von Petra Terhoeven

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12. September 2017

Für die dramatische Eskalation der Auseinandersetzung zwischen RAF und Staat im Jahre 1977 hat sich früh die Bezeichnung Deutscher Herbst durchgesetzt. Lange Zeit hat die Suggestivität dieses Begriffs auch unter HistorikerInnen den Blick dafür verstellt, dass sich diese Auseinandersetzung gerade nicht als eine ausschließlich deutsche Geschichte verstehen lässt. Denn der Resonanzraum des deutschen Linksterrorismus – hier mit Peter Waldmann verstanden als Kommunikationsstrategie, die Angst und Schrecken, aber auch Sympathie erzeugen soll – endete mitnichten an den Grenzen der Bundesrepublik. Bei der blutigen Entführung Hanns-Martin Schleyers am 5. September 1977 – und erst recht bei der mehrtägigen Odyssee einer gekaperten Lufthansa-Maschine einige Wochen danach – handelte es sich vielmehr um transnationale Medienereignisse, die in der europäischen Öffentlichkeit intensiv verfolgt wurden. Die mit Abstand höchsten medialen Wellen schlug im Ausland allerdings nicht die Gewalt, die die zweite RAF-Generation und ihre palästinensischen Verbündeten gegen andere verübten, sondern die sogenannte Todesnacht von Stammheim. Vor allem in denjenigen westeuropäischen Ländern, die im Zweiten Weltkrieg den deutschen Besatzungsterror erlebt und ihr Selbstverständnis stark am antifaschistischen Widerstand ausgerichtet hatten, provozierte der von eigener Hand herbeigeführte, aber als Staatsmord inszenierte Tod von Baader, Ensslin und Raspe drängende Fragen. Waren womöglich in einem deutschen Gefängnis einmal mehr wehrlose Häftlinge in staatlichem Auftrag exekutiert worden? Die offizielle Erklärung, den Gefangenen sei es gelungen, über eine Sicherheitslücke in der Anstalt Waffen in die Zellen zu schmuggeln, mit denen sie sich selbst getötet hätten, musste umso unglaubwürdiger klingen, nachdem die GSG 9 in derselben Nacht vor aller Augen demonstriert hatte, dass die deutsche Unfehlbarkeit in militärischen Dingen immer noch weit mehr zu sein schien als ein Klischee aus längst vergangener Zeit.

Der Mord-Legende wirkungsvoll den Boden bereitet hatte jedoch vor allem die jahrelange gezielte Selbstviktimisierung der Stammheimer, bei der ihren Anwälten eine Schlüsselrolle zukam. Von Anfang an als transnationale Kampagne konzipiert, zielte die Mobilisierung gegen die vermeintliche „Folter in der BRD“ sowohl auf die Massenmedien als auch auf die um 1968 in ganz Europa entstandenen gegenkulturellen Milieus. Von letzteren versprachen sich die Inhaftierten logistische Unterstützung für die noch in Freiheit befindlichen Mitkämpfer, die auf Zufluchtsräume jenseits der Zugriffsmöglichkeiten deutscher Fahnder und nicht zuletzt auf Waffen angewiesen waren. Sie selbst machten derweil über forcierte Hungerstreiks den eigenen Körper zur Waffe – im Rahmen einer diffamatorischen Vergangenheitspolitik, deren Potential sich auch und besonders im Ausland erwies. Nachdem diese Strategie mit Holger Meins ein erstes Todesopfer gefordert hatte, wurde ein Obduktionsfoto des ausgemergelten Leichnams dazu genutzt, in der Öffentlichkeit Assoziationen mit den Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungslager hervorzurufen. Mit dem Besuch Jean-Paul Sartres bei Andreas Baader gelang in der Folge ein medialer Coup, der nicht ohne Folgen ins deutsche  Kollektivgedächtnis eingegangen ist.

