen.“[22]

Der Verlauf der Bundestagsdebatte benannte das menschliche Leiden auf beiden Seiten der Konfliktparteien ebenso wie die historische Verantwortung der Bundesrepublik für Israel. Eine zusätzliche, jedoch völlig andere Dimension in der Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser lässt sich anhand des Redebeitrags von Sissy Geiger aufzeigen:

„Auf Grundlage dieser Leitlinien [der Einstellung der Gewalt auf beiden Seiten, D.K.] tritt die Bundesrepublik Deutschland seit Jahren für Frieden und Stabilität in der für uns politisch, strategisch und wirtschaftlich so wichtigen Region ein.“[23]

Auch wenn keinem der Redner und keiner der Rednerinnen unterstellt werden sollte, mit seiner Rede wirtschaftspolitische Ziele zu verfolgen, kann dieser Aspekt doch nicht ignoriert werden. Schließlich führte nicht zuletzt der erste „Ölschock“ von 1973 zu einer Neuorientierung der bundesdeutschen Außenpolitik gegenüber den arabischen Staaten. Diese zunehmende „Ökonomisierung der Außenpolitik“, die stärkere Betonung wirtschaftspolitischer Themen des Handelspartners Bundesrepublik Deutschland, hatte erhebliche Konsequenzen für das Verhältnis zu Israel, schuf doch die Abhängigkeit vom Rohstoff Öl und die Sicherung arabischer Exportmärkte eine zunehmend pro-arabische Haltung.[24] Diese Entwicklung setzte bereits mit dem „Jom-Kippur-Krieg“ 1973 ein. Als Maxime der deutschen Außenpolitik im Besonderen und der europäischen im Allgemeinen hatte sie aus Angst vor einem Stopp der Ölzufuhr auch im Jahr 1988 ihre Gültigkeit und führte wiederholt zu politischen Zugeständnissen an die arabischen Staaten.

Die deutsche Außenpolitik befand sich somit in einer Zwickmühle zwischen einer sich aus der historischen Verantwortung gebietenden uneingeschränkten Solidarität mit Israel und Zugeständnissen an die Palästinenser, die auf humanitäre ebenso wie wirtschaftspolitische Gründe zurückzuführen waren. Der Politologe Kinan Jaeger spricht sogar von derart starken Ambivalenzen in der Behandlung der Palästinenser-Frage, wie sie nur selten in der bundesdeutschen Außenpolitik zum Tragen gekommen seien. So hätten „Widersprüche, Gegensätze, spitzfindige Verklausulierungen, unerwartete diplomatische Vorstöße und Rückzüge“ sowie „zwiespältige moralische Bekenntnisse, opportunistische Ansätze und vermeintliche Loyalitäten“ ihren Ausdruck im Hinblick auf die palästinensischen Forderungen nach Selbstbestimmung, Anerkennung der PLO und der Gründung eines souveränen „Staates Palästina“ gefunden.[25] Laut des ehemaligen israelischen Botschafters in Bonn, Shimon Stein, betrieb die Bundesrepublik Deutschland dieses Spiel, um eine „deklaratorische Ausgewogenheit“ aufrechtzuerhalten.[26] „Eine deutsche Nahostpolitik“, formulierte denn auch Norbert Gansel in der Bundestagsdebatte, „ist nicht aus Opportunismus, sondern aus Überzeugung eine Politik, die weder anti-israelisch noch anti-palästinensisch ist. Wir sind pro-israelisch und pro-palästinensisch.“[27] Allerdings sind solche Aussagen Shimon Stein zufolge nicht unproblematisch, sei doch die deutsche Nahostpolitik bis heute einem „Nullsummenspiel zum Opfer gefallen“, denn solange der arabische-israelische Konflikt nicht beigelegt werden könne, würden Schritte für die eine Seite unweigerlich als Schritte gegen die andere Seite interpretiert.[28]

In der Bundestagsdebatte vom 11. März 1988 ist dieses wirtschafts-, geschichts- und außenpolitische Dilemma in jedem Redebeitrag greifbar. Obgleich eine Lösung des Konflikts einem Großteil der bundesdeutschen Politiker als unmöglich erschien, schloss die uneingeschränkte Solidarität mit Israel Zugeständnisse an die Palästinenser unter der Führung der PLO und Arafats doch praktisch aus, versuchten sich die Redner dennoch an Lösungsvorschlägen. Hierbei setzten die Politiker die Priorität auf die beidseitige sofortige Einstellung der Gewalt, damit das Leid auf beiden Seiten endlich ein Ende habe. Entsprechend forderte der CDU-Abgeordnete Hans Stercken in seinem Schlussplädoyer „Achtung und Zusammenarbeit statt Haß und Krieg!“[29]

