von Christoph Classen

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15. April 2021

Die Bilder sind uns heute beinahe schon vertraut: überfüllte Krankenhäuser, Ärzt*innen und Pflegekräfte an der Belastungsgrenze, fehlende Beatmungsgeräte. Die Polizei schließt einen Außenverkauf und schickt spielende Kinder nach Hause. Die private Mobilität ist stark eingeschränkt, es kommt zu Hamsterkäufen, auch der Absatz von Atemschutzmasken läuft gut. Vor allem bei Menschen mit Vorerkrankungen häufen sich die Todesfälle. Nur die Bundesliga spielt weiter. Nicht zuletzt beherrscht die Krise die Medien: Im Fernsehen wechseln sich Live-Berichte, Pressekonferenzen und Expertenstatements in hektischer Folge ab. Der Moderator im Sonderstudio appelliert besonders an die ältere Bevölkerung: „Bleiben Sie bitte zu Hause, Ihrer Gesundheit zuliebe“.

Tatsächlich ist das, was wie eine Beschreibung der bundesrepublikanischen Realität in den aktuellen Pandemie-Wellen wirkt, nahezu 50 Jahre alt. Die Szenen stammen aus einem fiktionalen Fernsehfilm, den der Westdeutsche Rundfunk (WDR) im Herbst 1972 gedreht hat, und der im April 1973 zur Prime Time im Ersten zu sehen war. „Smog“ – das sagt schon der schlichte Titel – handelte allerdings nicht von einer Natur- sondern von einer menschengemachten Umweltkatastrophe. Durch eine sogenannte Inversionswetterlage im westlichen Ruhrgebiet konzentrierten sich im Film die Schadstoffe aus Verkehrs- und Industrieabgasen in der Atemluft. Thema war also die damals noch selten problematisierte Umweltverschmutzung durch die Verbrennung fossiler Energieträger. Dies führte zu einer akuten Bedrohung, deren politische und gesellschaftliche Konsequenzen an die gegenwärtige Pandemie-Situation erinnern.

 

Filmstill "Smog", Regie Wolfgang Petersen, WDR 1973.

 

Vieles, was in „Smog“ imaginiert wurde, lässt sich in der heutigen Realität ganz ähnlich beobachten: Etwa eine verbreitete Ignoranz von Teilen der Bevölkerung, die alle Maßnahmen ablehnt oder für übertrieben hält, nach dem Motto: Was ich nicht sehen kann, existiert auch nicht. Von Experten kontrovers diskutiert werden im Film Fragen der Zurechnung: Starben die Opfer tatsächlich am Smog, oder waren nicht eigentlich doch Vorerkrankungen tödlich? – „Wenn man es zynisch sagen will […], er wäre über kurz oder lang ohnehin gestorben?“, fragt eine Journalist einen Mediziner. Bekannt kommt einem auch der Lobbyismus der Industrie vor, die hinter den Kulissen großen Druck ausübt, um Produktionseinschränkungen zu verhindern. Die öffentliche Verwaltung wirkt überfordert, es kommt zu Kompetenzwirrwarr und Verzögerungen, die Menschenleben kosten. Schließlich werden die Grenzen des Rechtsstaates tangiert, wenn eigentlich klare gesetzliche Regelungen angesichts der Konsequenzen plötzlich zur Disposition stehen. Die Katastrophe trifft im Übrigen keineswegs alle gleich hart. Wer es sich leisten kann, verlässt die Stadt und flieht aufs Land – am Ende ist es das Kind einer Arbeiterfamilie, das stirbt.

 

Filmstill "Smog", Regie: Wolfgang Petersen, WDR 1973.

 

