von Svenja Haberecht

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1. Mai 2011

Mit einer feierlichen Eröffnungszeremonie im Wobi-Stadion von Bobo-Dioulasso wurde am 22. März 2010 offiziell der Startschuss für das 50. Jubiläumsjahr der Unabhängigkeit Burkina Fasos gegeben. In seiner Eröffnungsrede erklärte Präsident Blaise Compaoré:

„Das Thema der Jubiläumsfeier "50 Jahre Nationsbildung: Erinnerung und Hoffnung" übersetzt den Willen unserer Nation, die Begeisterung aller Burkinabè, zu feiern, ihre Identität zu bestätigen und, in einem Kontext besonders anspruchsvoller Zwänge, die erforderlichen Bedingungen für das Wohl Aller zu schaffen. (…) Unsere Leidenschaft, eine freie und solidarische Nation zu erbauen, schöpft ihre Kraft aus dieser glorreichen Vergangenheit, die reich ist an Lehren. (…) Ich lade euch zu einer starken Mobilisierung für die kommenden 50 Jahre ein und begründe darauf die Hoffnung, dass diese Gedenkfeier ein historischer Moment der gemeinsamen Werte der Solidarität, Integrität und Gerechtigkeit sein möge und erkläre die Aktivitäten zum 50. Jubiläum der Unabhängigkeit von Burkina Faso für eröffnet.“ (Blaise Compaoré, 22.3.2010)

Die Tribünen des kleinen Stadions waren gefüllt mit politischen Ehrengästen, militärischen, religiösen und traditionellen Autoritäten sowie den Bewohnern von Bobo-Dioulasso, der ruhigen Regionalhauptstadt im Westen des Landes, die im Jubiläumsjahr 2010 zur Bühne für mannigfache Darbietungen nationaler Erinnerung und Zukunftsvisionen werden sollte. Das ganze Jahr stand in Burkina Faso im Zeichen des Cinquantenaire, des 50. Geburtstags der Unabhängigkeit von französischer Kolonialherrschaft, und seinem Motto „50 Jahre Nationsbildung: Erinnerung und Hoffnung“. Zahlreiche Aufführungen wurden geboten, bei denen die Geschichte der Nation erzählt, ihr kultureller Reichtum zur Schau gestellt, gemeinsamen Werten gehuldigt und eine strahlende Zukunft entworfen wurde. Zum Ende des Jahres, als 16 andere afrikanische Länder bereits ihr goldenes Jubiläum gefeiert hatten, stellte schließlich der Nationalfeiertag selbst am 11. Dezember 2010 den Höhepunkt des burkinischen Jubeljahres dar. Ingesamt sollte das Jubiläum den Anlass bieten, aus den Lehren der Vergangenheit einen Nutzen für die gemeinsame Zukunft in einer freien und solidarischen Nation zu ziehen. Die Regierung erklärte die Unabhängigkeitsfeier somit zugleich zu einem Moment der Reflexion, der stolzen Bilanzierung und des Aufbruchs.

Unabhängigkeitsfeiern sind bedeutende Momente im Prozess der Nationsbildung. Sie symbolisieren die „Geburt“ der Nation, einer vorgestellten Gemeinschaft (Anderson 1991), die auf gemeinsamen Institutionen und Infrastrukturen (wie Militär, Währung, Bildungs- und Gesundheitssystem) beruht, aber auch eine starke symbolische Dimension hat (Jansen und Borggräfe 2007). Unabhängigkeitszeremonien sind eindrucksvolle soziale Schauplätze der Erinnerung (Zerubavel 2003), an denen ein kollektives Gedächtnis und eine nationale Identität (re-)konstruiert werden (sollen). Als politische und soziale Konstrukte sind sowohl Erinnerung als auch Identität in komplexe, hierarchische und deshalb spannungsreiche Beziehungsgefüge eingebettet (Gillis 1994). Das Jubiläumsjahr war daher auch Anlass für kontroverse Aushandlungen über die Frage, was erinnert werden soll und welche Lehren für die Zukunft aus dem reichen Substrat der Vergangenheit gezogen werden sollen. Für die Regierung als Ausrichter der Feierlichkeiten stellte das Jubiläum dabei eine willkommene Plattform zur Inszenierung dar.

Im Folgenden möchte ich darstellen, wie die Geschichte der Nation auf der Bühne des burkinischen Jubiläumsjahres erzählt wird. Ich beschreibe, welche Nationalfiguren (Gründerväter, Märtyrer, Helden) Eingang finden in offizielle Erinnerungsaktivitäten, welche historischen Phasen als besonders erinnerungswert hervorgehoben und welche ausgelassen werden. Im Anschluss zeige ich auf, wie der amtierende Präsident Blaise Compaoré das Cinquantenaire als Bühne zur Inszenierung seiner Person und seiner Regierungspartei nutzt.

 

1. Die Regierung Compaoré erinnert sich

„Das 50. Jubiläum der Unabhängigkeit unseres Landes ist, wie das der Mehrheit der afrikanischen Staaten, eine Erinnerungspflicht, die uns zurückversetzt in die Zeit der heldenhaften Kämpfe unserer Vorfahren, welche uns Werte wie Opferbereitschaft, Mut und Integrität hinterlassen haben.“ (Blaise Compaoré, 22.3.2010)

Der ranghöchste offizielle Protagonist der Unabhängigkeitsfeierlichkeiten, Präsident Blaise Compaoré, erklärte diese in seiner Eröffnungsrede zu einer ‚Erinnerungspflicht’. Diese Pflicht wurde im offiziellen Programm des Cinquantenaire in eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Erinnerungsaktivitäten übersetzt. Zum einen wurden klassische nationalistische Feierformate gewählt wie die Ansprache des Präsidenten an die Nation, militärische Zeremonien mit der Zurschaustellung nationaler Symbole, ein Denkmal für das 50. Unabhängigkeitsjubiläum und die große Zivil- und Militärparade am Nationalfeiertag selbst. Zum anderen gab es aber auch ein buntes Rahmenprogramm, welches sich an verschiedene Gesellschaftsgruppen richtete und ganz eigene Formate für Erinnerung und Identitätsstiftung bereithielt. Hierzu zählten regionale Konferenzen, Sportwettkämpfe, Konzerte und Tanzaufführungen mit den jeweils passenden Bildprogrammen und ‚Gimmicks’.