Dennoch besaß die RAF 1977 nicht in Frankreich, sondern in Italien die meisten und engagiertesten Sympathisanten. Schon um ´68 war die Verbindung der Deutschen in den nicht nur klimatisch heißen Süden besonders eng gewesen. Fast alle späteren Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni durchliefen einen wichtigen Teil ihrer politischen Sozialisation in dem Land, das dank einer unruhigen Arbeiterbewegung und der Radikalität seiner Intellektuellen zum Traumland der Revolution avanciert war. Den Schritt in den bewaffneten Untergrund taten Deutsche und Italiener 1970 zeitgleich und im engen Dialog. Auch wenn sie damit den voluntaristischen Revolutionstheorien Che Guevaras und Carlos Marighellas folgten: Erst die Dynamik zwischen europäischen Akteuren führte zur Überschreitung der Grenze zur organisierten Gewalt in einem eigentlich unwahrscheinlichen Kontext – dem der parlamentarischen Demokratie. Die Roten Brigaden (BR) als die schlagkräftigste unter den italienischen Organisationen empfand die RAF zwar als Verbündeten gegen einen gemeinsamen Feind, gleichzeitig aber auch als Stachel im eigenen Fleisch. Dies galt umso mehr, als italienische Genossen bald auch in den radikalen Milieus der Bundesrepublik für eine auf die Fabrik fokussierte, operaistische Strategie warben, die zumindest anfangs das Markenzeichen der Roten Brigaden  gewesen war. Im Herbst 1977 gelang der RAF jedoch mit der Schleyer-Entführung ein Erfolg, der sie gegenüber der Konkurrenz schlagartig in einen Vorteil zu versetzen schien. In dieser Situation gaben die Roten Brigaden ihren Plan auf, den italienischen Arbeitgeberpräsidenten Pirelli zu entführen, um ihr Vorhaben, sich des mehrfachen Regierungschefs Aldo Moro zu bemächtigen, umso entschlossener weiterzuverfolgen. Dass es einer gut organisierten Stadtguerilla möglich war, auch eine schwer bewachte Geisel in ihre Gewalt zu bringen, wenn sie nur skrupellos genug dabei vorging, hatte die RAF ihnen vorgemacht.

Vor allem aber die Todesnacht von Stammheim muss als wichtige Eskalationsstufe auch in die Geschichte des italienischen Linksterrorismus eingeschrieben werden. Sie löste in Italien eine Welle der Gewalt gegen deutsche Einrichtungen aus. Getragen wurde dieser spontane Ausbruch vor allem von der ´77er-Bewegung, einer heterogenen Protestbewegung marginalisierter Jugendlicher, deren Mitglieder sich im Zuge der anti-deutschen Kampagne weiter radikalisierten. Die Roten Brigaden selbst ‚rächten‘ die deutschen Genossen unter anderem durch den gezielten Mord am Vize-Direktor der Turiner Tageszeitung „La Stampa“, Carlo Casalegno, dem man nicht wie ursprünglich geplant in die Beine, sondern ins Gesicht schoss, nachdem er in einem Leitartikel davor gewarnt hatte, die Ereignisse in der Stuttgarter JVA  vorschnell als Mord zu bezeichnen. Aber auch den Mitgliedern des ‚historischen Kerns‘ der Roten Brigaden, denen man zeitgleich in Turin den Prozess machte, hing die vermeintliche Hinrichtung der ihnen gut bekannten Deutschen „wie ein Felsbrocken“ über den Köpfen, wie Renato Curcio seine damaligen Gefühle beschreibt. „Für uns war es ein Dogma: Die deutschen Genossen waren von ihren Wächtern ermordet worden“, so auch der ehemalige Rotbrigadist Alberto Franceschini. Erst während der Sinn- und Lebenskrise, in die er zu Beginn der 80er Jahre fiel, kam er in der Haft zu der subjektiv schmerzlichen Einsicht: „Die Genossen von der RAF hatten sich umgebracht, weil ihnen klar geworden war, dass sie alles falsch gemacht hatten.“

Der Herbst der deutschen Demokratie, so viel stand zu diesem Zeitpunkt längst fest, war der Deutsche Herbst jedenfalls nicht gewesen – bei aller berechtigten Kritik an den Unzulänglichkeiten und Irrwegen in der Terrorismusbekämpfung, den manchmal selbstläufigen Verfolgungsmaßnahmen des BKA und der bis heute fortgesetzten Weigerung, den Skandal der Todesnacht von Stammheim in allen Einzelheiten durch unabhängige HistorikerInnen untersuchen zu lassen. 

Mitteilung der Redaktion:
Am 19. September 2017 erscheint im C.H. Beck Verlag Die Rote Armee Fraktion.Eine Geschichte terroristischer Gewalt von Petra Terhoeven