Die außenpolitische Befangenheit und Ambivalenz in Politik und Medien offenbarte sich schließlich nur wenige Wochen nach der Proklamation Palästinas, wenn auch an einem gänzlich anderen Ort: im Redebeitrag der Bundesrepublik Deutschland zur Debatte über die Anerkennung Palästinas in der UN-Generalversammlung am 15. Dezember 1988. Zuvor hatte die PLO unter Yassir Arafat in einem Akt der Verzweiflung, drohte doch die Intifada zu scheitern, am 15. November 1988 in Algier den „Staat Palästina“ proklamiert. Damit einher ging auch die Abkehr vom PLO-Programm von 1968, in dem der „Bewaffnete Kampf“ als einzige Strategie festgelegt war,[30] was einer indirekten Anerkennung des Existenzrechts Israels gleichkam. Dies bedeutete einen erheblichen Umbruch in der Politik der PLO. So eindeutig die Abstimmung innerhalb des Palästinensischen Nationalrats (PNC)[31] war, so heterogen fielen die Stimmen in den Kommentarspalten der deutschen Zeitungslandschaft am 17. November 1988 aus. Zudem präsentierten sich dem aufmerksamen Zeitungsleser auf allen Titelblättern renommierter Zeitungen Berichte mit unterschiedlicher Bewertung der Proklamation. So titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung „Zurückhaltung in Washington gegenüber Arafats Palästinenser-Staat“,[32] während die Süddeutsche Zeitung deutlich wertender und mit dem Fokus auf Israel formulierte: „Israel kündigt diplomatische Offensive nach Ausrufung eines Palästinenserstaates an“.[33] Ganz anders klang es dagegen bei der Frankfurter Rundschau: „PLO ruft Staat Palästina aus – Bonn uneins über Anerkennung/Supermächte zurückhaltend“.[34]
Auch wenn sich die Titel in Inhalt und Ton unterscheiden mögen, zeigt doch allein die Tatsache, dass es die Proklamation auf alle Titelseiten schaffte, den hohen Stellenwert, der diesem politischen Akt zugemessen wurde. Anders als die Titel vermuten lassen, fallen die zugehörigen Berichte neutral aus. Dort liegt der Fokus auf dem Inhalt der Proklamation und den internationalen Reaktionen. In den Kommentaren hingegen tritt sogar innerhalb ein und derselben Zeitung die Ambivalenz der Stimmung offen zu Tage. Beispielsweise fällt im Vergleich zum Titelbericht der Kommentar zur Proklamation in der Süddeutschen Zeitung wesentlich kritischer gegenüber der PLO und Arafat aus. So heißt es, die PLO habe noch nichts erreicht, in ihren Reihen herrsche Unzufriedenheit. Dabei geht der Kommentator Heiko Flottau auch auf die Divergenz von den tatsächlich in Gaza und im Westjordanland lebenden Palästinensern und den „hohe Gehälter beziehenden, in Villen residierenden, in Limousinen chauffierten Funktionären“ ein, gäben sich doch erstere keinesfalls mit der Proklamation und ihren Konsequenzen zufrieden.[35] Des Weiteren wird die Frage aufgeworfen, ob die PLO Israel wirklich anerkenne, ob ein demokratisches Palästina in der Arabischen Liga überhaupt Anerkennung finden würde, und ob es innerhalb der PLO tatsächlich einen Wandel gäbe, da sich in ihr nach wie vor überzeugte Terroristen versammeln würden.

Mitte Dezember 1988, nur einen Monat später, führte Alexander Graf York von Wartenburg auf der UN-Generalversammlung in Genf stellvertretend für die Bundesrepublik Deutschland in zu erwartender diplomatischer Manier aus:

„The developments we have witnessed in recent days are of great political importance for all endeavours to achieve peace in the Middle East. Like our partners in the European Community, we hope that a political solution will be promoted by those developments. Therefore, we voted for draft resolution A/43/L.53, which we see in the light of the Community’s Venice Declaration. A political solution will require negotiations within the framework of an international peace conference to be carried out by all the parties concerned with a sense of compromise.“[36]

Das Resultat der Abstimmung fiel wie prognostiziert eindeutig für die Anerkennung Palästinas aus. Im Rahmen dieser Abstimmung ebenfalls zu einer Positionierung gezwungen, wählte die Bundesrepublik – ganz im Gegensatz zur DDR, die die Proklamation entschieden befürwortete – den diplomatischen Mittelweg und enthielt sich.