Première Dame Chantal Compaoré beim LONAB-Konzert, 17.09.2010

Bei ihren Erinnerungsaktivitäten ging es der Regierung als Ausrichter der Feierlichkeiten jedoch nicht um eine möglichst exakte Rekonstruktion der gemeinsamen Vergangenheit. Zwar wurden die lehrreiche Geschichte, die tapferen Vorfahren und das reiche kulturelle Erbe der Burkinabè betont. Es wurde jedoch wenig Wert auf Kontinuität gelegt, ganze Phasen wurden ausgelassen, historische Bezüge blieben oftmals vage und geehrte Märtyrer anonym. Im Erklärungstext zu den Symbolen des Cinquantenaire-Denkmals in Bobo-Dioulasso heißt es zum Beispiel:

Die vier Pfeiler stehen für die Menschen, die aus allen vier Himmelsrichtungen des Landes gekommen sind und gekämpft haben, um uns die Unabhängigkeit zu schenken.

Ähnlich in der Begrüßungsrede am 11. Dezember 2010 zum großen Defilee: Der Kommentator bat zwar um eine Gedenkminute für die Opfer des heroischen Kampfes auf dem Weg in die Unabhängigkeit und zur geeinten Nation; konkrete Namen von Menschen oder Orten wurden dabei jedoch nicht genannt.

Warum blieb die Regierung so ungenau bei der Erinnerung der Geschichte anlässlich der Unabhängigkeitsfeier? Warum gab sie vorkolonialen Erinnerungen so wenig Raum? Warum feierte sie nicht namentlich die Vielzahl der Persönlichkeiten, die das Land zu dem gemacht haben, was es heute ist?

Zwei wesentliche erinnerungspolitische Herausforderungen stellten sich der Regierung Compaorés im Rahmen des goldenen Unabhängigkeitsjubiläums. Eine liegt in der fernen Vergangenheit begründet, die andere in der jüngeren Geschichte der unabhängigen Nation.

 

2. Le désir de vivre ensemble – drei Daten und drei Helden

Schaut man zurück in die ferne Vergangenheit des heutigen Burkina Fasos, findet man mehr Hindernisse als begünstigende Faktoren für die Herausbildung einer nationalen Identität. Vorkoloniale Zeiten bieten keinen geeigneten Referenzrahmen für ein national definiertes Gemeinschaftsgefühl, zu gespalten war das heutige Territorium von Burkina Faso in große Königreiche und kleinere politische Formationen. Dies erleichterte – erbitterter Widerstände zum Trotz – die Kolonialisierung durch Frankreich zum Ende des 19. Jahrhunderts. Während der Kolonialzeit erlebte das Land dann massive politische und gesellschaftliche Umwälzungen – in den heutigen Staatsgrenzen existierte es als eigene Kolonie nur zwischen 1919 und 1932. Danach wurde es aufgelöst und zwischen der Côte d‘Ivoire, Französisch-Sudan (heute Mali) und Niger aufgeteilt. 1947 wurde Obervolta wiederhergestellt und blieb Mitglied der Französischen Union bis zu seiner Unabhängigkeit (Englebert 1996).

Die Regierung begegnete dieser erinnerungspolitischen Herausforderung dadurch, dass sie bei ihrer offiziellen Erinnerung im Rahmen des Cinquantenaire den Schwerpunkt auf den Widerstand gegen die Kolonialisierung und den Unabhängigkeitskampf legte. In seiner Eröffnungsrede im März 2010 sagte Präsident Compaoré:

„In Burkina Faso waren die schweren Zeiten der Kolonialherrschaft, die unser Gesellschaftsleben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts umstürzten, der Treibstoff für die Entfaltung und den Aufstieg eines starken Nationalgefühls und eines Engagements für den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft.“ (Blaise Compaoré, 22.3.2010)

In den Hochglanzbroschüren, die bei der großen Zivil- und Militärparade am Unabhängigkeitstag an Presseleute und Ehrengäste verteilt wurden, beginnt die nationale Geschichtsschreibung mit dem Eintreffen der französischen Kolonisten. Im historischen Rückblick wird von Aufständen gegen militärische Rekrutierungen und Steuererhöhungen erzählt und es wird betont, dass der Widerstand während der gesamten Kolonialzeit anhielt und die traditionellen Eliten in der Opposition blieben. In dieser Zeit habe die nationalistische Bewegung ihren Aufschwung erfahren.

Auch in der Choreographie, die die große Zivil- und Militärparade am Unabhängigkeitstag eröffnete, wurden die gewaltsame Kolonialisierung und der erfolgreiche Widerstand der heroischen Vorfahren nachgestellt. Eine Gruppe traditionell gekleideter Tänzer und Musiker symbolisierte die friedliche vorkoloniale Zeit, die dann gewaltsam auseinandergetrieben wurde von senegalesischer Infanterie unter Führung eines weißen Kolonialbeamten. Das Herbeieilen der mutigen voltaischen Vorfahren zu Pferde – Symbol von Kraft und Kampfbereitschaft – markierte in dieser Bühnenaufführung schließlich den Weg zu Befreiung und Unabhängigkeit.

Choreographie zum Cinquantenaire, 11.12.2010 / Foto: Carola Lentz

In seiner Ansprache an die Nation am Vorabend der Nationalfeier nannte Präsident Compaoré drei Daten, die für die Herausbildung einer gemeinsamen Identität bedeutend seien:

„Das Jahr 1947, in dem die zuvor aufgelöste Kolonie nach dem Kampf der traditionellen Eliten wiederhergestellt wurde, den 11. Dezember 1958, Tag der Ausrufung der Republik, und den 5. August 1960, an dem das heutige Burkina Faso als Obervolta seine Unabhängigkeit erlangte. Diese geschichtlichen Ereignisse zeigten die Opferbereitschaft, den Mut und die Integrität der Vorfahren und machten den Weg frei für das Entstehen eines modernen Staates, der nachhaltigen wirtschaftlichen Aufstieg und Entwicklung anstrebe.“ (Blaise Compaoré, 10.12.2010)

Der Präsident ehrte in diesem Zusammenhang „die Söhne und Töchter, deren patriotischer Einsatz und politischer Kampf zur Wiederherstellung des nationalen Territoriums, zur Emanzipation unseres Volkes und zur Bestätigung unserer Identität“ geführt hätten. In diesem „Moment der Erinnerung“ sprach er eine namentliche Würdigung an drei Persönlichkeiten aus: Moogo Naaba Saaga II, Philippe Zinda Kaboré und Ouezzin Coulibaly. Neben diesen drei nationalen Helden würdigte Präsident Compaoré „alle Patrioten, deren politische Intelligenz und edle Bestimmung die nachfolgenden Generationen fortdauernd inspiriert und erhellt“ hätten (Blaise Compaoré, 10.12.2010).

