von Klaus Große Kracht

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1. Mai 2004

Anfang August 2004 jährt sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum neunzigsten Mal: die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan den Krieg mit einem mittlerweile viel zitierten Wort bezeichnet hat. In einer Eruption der Gewalt zerstörten die Jahre 1914 bis 1918 die fragilen Ordnungssysteme des 19. Jahrhunderts und eröffneten das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm).

Seit den 1890er Jahren lebten die europäischen Gesellschaften an der Grenze ihrer politischen Belastbarkeit: Das Spannungsgefüge moderner Massengesellschaften, eine ungebändigte imperialistische Expansionspolitik, die Freisetzung neuer, bis dahin ungeahnter technisch-industrieller Möglichkeiten, die rasante Beschleunigung von Kommunikation, Handel und Urbanisierung sowie nicht zuletzt ein tiefer Erfahrungs- und Wertewandel in den meinungsführenden Eliten Europas ließen ein globales Konfliktpotenzial entstehen, das durch die traditionellen Methoden alteuropäischer Kabinettspolitik nicht mehr gebändigt werden konnte. Vermutlich hätte die Katastrophe vermieden werden können, doch dazu hätte es in den einzelnen europäischen Nationen − vor allem in Deutschland − anderer Mittel und Wege bedurft als eines vom Vertrauen auf die räumliche und zeitliche Eingrenzbarkeit des Krieges getragenen Spiels mit dem Risiko. So begann der Erste Weltkrieg als eine Fortsetzung der Politik mit militärischen Mitteln; am Ende diktierte er der Politik sein Gesetz.

Die Erfahrungen des Krieges, des massenhaften sinnlosen Sterbens und der blinden Zerstörung gewachsener ziviler Ordnungen, bildeten die schwere Hypothek, mit der das „kurze 20. Jahrhundert“ in Europa an den Start ging. Die Folgen von Inflation und Kriegswirtschaft, instabile, durch Revolutionen und Nationalitätenkonflikte bedrohte politische Strukturen, vor allem aber das Millionenheer von Kriegsversehrten und desorientierten Soldaten, die in die Heimatgesellschaften wieder einzugliedern waren, erschwerten die Ankunft in jenem kurzen Frieden, der bereits 1939 wieder sein Ende fand, als der ehemalige Gefreite Adolf Hitler in einem neuen Exzess der Gewalt den Ersten Weltkrieg durch einen Zweiten zu überbieten versuchte. Dessen Zerstörungswerk, insbesondere der Holocaust, stellt alles bis dahin Gewesene − auch die Brutalität der kriegerischen Auseinandersetzungen der Jahre 1914 bis 1918 − in den Schatten; dennoch scheint der Zweite Weltkrieg ohne den Ersten kaum denkbar. Insofern weist selbst noch die Nachkriegsordnung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf seine Anfangskatastrophe hin. Schon Hans Rothfels schrieb Anfang der 1950er Jahre in seiner Bestimmung der „Zeitgeschichte“, dass mit dem Doppelereignis des Kriegseintritts der USA und der russischen Oktoberrevolution ein neues Zeitalter begonnen habe: 1917 zeigten sich die Akteure des Kalten Krieges erstmals auf der europäischen Bühne.

Grund genug auch für Historikerinnen und Historiker späterer − heißer und kalter − Kriege den Blick zurückzuwenden und nach den Wirkungen und Konsequenzen des Ersten Weltkriegs für die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu fragen. Dies gilt umso mehr in Deutschland, wo die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg die Gedächtnisspuren des Ersten überlagern. Während in Frankreich der „große Krieg“ der Jahre 1914 bis 1918 − „la grande guerre“ − immer noch ein nationales Referenzereignis ersten Ranges darstellt, spielt er im öffentlichen Erinnerungshaushalt der Deutschen eine eher geringe Rolle. Die hier veröffentlichten Beiträge wollen dazu anregen, den Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs auf den Verlauf der deutschen, aber auch der europäischen Geschichte insgesamt nachzuspüren. Der Krieg selbst mag nach vier Jahren sein Ende gefunden haben. Die mentalen Prägungen, mit denen er die Kombattanten in den Frieden entließ, begleiteten diese jedoch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.