Pioniere der Hybridisierung – Doku-Fiction als neu Form

Man merkt dem Film an, dass die Autoren vor allem daran interessiert waren, mit fiktionalen Mitteln ein möglichst realistisches Szenario zu entwerfen: Was passiert, wenn sich eine akute Bedrohung entwickelt, die auf eine kaum vorbereitete Gesellschaft trifft? Sie wählten dafür eine Form, die man heute wohl als „Scripted Reality“ bezeichnen würde. Eine fiktionale mediale Krisenberichterstattung wechselte sich ab mit Handlungssträngen, die die Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven zeigten, darunter diejenige der Meteorologen, Mediziner und Krisenmanager in der Verwaltung, aber auch des Vorstands eines großen Industriebetriebs und eben einer betroffenen Familie. Die Realitätsanmutung wurde noch dadurch unterstrichen, dass echte Journalist*innen wie beispielsweise Werner Sonne und Gisela Marx Reporter*innen spielten, Personen also, die auch sonst im (Regional-)Fernsehen zu sehen waren. Dazwischen wurden dokumentarische Bilder eingeschnitten. Im Ergebnis passierte genau das, was jetzt gerade wieder einem Berliner Radiosender widerfuhr, der die Corona-Krise in einem satirisch-fiktionalen Beitrag für beendet erklärt hatte: Zahlreiche verunsicherte Menschen hielten den Inhalt für echt und blockierten beim Sender und den Behörden die Telefonleitungen.[1]

Anders als heute hatten die Verantwortlichen 1973 allerdings genau dies im Sinn, weil sie eine möglichst eindringliche Botschaft in die Gesellschaft senden wollten: Die Sorglosigkeit gegenüber den Folgen der Umweltverschmutzung müsse aufhören und die Bevölkerung auf eine solche Notlage vorbereitet werden. Ähnliche Mittel hatten die Gruppe um Drehbuchautor Wolfgang Menge (1924-2012), den Chef der Hauptabteilung Fernsehspiel der ARD, Günter Rohrbach (*1928) und Redakteur Peter Märthesheimer (1937-2004) auch schon zuvor angewandt, etwa bei der Doku-Fiction „Millionenspiel“ (WDR 1970, Regie: Tom Toelle) über den Zynismus der Unterhaltungsbranche, die heftige Reaktionen provoziert hatte. Bei „Smog“ übernahm der damals noch unbekannte Wolfgang Petersen (*1943) die Regie.

 

Filmstill "Smog", Regie: Wolfgang Petersen, WDR 1973.

 

Politik & Wirtschaft: Ablehnung aus Prinzip

Entsprechend fielen auch diesmal die Reaktionen aus. Schon im Vorfeld hatten Kommunalpolitiker und Wirtschaftsverbände, die sich um ihr Image sorgten, beim WDR-Intendanten Klaus von Bismarck gegen den Film interveniert. Die Rede war von einem „reißerisch aufgemachten Science-fiction-Film“ und „abenteuerlichen Missgriff“.[2]

Im Landtag forderten drei CDU-Abgeordnete daraufhin die Landesregierungim Rahmen einer kleinen Anfrage zu einer Stellungnahme auf. Zwar lehnte die Landesregierung eine „Vorzensur“ ab, übermittelte die Bedenken aber gleichwohl an den Intendanten und den Verwaltungsrat des WDR, mit der „Bitte“, den Film vor der Ausstrahlung „eingehend daraufhin zu überprüfen“[3] Es gehöre „schon fast zur Tradition“, dass Sprecher „einiger kommunal- und wirtschaftspolitischer Einrichtungen die Alarmglocke“ schlügen, bevor sie den Film überhaupt gesehen hätten, schrieb WDR-Fernsehdirektor Werner Höfer in der Programmankündigung mit leicht genervtem Unterton, um den Film anschließend als „realitätsbezogen“ und durch „gründliche Recherchen bei zuständigen staatlichen und wissenschaftlichen Stellen gedeckt“ zu verteidigen.[4] 

Das war fast noch untertrieben, denn der betriebene Aufwand war gigantisch. Nicht nur waren die Recherchen von Menge und seines ungenannten Mitautors Petersen im Vorfeld akribisch. Auch wurde das in 600 Exemplaren hektographierte Drehbuch vorab mit der Bitte um Stellungnahme an alle maßgeblichen Stellen versandt – von der Polizei bis zum meteorologischen Dienst. Es beruhte im Übrigen auf einem ministeriellen Notfallplan, den Menge bei einem Informationsgespräch im Ministerium höchstpersönlich hatte mitgehen lassen.[5] Eine Eigenproduktion dieser Dimension – tatsächlich gab es mehr als 40 Drehtage an 85 Originalschauplätzen, 90 Teammitglieder und unzählige Komparsen – sei im Fernsehen schon lange nicht mehr möglich, so Günter Rohrbach.[6] 

 