Der Moogo Naaba Saaga II, Mossi-König vom 23. März 1942 bis zum 12. November 1957, hatte für die Wiederherstellung von Obervolta in seinen Grenzen von 1932 gekämpft. Der Politiker Philippe Zinda Kaboré war erster voltaischer Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung. Seine oberste Aufgabe war die Rekonstitution von Obervolta. Kaboré gilt als einer der ersten Helden im antikolonialen Kampf des heutigen Burkina Faso. Nur wenige Monate nach seinem plötzlichen Tod (er starb am 25. Mai 1947 im Alter von nur 27 Jahren in Abidjan auf dem Weg nach Paris, wo er eine wichtige Rede halten sollte) verabschiedete die Nationalversammlung am 4. September ein Gesetz zur Wiederherstellung von Obervolta. Daniel Ouezzin Coulibaly war Präsident des Regierungsrates Obervoltas vom 17. Juni 1957 bis zu seinem Tod am 7. September 1958 in Paris. Er wird von vielen als der eigentliche „Vater der Unabhängigkeit“ angesehen. Nachdem er verstarb, wurde Maurice Yaméogo zu seinem Nachfolger, rief am 5. August 1960 die Unabhängigkeit aus und wurde somit zum ersten Präsidenten des unabhängigen Obervoltas.

Das Jahr 1947 markierte in der offiziellen Erinnerung also den Ursprung für das Nationalgefühl der Burkinabè. Für die Zeit bis 1960 wurden vor allem drei Daten und drei Helden auf dem Weg in die Unabhängigkeit einer stolzen Nation erinnert. Doch wie steht es um die jüngere Geschichte des Landes? Dem Cinquantenaire-Motto zufolge sollten ja insbesondere die vergangenen 50 Jahre der Nationsbildung erinnert und reflektiert werden. Wie nahm die Regierung Compaoré sich dieser selbstgestellten Aufgabe an? Wer hat sich in ihren Augen nach 1960 besonders verdient gemacht um die Nationsbildung?

 

3. Der unbequeme Held der jungen Nation

Anders als in der Côte d’Ivoire, Madagaskar oder Nigeria fiel der 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Burkina Fasos 2010 nicht in eine politisch turbulente Zeit. Nachdem die ersten 27 Jahre der unabhängigen Nation geprägt waren von politischer Instabilität mit fünf Präsidenten, die allesamt durch Staatsstreiche an die Macht gekommen waren, ist der aktuelle Staatschef Blaise Compaoré seit seinem Putsch am 15. Oktober 1987, also seit bereits 23 Jahren, im Amt.

2010 war für Burkina Faso nicht nur das Jahr des Cinquantenaire, sondern auch der Präsidentschaftswahlen. Blaise Compaoré stellte sich zum dritten Mal zur Wiederwahl und brachte mit seiner Forderung nach Änderung des Artikels 37, der die Amtszeit des Präsidenten auf vier Mandate begrenzt, die Opposition in Empörung. Doch die politische Landschaft Burkina Fasos ist in viele kleine Oppositionsparteien zersplittert, sodass sich gegenüber Compaorés CDP (Congrès pour la démocratie et le progrès) kein nennenswertes politisches Gegengewicht herausbilden konnte. Daher legte die Regierung den Wahltermin auch nicht wie in Kamerun oder Nigeria nach den Unabhängigkeitstag, um durch eine pompöse Feier für das Volk ihre Chancen auf Wiederwahl zu verbessern, sondern beraumte die Wahlen ganz siegesgewiss für den 21. November an, also keine drei Wochen vor der großen Unabhängigkeitsfeier. So konnte Compaoré die Aktivitäten rund um das Cinquantenaire das ganze Jahr hindurch mit seiner Wahlpropaganda verknüpfen und sich schließlich auf dem Höhepunkt des Jubiläumsjahres, dem Nationalfeiertag am 11. Dezember, getreu seines Slogans „encore et toujours“ nach frisch erneuerter Bestätigung durch das Volk auch gegenüber den internationalen Ehrengästen als dauerhafte Führungspersönlichkeit des Landes feiern lassen. Vor diesem Hintergrund ist auch die offizielle Erinnerung an die vergangenen 50 Jahre Burkina Fasos zu verstehen. Sie war in gewisser Weise immer auch Teil der Imagepflege einer Regierungspartei, die sich und die Erfolge ihrer relativ langen und relativ stabilen Amtszeit nach innen wie auch für die internationale Bühne medienwirksam feierte.

Natürlich bestand das Publikum dieser Inszenierung nicht nur aus jubelnden Anhängern der Compaoré-Regierung, und natürlich war die Hauptbühne nicht der einzige Ort, an dem die nationale Geschichte und ihre Helden erinnert wurden. Zahlreiche Akteure aus der Opposition, der Zivilgesellschaft und der Medienlandschaft Burkina Fasos traten auf verschiedenen Nebenschauplätzen auf, erzählten ihre Versionen der Geschichte, gedachten „vergessener“ Helden und mahnten historische Missstände oder aktuelle Versäumnisse an.

