von Susanne Pötzsch

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1. Februar 2012

Als die Organisatoren der Internationalen Filmfestspiele Berlin im Sommer 1951 zum ersten Mal den Roten Teppich ausrollten – vor dem Titania-Palast in Berlin Steglitz - und das Festival mit dem Film REBECCA von Alfred Hitchcock eröffnet wird, lässt sich eben dieser weltberühmte Regisseur auf dem ersten deutschen Filmfestival nicht blicken. Ein anderer internationaler Star jedoch beschreitet den Teppich: Joan Fontaine, die Hauptdarstellerin des Eröffnungsfilms. Die großen Namen des Filmgeschäfts bleiben der Berlinale erhalten, auch wenn sie erst 1956 von der FIAPF zum A-Festival[1] und damit zu einem anerkannten Filmfestival mit internationalem Wettbewerb erklärt wird. Entschied zuvor noch das Publikum über die Vergabe der Bären, wurde dafür nun eine internationale Jury einberufen.

Im Oktober 1950 hatte der amerikanische Offizier Oscar Martay den Anstoß zur Gründung des Filmfestivals in einer Stadt gegeben, die noch in Trümmern lag.[2] Martay war 1948 als Filmoffizier der amerikanischen Militärregierung nach Berlin gekommen, um die deutsche Filmindustrie zu beaufsichtigen, vor allem um deutsche Filmproduktionen zu genehmigen. Gleichzeitig aber war Martay dafür verantwortlich, die Berliner Lichtspielhäuser mit (ausländischen) Filmen zu versorgen.[3]Schon mit der ersten Ausgabe feiert das Festival sich selbst: Martay wird für seine Verdienste um die Gründung des Festivals der Goldene Bär verliehen.

Zum ersten Festivaldirektor wurde der Filmhistoriker und Filmjurist Alfred Bauer benannt, der zuvor bei der Ufa-Film GmbH und als filmsachverständiger Berater der britischen Militärregierung tätig gewesen war.[4] Mit Bauer kamen in den 1960er Jahren die Regie-Größen der französischen Nouvelle Vague nach Berlin und damit Filme, die radikal mit bisherigen Konventionen brachen und mit ihrer politischen Haltung Kritik nicht nur auf filmästhetischer, sondern ebenso politischer Ebene übten. Bereits 1966 wurde im Rahmen der Berlinale eine „Woche des jungen Films" eingeführt, welche die junge Filmkunst ins Licht rücken sollte. Doch zeigte sich wenige Jahre später, anlässlich eines Eklats bei der Aufführung Michael Verhoevens O.K. im Jahr 1970, dass die Protagonisten der Berlinale längst nicht bereit waren für eine offene Diskussion um politisch kontroversen Filmstoff und für all jene Fragen, die seit 1968 radikal neu gestellt wurden. 1970 führte der Streit zum Rücktritt der Jury und schließlich sogar zum Abbruch des Festivals.

„Die Berliner Festivalrebellion kam vergleichsweise spät, und sie hatte ausländische Vorbilder.“[5] Inwieweit sich die gesellschaftlichen Umbrüche ausgehend von den Unruhen des Jahres 1968 in der Entwicklung des Festivals niederschlugen und daraus die Forderung resultierte, den Focus auf eine Diskussion um und mit Film zu legen und das Filmfestival nicht mehr nur als stargekrönte Preisvergabe zu zelebrieren – dies beleuchtet Jens Brinkmann mit Blick auf die Geschichte des Internationalen Forums des jungen Films.[6]

Während in Cannes längst osteuropäische Filme zu sehen waren und das Karlovy Vary Festival bereits europäische Bedeutung erhalten hatte, blieb die osteuropäische Filmkunst der Berlinale lange fern. Die Gründe dafür liegen in der Atmosphäre des Kalten Krieges und den damit verbundenen politischen Empfindlichkeiten auf beiden Seiten.[7] 1974 schließlich lief mit S TOBOJ I BES TEBJA / MIT DIR UND OHNE DICH von Rodion Nachapetows die erste sowjetische Filmproduktion im offiziellen Festivalprogramm. Ein Jahr später sollte das Wettbewerbsprogramm mit Filmen aus Polen, der CSSR, der Sowjetunion, Ungarn, der DDR und der Volksrepublik China zum interessantesten seit vielen Jahren werden. Der ungarische Film ÖRÖKBEFOGADAS / ADOPTION von Márta Mészáros erhielt den Goldenen Bären und mit Frank Beyers JAKOB DER LÜGNER war der erste DEFA-Film auf der Berlinale zu sehen.