Dirk Schumann (Washington) geht den Gewalterfahrungen der Kriegsteilnehmer und dem Ausmaß ihrer Brutalisierung nach. Gegen die nahe liegende These der Zunahme an Gewaltbereitschaft durch die Erfahrung des Krieges verweist er auf die allgemeine Kriegsmüdigkeit an seinem Ende. Die gleichwohl vorhandene Zunahme an öffentlicher Gewalt in einzelnen europäischen Gesellschaften nach 1918 scheint durch die Kriegserfahrung zwar mit bedingt, jedoch nicht verursacht. Wichtiger als der militärische Konflikt waren die politischen Veränderungen, die das Kriegsende in den jeweiligen Gesellschaften begleiteten, vor allem der Sezessions-Nationalismus in Ostmitteleuropa und die bolschewistische Revolution in Russland.

Steffen Bruendel (Bielefeld/Frankfurt) untersucht die deutsche Ideenpolitik im Ersten Weltkrieg und verfolgt ihre Spuren in der Zwischenkriegszeit. In den „Ideen von 1914“ zeigten sich die Konturen eines gemeinschaftsorientierten Ordnungsdenkens, das sowohl partizipatorische wie ausgrenzende Elemente beinhaltete. Die Idee der „Volksgemeinschaft“ fand sich während des Krieges in unterschiedlichen politischen Lagern und konnte je nach Zielsetzung sowohl zur Stärkung autoritärer politischer Strukturen als auch zu ihrer Demokratisierung herangezogen werden. Die nationalsozialistische Füllung des Begriffs im Sinne eines rassisch homogenen, exklusiven Volkskörpers ist demgegenüber eine spätere Prägung, die ihren Erfolg gleichwohl der Ideenschmiede des Ersten Weltkriegs verdankt.

Klaus Große Kracht (Potsdam) fragt nach den Konsequenzen der Niederlage für die Beschäftigung mit den Kriegsursachen auf Seiten der deutschen Historiker. In den Jahren nach 1918 bedeutete „Zeitgeschichte“ in Deutschland vor allem, den Nachweis der Kriegsunschuld Deutschlands zu erbringen. Der nationale Abwehrreflex prägte die deutsche Zeitgeschichtsforschung bis weit über 1945 hinaus. In der Bundesrepublik konnte der Bann dieser frühen ‚Kriegsschuldforschung’ erst in den sechziger Jahren gebrochen werden, als Fritz Fischer die Frage nach der Verantwortung des deutschen Kaiserreichs für den Ausbruch des Weltkriegs neu stellte.

Gerhard Hirschfeld (Stuttgart) knüpft daran an und stellt neuere Ansätze der Geschichtswissenschaft vor, die sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr der alltäglichen Erlebniswirklichkeit des Kriegsgeschehens zugewandt hat. Gerade auf dem Gebiet der Forschungen zum Ersten Weltkrieg wurden methodische Neuerungen erreicht, von denen nicht zuletzt die Erforschung des Zweiten Weltkriegs profitieren kann. Gerade eine vergleichende Geschichte beider Weltkriege, der jeweiligen Kriegserfahrungen und Kriegsdeutungen, scheint heute mehr denn je gefordert, um die Prozesse der Entgrenzung kriegerischer Gewalt im Europa des 20. Jahrhunderts analytisch überzeugend in den Blick zu bekommen.

Rainer Rother, Gundula Bavendamm und Kristiane Burchardi (Berlin) nehmen schließlich die von ihnen am Deutschen Historischen Museum (DHM) betreute Ausstellung über den Ersten Weltkrieg zum Anlass, das „kurze 20. Jahrhundert“ zwischen den Schüssen in Sarajevo 1914 und den neuen Balkankriegen der 1990er Jahre als einen gemeinsamen europäischen Erfahrungs- und Erinnerungsraum auszuweisen. Neuere Museumsprojekte in verschiedenen europäischen Ländern, nicht zuletzt auch in Osteuropa, haben den Krieg seiner heroisch-nationalistischen Inszenierung entkleidet, in der die Erinnerung an ihn über Jahrzehnte eingesperrt war. Die aktuelle Ausstellung im DHM knüpft daran an und präsentiert den Weltkrieg in einer breiten internationalen Perspektive, in der die Erfahrungen der Menschen an den unterschiedlichen Fronten seiner Wahrnehmung, auch über 1918 hinaus, im Mittelpunkt stehen.