Die Cinquantenaire-Ausgabe der privaten Tageszeitung L’Observateur Paalga (10.-12.12.2010)gab in der Titelgeschichte „50 ans, 50 événements“ die junge Vergangenheit der unabhängigen Nation in 50 Ereignissen wieder. Im Vergleich zu offiziellen geschichtlichen Narrativen war die alternative Erinnerungsarbeit des Observateur von hoher Dichte und kreativer Selektion. Die Zeitung berichtete von Verhaftungen Oppositioneller im Vorfeld der Unabhängigkeitserklärung 1960, vom als „Krieg der Armen“ bezeichneten Grenzkrieg, der 1974 zwischen Obervolta und Mali ausbrach, vom Großbrand im eigenen Archiv und politischen Hinrichtungen von Regimegegnern während der Revolution 1983-87, aber auch von besonders schweren Verkehrsunfällen, Hubschrauberabstürzen und Bränden in der Handelskammer – einen „Streifzug durch die Archive“ könnte man diese Form journalistischer Erinnerung nennen. Die Menschenrechtsorganisation MBDHP (Mouvement Burkinabè des Droits de l’Homme et des Peuples) organisierte eine Konferenz in der Hauptstadt, auf der sie die Menschenrechtsverletzungen der letzten 50 Jahre zum Thema machte. Anders als das – zum Ärger der MBDHP – häufig mit ihrer Organisation verwechselte Ministerium für Menschenrechte (Ministère de la Promotion des Droits Humaines, MPDH), welches lediglich der Form halber von der Regierung ins Leben gerufen worden sei, um sie zu stören (Interview mit einem Mitarbeiter), mache es sich die burkinische Nichtregierungsorganisation zur Aufgabe, politische Verbrechen der amtierenden Regierung öffentlich zu machen – eine Aufklärungsarbeit, bei der sich die Mitarbeiter nach eigenen Aussagen auch selbst in Gefahr brächten.

Der Gewerkschaftsbund CGT-B (Confédération Générale du Travail du Burkina) machte das Cinquantenaire zum Hauptthema seiner 6. Gewerkschaftsratssitzung im Oktober 2010. Einer der Redner, Generalsekretär des CGT-B/Hauts-Bassins, reflektierte die letzten 50 Jahre unter dem Thema „Das Gedenken zum 50. Jubiläum der formellen Unabhängigkeiten von 1960: Platz und Rolle der Gewerkschaftsbewegung im Kampf für die nationale und soziale Emanzipation der afrikanischen Völker: Der Fall Burkina Faso“. Seine Bilanz: Die wechselnden Regime der „rein formellen, nicht aber reellen Unabhängigkeit“ der Nation von 1960 bis heute seien gekennzeichnet gewesen von Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit bis hin zu Inhaftierung und Folter von Regimekritikern (Millogo 2010).

Eine weitere alternative Erinnerungsaktivität fand zwei Tage nach der Unabhängigkeitsfeier anlässlich des Gedenktags für den regimekritischen Journalisten Norbert Zongo statt. „Camarade Norbert“, der wegen seiner regierungskritischen Recherchen am 13. Dezember 1998 ermordet worden war, gilt bis heute für sehr viele Burkinabè als Märtyrer im Kampf für Gerechtigkeit und (Presse-)Freiheit. Der Fall Zongo hatte das Land in eine soziale Krise gestürzt und ist bis heute nicht aufgeklärt. Wie bereits in den vergangenen Jahren, so hatte der Gewerkschaftsverband, der seinen Sitz direkt gegenüber dem Rathaus hat, auch 2010 in Bobo-Dioulasso zu einem Marsch aufgerufen. Dieser wurde jedoch aufgrund zu geringer Beteiligung (es waren immerhin mehrere Hundert Sympathisanten erschienen) kurzfristig abgesagt, und man beschränkte sich auf eine Versammlung. Der Hauptforderung, die Akte Norbert Zongo zu öffnen und nach zwölf Jahren endlich für Gerechtigkeit zu sorgen, schlossen sich zwölf weitere Forderungen an die Regierung an. In der anschließenden offenen Diskussion wurde lautstark Kritik am „despotischen System Blaise Compaoré“ geübt und wiederholt eine stärkere Mobilisierung gefordert, damit „Blaise verschwinde wie die anderen“. Ein charismatischer älterer Herr beendete seinen Beitrag mit den Worten: „Am 11. Dezember hat das Bürgertum einer sogenannten Unabhängigkeit gedacht. Am 13. Dezember gedenkt das Land des Mords an Norbert Zongo.“ (eigene Mitschrift)

Die erinnerungspolitisch größte Herausforderung, die sich der Regierung Compaoré aus der jungen Vergangenheit stellte, bezog sich auf eine politische Phase, die sich besonders deutlich in das kollektive Gedächtnis der Burkinabè eingeschrieben hat und bei vielen in engen Zusammenhang mit der (Wieder-)Herstellung des burkinischen Nationalstolzes gebracht wird: Die Revolution (1983-1987) unter Hauptmann Thomas Sankara.

Thomas Sankara, direkter Amtsvorgänger Blaise Compaorés, hatte sich am 4. August 1983 mit Hilfe von Compaoré und zwei weiteren jungen Offizieren an die Macht geputscht. Der junge charismatische Sozialist wollte das Land politisch und gesellschaftlich radikal erneuern. Er veränderte die diplomatischen Beziehungen zum westlichen Ausland grundlegend und mobilisierte das Volk, den Kampf gegen die Armut aus eigener Kraft anzugehen. Mit gemischten Gefühlen erinnern sich heute noch viele Burkinabè an seine Forderung, die Wochenenden für Arbeit für die Gemeinschaft zu opfern – eine seiner vielen Maßnahmen, die die Burkinabè befähigen sollte, sich aus ihrer Abhängigkeit vom Westen zu befreien und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Am 4. August 1984, dem ersten Jahrestag der Augustrevolution, gab Thomas Sankara die Änderung des Staatsnamens von Obervolta in Burkina Faso („Land der aufrechten Menschen“) bekannt. Der neue Name symbolisierte die Abkehr von der bisher aufrechterhaltenen französischen Dominanz. Außerdem änderte er die Nationalhymne und die Flagge und gab – in Anlehnung an die kubanische Revolution, die ihm als Inspiration diente – ein nationales Motto aus: „Das Vaterland oder der Tod, wir werden siegen“.