Anders als vielleicht die Filmfestspiele in Cannes und Venedig, die vor allem dem Anspruch gerecht zu werden versuchen, zeitgenössische große Filmkunst zu entdecken, wird mit der Berlinale als dem weltweit größten Publikumsfestival noch ein weiterer Anspruch verbunden: Ein bedeutendes Podium für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich und politisch aktuellen Stoff zu bieten. Inwieweit die Berlinale diesem Anspruch gerecht wird, wird jedes Jahr neu diskutiert.

Die Berlinale des Jahres 2012 sollte „ganz im Zeichen der Revolutionen und politischen Umbrüche stehen“. Eröffnet wurde das Wettbewerbsprogramm mit dem in der Filmkritik als unbedeutend bewerteten Beitrag LES ADIEUX A LA REINE über die ersten vier Tage der Französischen Revolution: Ein Historiendrama und Kostümfilm, der sich ganz der Liebesbeziehung von Marie Antoinette zu ihrer Vorleserin hingibt und konsequent in den Innenräumen des Palastes verbleibt. Der chinesische Beitrag BAI LU YUAN / WHITE DEER PLAIN von Wang Quan’an packt die Geschichte Chinas von 1912 bis 1938, von der Absetzung des Kaisers bis zur Machtergreifung durch die Japaner, in ein dreistündiges Bilderepos. In dem portugiesischen Film TABU von Miguel Gomes zeichnet sich das Ende eines kolonialen Regimes ab. REBELLE (Regie: Kim Nguyen) rückt die Perspektive einer Kindersoldatin im afrikanischen Bürgerkrieg in den Fokus. Und schließlich in BARBARA von Christian Petzold bildet die DDR der frühen 1980er Jahre die Kulisse für eine Dreiecksliebesgeschichte. Im Wettbewerb verzweifelt gesucht – sind es die Sektionen Forum und Panorama, die mit zahlreichen Filmen zum „arabischen Frühling“ die jüngsten Revolutionen und ihre filmischen Verarbeitungen analysieren. Die Narrationen von Revolutionen, die auf der Berlinale zu sehen waren, beruhen einerseits auf der Rettung des Selbst, des Eigenen oder Alltäglichen im Angesicht des Umbruchs. Andererseits zeigen sie den historischen Konflikt: Revolutionen die am Ende nicht nur zu einer Euphorie Welle des Erneuerungsdrangs oder der Befreiung führen, sondern auch - oder gerade - vielfach einen Zustand des Zweifelns, des Unwissens oder der Enttäuschung produzieren.

 


[1] Dieser Status wird durch die internationale Produzentenvereinigung FIAPF (Fédération Internationale des Associations de Producteurs de Films) vergeben.

[2] Martay gründete einen Ausschuss zur Gründung der Internationalen Filmfestspiele Berlin. Diesem gehörten neben Martay der britischen Offizier George Turner und sieben Vertreter der deutschen Filmwirtschaft und des Berliner Senats an. Siehe: Berlinale Archiv, Biografien, Oscar Martay, http://www.berlinale.de/de/archiv/archiv_biografien/Biografie_Martay.html.

[3] So führte Martay vergünstigte Eintrittspreise für Bewohner des Ostsektors Berlin ein und versorgte über 20 Kinos an der Sektorengrenze mit Filmvorführungen. Siehe ebd.

[4] Siehe: Berlinale Archiv, Biografien, Alfred Bauer,www.zeitgeschichte-online.de/site/40209164/default.aspx#_ednref11.

[5] Jens Brinkmann, Das Internationale Forum des Jungen Films – Vom „Anti-Festival“ zur profiliertesten Sektion der Berlinale, http://www.zeitgeschichte-online.de/site/40209164/default.aspx#_ednref11.

[6] Siehe ebd.

[7] Siehe dazu: Heide Fehrenbach, Mass Culture und Cold War Politics. The Berlin Film Festival of the 1950`s, in: dies., Cinema in democratizing Germany. Reconstructing national identity after Hitler, S. 234-253. http://www.berlinale.de/de/archiv/jahresarchive/1974/01_jahresblatt_1974/01_Jahresblatt_1974.html