 

[1]     Kinan Jaeger, „Der ,Staat Palästina‘: Herausforderung deutscher Außenpolitik“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2000), H. 49, S. 31–38.
[2]     Charlotte Wiedmann, „Debatte unter deutscher Last“, in: Die Tageszeitung, vom 12. März 1988, S. 1f.
[3]     Martin Walter, „Beim Thema Israel versagte Schily im Bundestag die Stimme“, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 61, vom 12. März 1988, S. 1.
[4]     Deutscher Bundestag, 11. März 1988, Norbert Gansel, 4669 (D).
[5]     Deutscher Bundestag, 11. März 1988, Hans Dietrich Genscher, 4675 (A).
[6]     Deutscher Bundestag, 11. März 1988, Dr. Hans Stercken, 4668 (D).
[7]     Deutscher Bundestag, 11. März 1988, Norbert Gansel, 4671 (D).
[8]     Deutscher Bundestag, 11. März 1988, Norbert Gansel, 4671 (A).
[9]     Deutscher Bundestag, 11. März 1988, Norbert Gansel, 4671 (B).          
[10]    Deutscher Bundestag, 11. März 1988, Norbert Gansel, 4671 (C).
[11]    „Die Kosten der Intifada“, in: Der Spiegel, Nr. 50, vom 12. Dezember 1988, S. 147–152, hier S. 148.
[12]    Vgl. Rolf Behrens, „,Sie schießen um zu töten.‘ Die Berichterstattung über Israel bedroht das ,besondere Verhältnis‘“, in: Klaus Faber/Julius H. Schoeps/Sacha Stawski (Hg.), Neu-alter Judenhass. Antisemitismus, arabisch-israelischer Konflikt und europäische Politik. Berlin 2006, S. 19-32, hier S. 19.
[13]    Hier und im Folgenden Rolf Behrens, „Raketen gegen Steinewerfer.“ Das Bild Israels im „Spiegel“. Eine Inhaltsanalyse der Berichterstattung über Intifada 1987–1992 und „Al-Aqsa-Intifada“ 2000–2002. Münster/Hamburg/London 2003.
[14]   Behrens, Sie schießen um zu töten (wie Anm. 12), S. 22.
[15]    „Genscher verurteilt Vorgehen der Israeli. Bürger-Erhebung in den besetzten Gebieten“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 60, vom 12. März 1988, S. 1.
[16]    Deutscher Bundestag, 11. März 1988, Sissy Geiger, 4679 (A).
[17]    Siehe dazu die Biographie von Edelgard Bulmahn auf den Seiten der SPD.
[18]    Vgl. Deutscher Bundestag, 11. März 1988, Edelgard Bulmahn, 4682 (B).
[19]    Hier und auch das folgende Zitat Deutscher Bundestag, 11. März 1988, Norbert Gansel, 4671 (A).
[20]    Ebd.
[21]    Ebd.
[22]    Deutscher Bundestag, 11. März 1988, Otto Schily, 4674 (C).
[23]    Deutscher Bundestag, 11. März 1988, Sissy Geiger, 4680 (A).
[24]    Grundsätzlich dazu Lars Colscher, Deutsche Außenpolitik. Paderborn 2010, S. 262.
[25]    Jaeger, Der „Staat Palästina“ (wie Anm. 1).
[26]    Shimon Stein, Israel, Deutschland und der Nahe Osten. Beziehungen zwischen Einzigartigkeit und Normalität. Göttingen 2011, S. 16.
[27]    Deutscher Bundestag, 11. März 1988, Norbert Gansel, 4671 (C).
[28]    Stein, Israel, Deutschland und der Nahe Osten (wie Anm. 26), S. 16.
[29]    Deutscher Bundestag, 11. März 1988, Dr. Hans Stercken, 4669 (C).
[30]    Helga Baumgarten, Kampf um Palästina – Was wollen Hamas und Fatah? Freiburg 2013, S. 80.
[31]    Palestinian National Council: Oberstes legislatives Organ der PLO. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass mit der neu gegründeten Hamas ein nicht geringer Teil der palästinensischen Gesellschaft, zugleich der radikalste Kritiker, die Proklamation entschieden ablehnte. Gerade die Zwei-Staaten-Lösung und die damit einhergehende Akzeptanz eines Staates Israel auf dem Boden des „historischen Palästinas“ wurden kategorisch abgelehnt. Vgl. Baumgarten, Kampf um Palästina (wie Anm. 30).
[32]    W.K. Amman, „Zurückhaltung in Washington gegenüber Arafats Palästinenser-Staat“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 268, vom 17. November 1988, S. 1.
[33]    „Israel kündigt diplomatische Offensive nach Ausrufung eines Palästinenserstaates an“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 265, vom 17. November 1988, S. 1.
[34]    „PLO ruft Staat Palästina aus – Bonn uneins über Anerkennung/Supermächte zurückhaltend“, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 268, vom 17. November 1988, S. 1.
[35]    Heiko Flottau, „Das Ende des Fäusteschwingens. Auch nach dem Erfolg von Algier lastet auf Arafat der Druck der Palästinenser-Rebellion“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 265, vom 17. November 1988, S. 3.
[36]    Protokoll der 82. Sitzung der 43. Generalversammlung der UN vom 15. Dezember 1988.