Unterstützt wurde er vor allem von seinem Freund und Kampfgenossen Blaise Compaoré, der in der Funktion als Staatsminister persönlich für den Schutz Sankaras verantwortlich war. Sankara wurde vor allem von der Jugend verehrt, brachte hingegen mit seinem Regierungsstil und dem Zwangscharakter seiner Pläne die traditionellen Eliten gegen sich auf. 1987 wurde er von seinem engen Verbündeten Compaoré gestürzt und im Verlaufe dessen erschossen. Seine Politik der Rectification („Berichtigung“) der Revolution begründete Compaoré damit, dass Sankara die Ziele dieser zu verraten im Begriff war. Compaorés erklärtes Bestreben war es demnach, die revolutionären Ziele weiterzuverfolgen, gleichzeitig aber eine Politik der Normalisierung und politischen Öffnung einzuleiten. Tatsächlich rückten jedoch die von Sankara propagierten Ziele einer Entwicklung von innen (durch Korruptionsbekämpfung, Abkehr vom westlichen Ausland und Maximierung des Konsums lokaler Produkte) immer mehr in den Hintergrund, und Verhandlungen mit IWF und Weltbank im Zuge einer wirtschaftlichen Liberalisierung nahmen zu. 1988 wurden die Revolutions-Komitees (Comités pour la défense de la révolution, CDR) abgeschafft, 1991 entledigte sich die neu gegründete Organisation pour la démocratie populaire/Mouvement du travail (ODP/MT) mit Compaoré an der Spitze der marxistisch-leninistischen Ideologie. Im März desselben Jahres wurden die politischen Exilanten dazu aufgerufen, nach Burkina zurückzukehren, und im August verkündete Compaoré eine Amnestie für alle „politischen Verbrechen“, die seit der Unabhängigkeit begangen wurden (vgl. Englebert 2004).

Insbesondere die burkinische Jugend versteht Thomas Sankara noch heute als Symbolfigur der Unabhängigkeit und verehrt ihn als den „Che Guevara Schwarzafrikas“. Auffallend häufig sieht man Aufkleber des ehemaligen Präsidenten auf den Motorrädern und Mofas von Schülern und Studenten, Händler verkaufen selbstbemalte oder gedruckte T-Shirts mit seinem Konterfei. Die Phase der Revolution unter Thomas Sankara 1983-87 ist im kollektiven Gedächtnis der Burkinabè fest verankert. Meine Befragung[2] unter Schülern und jungen Erwerbstätigen ergab, dass 76 Prozent der Befragten Thomas Sankara als wichtige Persönlichkeit für die Geschichte Obervoltas bzw. Burkina Fasos ansehen. Er war damit die meist genannte Person, gefolgt von Maurice Yaméogo, dem „Vater der Unabhängigkeit“, der am 5. August 1960 die Unabhängigkeit Obervoltas proklamierte. Auf Platz drei in der Häufigkeit der Nennungen kam Daniel Ouezzin Coulibaly, Blaise Compaoré folgte auf Platz vier.

Noch heute polarisiert Thomas Sankara das burkinische Volk. Die einen verehren ihn als Märtyrer im Kampf für Unabhängigkeit, Gerechtigkeit, Entwicklung und die Ehre des Landes. Die anderen verurteilen seine oft kurzfristig und im Alleingang getroffenen radikalen Entscheidungen und die Härte im Umgang mit Regimekritikern. Nur wenige Tage vor der Unabhängigkeitsfeier des 11. Dezember veranstaltete der französische Radiosender RFI (Radio France International) in Bobo-Dioulasso zwei Diskussionsrunden mit den provokanten Themen „Welche Bilanz ist nach 50 Jahren Unabhängigkeit zu ziehen?“ und „Was bleibt noch von der Revolution?“ Am „offenen Mikrofon“ auf dem Bahnhofsplatz lieferten sich Anhänger Sankaras leidenschaftliche Wortgefechte mit Kritikern der Sankara-Revolution.

Entsprechend schwierig gestaltet sich der Umgang mit diesem Kapitel der Geschichte für seinen direkten Nachfolger Compaoré heute, der Sankara mit einem blutigen Staatsstreich aus dem Amt putschte. Um weder Kritik für den Sturz und das Vergessen eines Helden noch für das Erinnern eines Verbrechers zu ernten, entschied sich Präsident Compaoré für eine einfache Version: Ganz schnörkellos zählte er in seiner Ansprache an die Nation am Vorabend des 11. Dezember alle ehemaligen Präsidenten des Landes in der Chronologie ihrer Amtszeit auf.

„Das burkinische Volk behält außerdem die immense Arbeit in Erinnerung, die die großen Staatsmänner unseres Landes leisteten; insbesondere diejenigen, die die hohe Verantwortung trugen, das höchste Staatsamt auszuführen. Ich denke an Maurice Yaméogo, an General El Hadj Aboubacar Lamizana, an Oberst Saye Zerbo, an Kommandant Jean-Baptiste Ouédraogo und an Hauptmann Thomas Sankara.“ (Blaise Compaoré, 10.12.2010)

Anstatt auf besondere Verdienste einzelner einzugehen, ehrte Compaoré seine Vorgänger – und damit gleichsam auch sich selbst – kollektiv für die Übernahme der hohen Verantwortung, das höchste Staatsamt auszufüllen. Er brachte die Rhetorik der Erinnerung an seine Vorgänger dann so eng mit seinem Wahlkampfvokabular zusammen, dass ein direkter Anknüpfungspunkt für die Ära Compaoré entstand: „Die Lehren, die aus ihren Taten im Dienste der Nation gezogen wurden, stellen für die Gesamtheit der Burkinabè gewaltige Motivationsfaktoren für den Erfolg der zahlreichen Baustellen unseres Vaterlandes dar.“ (Blaise Compaoré, 10.12.2010)

Heißluftballon mit Präsidentengalerie, 10.12.2010 / Foto: Svenja Haberecht

 

4. Compaoré, der Erbauer der aufstrebenden Nation

Das ganze Jahr 2010 hindurch wurden verschiedene Aktivitäten zum Cinquantenaire organisiert; große regionale Konferenzen, die reihum in den 13 Regionalhauptstädten des Landes abgehalten wurden, aber auch populäre Veranstaltungen wie kostenlose Konzerte und Sportwettkämpfe, um die breite Bevölkerung in Feierstimmung zu versetzen. Viele Veranstalter setzten ihren Aktivitäten in diesem Jahr den Stempel des Unabhängigkeitsjubiläums auf. Auch die Regierung Compaoré scheute keinen Anlass, sich auf der Bühne des Cinquantenaire in Szene zu setzen. Die nationale Lotterie LONAB organisierte einen gigantischen Konzertabend im „Théâtre de l’Amitié“ von Bobo-Dioulasso, bei dem zahlreiche musikalische Größen des Landes vertreten waren. Die Präsidentengattin Chantal Compaoré wurde als Ehrengast eingeflogen und wohnte strahlend der Eröffnung einer Tombola zum Cinquantenaire bei. Das Zweite Nationale Frauenforum (mit dem Thema: „Der Beitrag der Frau zum Aufbau von Burkina Faso seit der Unabhängigkeit bis heute: Bilanz und neue Herausforderungen“) fand Ende September in Bobo-Dioulasso unter Schirmherrschaft der Première Dame statt, und auch der Präsident wusste sich gekonnt für die Belange der Frauen in Szene zu setzen. Im Oktober begannen dann die Wahlkampfveranstaltungen und Blaise Compaoré reiste durch das Land, um kräftig die Werbetrommel zu rühren.