Überlebensmittel Film

All das änderte allerdings nichts daran, dass den Machern nach der Ausstrahlung von Politikern Panikmache vorgeworfen wurde. Einen Stau von 15 km Länge auf der Autobahn, wie im Film gezeigt, erklärte die Polizei für völlig unrealistisch.[7] Solche Kritik wurden allerdings recht bald von der Realität widerlegt. Der erste Smog-Alarm im Ruhrgebiet musste 1979 ausgerufen werden, in den 1980er Jahren folgten mehrere weitere, auch verbunden mit Fahrverboten. Erst danach besserte sich die Lage dank strengerer Emissionsgesetze und des Niedergangs der traditionellen Industrien. Dass das Thema noch immer aktuell ist, zeigen jedoch die Diskussionen der letzten Jahre um Stickoxide und Feinstaubbelastung in den Städten. Staus von 15 km Länge (und mehr) gehören ohnehin schon lange zum Alltag.

„Aus heutiger Sicht gilt der sehnsüchtige Blick einer Fernsehdramatik, die sich berufen fühlte, in Zeitgeschehen einzugreifen […]. Ein Fantast, wer sich vorstellt, öffentlich-rechtliches Fernsehen wäre dazu noch willens und fähig“ hat Lutz Herden zu „Smog“ geschrieben.[8] Das mag man so sehen, auch wenn solche Filme schon damals eine Ausnahmeerscheinung waren und es in diesem Medium durchaus auch heute noch Perlen zu entdecken gibt. Zudem scheint – bei aller prognostischen Präzision – auch ein gehöriges Maß an Zeitgeist durch. Er findet sich nicht nur in der eher technokratischen Annahme, Zukunft könne durch „richtige“ Pläne beherrschbar werden – die Grenzen dessen erleben wir gerade. Auch die gesellschaftsverändernde Kraft des Fernsehens würde man aus heutiger Sicht skeptischer beurteilen, und dies nicht nur, weil dieses Medium längst nicht mehr die sozial integrative Kraft hat wie noch in den 1970er Jahren mit nur drei empfangbaren Programmen und ohne die digitalen Alternativen von heute. Vielleicht beschreibt daher eine aktuelle Formulierung Günter Rohrbachs die Rolle von Kino und Fernsehen treffender: Filme seien „überlebenswichtig“, weil sie „eine zweite Wirklichkeit“ generierten, die unsere „eigene überhöht, verdeutlicht, interpretiert“.[9] Gerade in der Krise wird deutlich, wie recht er hat.

 

Credits: Smog. BRD 1972/73. Regie: Wolfgang Petersen. Der Film ist zusammen mit „Das Millionenspiel“ in der Reihe ARD Video auf DVD erhältlich.

 


[1] Vgl. zur Wirkung der aktuellen Aktion des privaten Berliner Radiosenders 94,3 RS 2 (30.1.2021).
[2] Signal unter die Haut, in: Der Spiegel 14/1973, S. 162-165, hier: S. 165 (30.1.2021).
[3] Vgl. Landtag NRW, Drucksache 7/2426 vom 12.2.1973 (30.1.2021).
[4] Werner Höfer: Smog – Schauplatz Ruhrgebiet, WDR-Presseheft vom 29.3.1973.  Wieder abgedruckt in: Martin Wiebel (Hg.): Deutschland auf der Mattscheibe. Die Geschichte der Bundesrepublik im Fernsehspiel. Frankfurt am Main 1999, S. 201-202.
[5] So jedenfalls die Darstellung von Peter Märthesheimer in Gundolf S. Freyermuth, Wolfgang Menge: Authentizität und Autorschaft. Fragmente einer bundesdeutschen Medienbiographie. In: Ders./Lisa Gotto (Hg.): Der Televisionär. Wolfgang Menges transmediales Werk. Bielefeld 2016, S. 19-216, hier: S. 129.
[6] „Wolfgang Menge war mein erster Autor“. Günter Rohrbach im Gespräch mit Gundolf S. Freyermuth und Lisa Gotto. In: Freyermuth/Gotto (Hg.), Televisionär, S. 514-523, hier: S. 522.
[7] Stichtag 15. April 2008. Das Erste zeigt „Smog“ (30.1.2021).
[8] Lutz Herden, 1973: Auto muss sein. In: Der Freitag 37/2018 (30.1.2021).
[9] „Er sagte, ich will das Gleiche wie Otto“. Filmproduzent Rohrbach über „Das Boot“, „Schtonk“, Loriot. In: Der Spiegel, 12.7.2019 (1.2.2021, Paywall).