Wahlplakat Compaoré „Avanςons ensemble“, 7.12.2010 / Foto: Svenja Haberecht

„Gemeinsam Fortschritte machen“, „Lasst uns gemeinsam ein aufstrebendes Burkina bauen“, „Gemeinsam bauen wir eine moderne Nation“ – neben diesen Bildüberschriften blickte Präsident Blaise Compaoré dem Betrachter seit Oktober 2010 von diversen Plakaten in Bobo-Dioulasso entgegen. Die Wahlplakate zeigten „den Erbauer“ im modernen Anzug vor einem großen Stausee oder Straßenkreuz, einer Brücke oder einem anderen pompösen Bauwerk. Als „Le Bâtisseur“ oder „L’Homme du Dialogue“ präsentierte sich Compaoré volksnah und zupackend. Metaphern des technologischen Fortschritts und der Modernisierung fanden sich immer wieder in seinen Reden und Bildprogrammen.

Eine der letzten Stationen seines Wahlkampfs war am 17. November 2010 Bobo-Dioulasso. Einen knappen Monat vor der Unabhängigkeitsfeier konnte die Stadt schon einmal ihr enormes Mobilisierungspotenzial unter Beweis stellen. Das große Stadion Omnisport war dichtgefüllt mit Menschen, die aus bis zu 20 Kilometer entfernten Dörfern in Lastwagen hergebracht worden waren und schon seit dem Morgen auf die Ankunft des Präsidenten gewartet hatten. Dieser wurde am Nachmittag auf das Gelände gefahren und genoss sein Bad in der Menge – ähnlich, wie er es drei Wochen später beim Cinquantenaire in Anwesenheit der internationalen Gäste als frisch wiedergewählter Präsident tun würde.

Auch in seiner Wahlkampfrede fanden sich vereinzelte Erinnerungsmomente. „Wir haben viel gelitten“, leitete er seinen Geschichtsexkurs ein, „wie im Jahr 1932, erinnert Euch. Aber wir haben wieder zusammengefunden, weil wir gekämpft haben, um selbst über unser Leben, unser Schicksal, entscheiden zu können.“ Er dankte den „Männern und Frauen Burkina Fasos“ und insbesondere der Region Hauts-Bassins, die für die „Würde und Freiheit unseres Landes“ gekämpft hätten. Als regionale Besonderheiten betonte Compaoré die kulturelle Vielfalt und das harmonische Zusammenleben der verschiedenen sozialen Gruppen der Region, die als Vorbild für Burkina Faso diene. Der Präsident ehrte namentlich Ouezzin Coulibaly, Nazi Boni sowie verschiedene politische und religiöse Autoritäten, die sich um den Frieden und die Entwicklung in der Region verdient gemacht hätten.

Dann nannte er seine Ziele für die nächste Amtsperiode, wie Verbesserungen im Bildungs- und Gesundheitssystem und Investitionen in die Landwirtschaft. Seine Rede beendete er mit dem Versprechen, „que je serai toujours l’homme qui va vous amener aux chantiers du développement de notre pays“ (dass ich immer der Mann sein werde, der Euch auf die Baustellen der Entwicklung unseres Landes begleiten wird, Blaise Compaoré, 17.11.2010). Er sagte dies ironischerweise zu einem Zeitpunkt, als die Stadt (zum Ärgernis vieler Bewohner) in Vorbereitung auf die großen Feierlichkeiten noch stark von Baustellen geprägt war.

Wahlkampfrede Blaise Compaorés, 17.11.2010 / Foto: Svenja Haberecht

2007 hatte die Regierung im Zuge ihrer Dezentralisierungs- und Regionalisierungspolitik beschlossen, die Nationalfeier jedes Jahr in einer anderen Regionalhauptstadt stattfinden zu lassen. Das Rotationsprinzip wurde als nationale Entwicklungsstrategie eingeführt, ermögliche es doch den verschiedenen Regionen des Landes, einerseits ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fähigkeiten darzustellen und andererseits von den Regierungsgeldern zu profitieren.

Der nationalen Regierung wie auch seiner lokalen Vertretung in Bobo-Dioulasso war es in diesem Jahr besonders wichtig, dass die Stadt einen glanzvollen Rahmen für das Cinquantenaire bot. Für die Regierung war es eine Gelegenheit, Burkina Faso nach außen als eine aufstrebende und moderne Nation zu präsentieren. Für die „kulturelle Hauptstadt“ Bobo-Dioulasso stellte ein Ereignis von solcher Tragweite eine einzigartige Möglichkeit dar, finanzielle Unterstützung von der Zentralregierung zu bekommen und sich über die Landesgrenzen hinaus Bekanntheit zu verschaffen. Seit Anfang des Jahres war daher das gesamte Stadtzentrum von Baustellen geprägt: der Boulevard und die Hauptstraßen der Innenstadt wurden neu gepflastert, ein Ministerienkomplex, ein gigantischer Kuppelsaal, ein komplettes neues Stadtviertel und ein dreißig Meter hohes Denkmal wurden eigens für das Unabhängigkeitsjubiläum errichtet.

Denkmal zum Cinquantenaire, 9.12.2010 / Foto: Svenja Haberecht

Zum offiziellen Kernprogramm der Jubiläumsveranstaltungen gehörte in der Vorwoche der Nationalfeier der große Einweihungsmarathon der neuen Bauwerke und Straßen Bobo-Dioulassos. Dieser begann am Montag (6.12.2010) mit der Einweihung des neuen Postamts und der Vorstellung der Cinquantenaire-Sonderbriefmarke. Am Dienstag wurde der neue Regionalsitz des Obersten Presserats eingeweiht und auf dem Rathausplatz wurden zahlreiche neue Straßen getauft. Die Einweihung des neuen Denkmals auf dem ausgebauten Place de la Femme musste wegen Verzögerung der Bauarbeiten ausfallen, aber am Donnerstag ging es dann Schlag auf Schlag weiter: Am Vormittag wurde der renovierte und modernisierte Flughafen von Bobo-Dioulasso (mit Transportband, Gepäckscanner, VIP-Wartesaal) eingeweiht, anschließend der riesige neue Früchte- und Gemüsemarkt, der gewaltige Ministerienkomplex in der Innenstadt und das restaurierte Bahnhofsgebäude. Am Nachmittag fanden drei Einweihungen statt: Erst die des Cinquantenaire-Denkmals und eines weiteres Denkmals auf der Place de la Nation. Zuletzt bildete die Einweihung des neuen Stadtviertels, das eigens zur Unterbringung der Ehrengäste des Cinquantenaire im Zuge eines Private-Public-Partnership innerhalb weniger Monate aus dem Boden gestampft worden war, den Abschluss dieses immensen Schauspiels architektonischer und infrastruktureller Leistungen.

Premierminister Tertius Zongo zog als Schirmherr der Eröffnungszeremonien – von einem Konvoi von Ministern, Militärs und unzähligen Presseleuten begleitet – von einem Festakt zum nächsten und vollzog die feierlichen Einweihungen medienwirksam mit dem symbolischen Band-Durchschneiden. In ihren Eröffnungsreden stellten die Minister des jeweils zuständigen Fachbereichs die Fortschritte der letzten 50 Jahre in ihrer Branche heraus und riefen – ganz in der Rhetorik des frisch wiedergewählten Präsidenten Blaise Compaoré – das burkinische Volk zu gemeinsamen Anstrengungen für die Entwicklung zu einer fortschreitenden, strahlenden Nation auf.

Mit seiner Ansprache an die Nation trat der Präsident dann am Vorabend des großen Nationalfeiertags nochmals persönlich in Erscheinung. Nach der Würdigung seiner Amtsvorgänger (wie oben beschrieben) richtete er seine Glückwünsche an „die Männer, die Frauen, die Jungen, die Alten, die traditionellen und religiösen Autoritäten, an unsere Landsmänner im Ausland, an die ausländischen Gemeinschaften, die in Burkina Faso leben, an alle verdienstvollen Akteure dieser schätzenswerten Fortschritte“ (Blaise Compaoré, 10.12.2010).

Compaoré nutzte die Fernsehansprache zum Unabhängigkeitsfeiertag als Plattform für die Zurschaustellung der Leistungen seiner Regierung in der Vergangenheit, für die Legitimation und Machtinszenierung seiner Person in der Gegenwart sowie für die Artikulierung seiner Entwicklungsziele für die Zukunft. Optimistisch, ja geradezu euphorisch verkündete er für die Bereiche Gesundheit, Bildung, Zugang zu Trinkwasser und Landwirtschaft eine „substantielle Verbesserung und eine steigende Entwicklung, die mutmaßen lässt, dass sie sich mittelfristig auf der Höhe, wenn nicht sogar jenseits des internationalen Maßstabs befinden.“Er sagte weiter:

„In einer Welt, die geprägt ist von zahlreichen sozialen und politischen Krisen, zeichnet sich Burkina Faso durch seine Stabilität, die zunehmende Verbesserung seiner Regierungsführung und die Erweiterung der Freiheiten aus. Wir müssen an der Festigung dieser Errungenschaften arbeiten.“ (Blaise Compaoré, 10.12.2010)

Abschließend nutzte Präsident Compaoré die Jubiläumsansprache dann noch, um sich beim burkinischen Volk für seine Wiederwahl zu bedanken:

„An diesem historischen Tag des 11. Dezembers spreche ich Ihnen Allen meinen aufrichtigen Dank aus. Ich erkenne die Bedeutung der Verantwortung, die Sie an mich übertragen haben, die starke Botschaft, die diese trägt und die einlädt zur Wahrung des Friedens, den unsere berühmten Vorfahren uns als Erbe hinterlassen haben. Ich begrüße die Entscheidung aller treibenden Kräfte, mich bei der Umsetzung des Fünfjahresprogramms, zu dem Sie Ihre Zustimmung signalisiert haben, zu begleiten. Ich erwarte Ihren Beitrag zum Gelingen der politischen Reformen, die notwenig sind für die Stärkung der Demokratie und die Beschleunigung des Gestaltungsprozesses eines Burkina des Friedens und des geteilten Wohlstands.“ (ibid.)

Der Nationalfeiertag selbst, der 11. Dezember 2010, kann in dieser Lesart als Höhepunkt der Inszenierung der Compaoré-Regierung gesehen werden. Nachdem am Morgen des 11. Dezember alle Ehrengäste ihre Plätze auf den Tribünen eingenommen hatten und die Première Dame die Staatschefs, die aus elf afrikanischen Länder angereist waren, begrüßt hatte, wurde Präsident Compaoré in einem offenen Fahrzeug den von Zuschauern gesäumten Boulevard de la Révolution heruntergefahren und schritt begleitet von der Nationalhymne zu seinem Platz in der Mitte der Hauptbühne. Er hielt keine Rede, sondern betrachtete das ganze Schauspiel von seinem Ehrenplatz aus. Nach der Begrüßungsrede durch den Kommentator wurde die Nationalhymne zum Auftakt der großen Parade nochmals gespielt. Eine burkinische Besonderheit war, dass die Zivilparade (mit Gruppen von Schülern, Frauenorganisationen, regionalen Vereinigungen, privatwirtschaftlichen und staatlichen Unternehmen) vor dem Militär defilierte – vielleicht eine Strategie zur Darstellung der „Solidarität, der Findigkeit und der Effizienz der menschlichen Ressourcen“ (Blaise Compaoré, 22.3.2010), die im Hinblick auf Burkina Fasos Benachteiligung in Bezug auf natürliche Ressourcen gerne betont werden. Zum Schluss der sich anschließenden eineinhalbstündigen Militärparade, nach den ausländischen Delegationen, den nationalen Kontingenten von Soldaten, Gendarmen und Polizisten zu Fuß und der motorisierten Militärparade, folgte schließlich die motorisierte Zivilparade. Eindrucksvoll wurde hier das von der Compaoré-Regierung propagierte aufstrebende Burkina, geprägt von technologischer Entwicklung und Modernisierung, anhand eines gewaltigen Fuhrparks von Baufahrzeugen des öffentlichen und privaten Sektors dargeboten.

Motorisierte Zivilparade, 11.12.2010 / Foto: Carola Lentz

Die Ehrengäste auf den Tribünen konnten parallel dazu die „großen Entwicklungen Burkina Fasos“ aus der Regierungszeit Compaorés in Politik und Diplomatie, Verteidigung, Wirtschaft und Kultur anhand der verteilten Presse-Broschüren en detail nachlesen. Blaise Compaoré, der während der gesamten Zeremonie kein offizielles Wort gesprochen hatte, wurde vor dem eindrucksvollen Szenario durch sein nonverbales, ritualisiertes Verhalten (Einfahrt auf Militärfahrzeug, Beschreiten des Roten Teppichs, Salutieren der Nationalflagge, Händeschütteln der geladenen Staatschefs) gewissermaßen selbst zum Symbol einer stabilen, glänzenden Nation.

Plakate Cinquantenaire und Compaoré, 10.12.2010 / Foto: Svenja Haberecht

Mit einem gigantischen Feuerwerk ging das Cinquantenaire-Jahr am Abend des 11. Dezember 2010 offiziell zu Ende. Bobo-Dioulassos Bewohner atmeten auf – vorbei waren die lästigen Bauarbeiten in der Innenstadt, die Straßensperren für Ehrengäste, die Jubiläumsspots im Fernsehen. Sowohl die Regierungszeitung Sidwaya als auch private Zeitungen berichteten Tags darauf von einer gelungenen, schillernden Parade, Compaoré-Anhänger feierten die „neue alte“ Regierung (fast alle Ministerämter blieben in gleicher Besetzung wie in der vorherigen Amtszeit) und Kritiker beschwerten sich über mangelnde Reflexion sowie die Verschwendung von Staatsgeldern. Was sichtbar bleibt, sind die gepflasterten Hauptstraßen mit ihren neuen Laternen, viele neue Gebäude, ein neues Stadtviertel, ein neuer Markt und drei neue Denkmäler. Was in Erinnerung bleibt, ist weniger leicht zu beantworten. Ob das Cinquantenaire den Nationalstolz belebt, zur Stärkung der nationalen Identität beigetragen oder gar das Geschichtsbewusstsein verändert hat? Eines ist sicher: Sowohl für scharfe Kritiker als auch für freudige Befürworter schuf das Jubiläumsjahr eine Plattform, um über Errungenschaften der Vergangenheit, Versäumnisse der Gegenwart oder Chancen für die Zukunft zu debattieren. Und für die Regierung war es eine Möglichkeit, die eigenen Erfolge der vergangenen Jahre zur Schau zu stellen und Präsident Blaise Compaoré schon heute in einer Weise zu zelebrieren, die ihn einem Platz in der Riege der erinnerten nationalen Helden im Rahmen des Centenaire (des 100. Unabhängigkeitsjubiläums) vielleicht ein Stück näher gebracht hat. 

 

 

Literatur 

Anderson, Benedict, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. 2., überarb. Aufl. London: Verso, 1991.

Englebert, Pierre, Burkina Faso: Unsteady Statehood in West Africa, Boulder, CO: Westview Press, 1996.

Englebert, Pierre, Burkina Faso: Recent History. In: Katharine Murison (Hrsg.): Africa South of the Sahara 2004. 33rd Aufl. London: Europa Publications, 2004.

Gillis, John R., Memory and identity: the history of a relationship. In: Ders. (Hrsg.): Commemorations: The Politics of National Identity. Princeton: Princeton University Press: 1994, S. 3−24.

Jansen, Christian / Borggräfe, Henning, Nation - Nationalität - Nationalismus. Historische Einführungen, Frankfurt a.M.: Campus Verlag, 2007.

Zerubavel, Eviatar, Calendars and History: A Comparative Study of the Social Organization of National Memory. In: Jeffey K. Olick (Hrsg.): States of memory. Continuities, Conflicts, and Transformations in National Retrospection. Durham: Duke University Press, 2003, S. 315-337.

 

Reden und Zeitungsartikel 

Compaoré, Blaise, Disours de Blaise Compaoré au lancement des manifestations, Bobo-Dioulasso, 22.03.2010 [URL: http://www.lefaso.net/spip.php?article35952&rubrique265 letzter Zugriff am 11.09.2013].

Compaoré, Blaise, Disours préélectoral, Bobo-Dioulasso, 17.11.2010 (eigene Mitschrift).

Compaoré, Compaoré, Discours du Président du Faso à l’occasion du cinquantenaire de l’indépendance du Burkina Faso, Sidwaya, Hors série, 10.12.2010.

Millogo, Bakary, La commémoration du cinquantenaire des indépendances formelles de 1960. Place et rôle du mouvement syndical dans la lutte pour l’émancipation nationale et sociale des peuples africains: cas du Burkina Faso. Intervention du Secrétaire Général de la CGT-B/Hauts-Bassins le 16 octobre 2010 à Ouagadougou à l’occasion du 6ème conseil syndical ordinaire de la CGT-B (unveröffentlichtes Dokument).

L’Observateur Paalga, Burkina Faso: 50 ans, 50 événements, No.7775, 10.-12.12.2010.

 


[1] Dieser Artikel ist im direkten Anschluss an eine sechsmonatige Feldforschung in Burkina Faso verfasst worden. Alle Betrachtungen sind daher als erste Analyseschritte im frühen Stadium der Datenauswertung einer laufenden Forschung zu verstehen.

[2] Auf die Frage „Welche Personen sind wichtig für die Geschichte von Obervolta bzw. Burkina Faso“ antworteten 90 Personen im Rahmen einer Fragebogen-Umfrage, die im November und Dezember 2010 in Bobo-Dioulasso und Umgebung durchgeführt wurde. Die Fragebögen wurden von jungen Erwachsenen verteilt; die Befragten waren Schüler bzw. Studenten im Alter von 19-25 Jahren und Erwerbstätige im Alter von 23-45 Jahren. Neben dieser gab es 13 weitere Fragen zur Geschichte des Landes, zur Unabhängigkeitsfeier und zu wichtigen Ereignissen der vergangenen 50 Jahre. Die Fragen waren offen gestellt und ließen mehrere Antworten zu.