von Christoph Classen

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1. Januar 2016

Die erste Szene des Films beobachtet einen Maler, der in einem schäbigen Hotelzimmer an einem Selbstporträt arbeitet. Der Künstler ist ein unscheinbarer Mann mittleren Alters mit Glatze, und der Blick der Kamera fällt abwechselnd auf ihn, sein Gesicht im Spiegel und das fast fertige Bild. Kein Zweifel, hier ist ein Könner am Werk. Doch, das wird rasch klar, bei aller Ähnlichkeit des Porträts ist der Mann nicht das, was er vorgibt zu sein. Er ist kein harmloser Künstler, sondern ein sowjetischer Agent in den USA.

Man kann bereits aus dieser Szene viel über den Film ablesen. Nicht nur, dass er sich Zeit nimmt, um seine Geschichte zu erzählen. Wer primär Action- oder Genre-Kino erwartet, wird hier enttäuscht. Die Szene gibt auch einen ersten Hinweis auf eines seiner untergründigen Themen, nämlich die Frage von Identität. Wer sind wir, und wie schaffen wir es, in schwierigen Zeiten wir selbst zu bleiben? Dazu führt uns der Film zurück in das drückende Klima der Hochzeit des Kalten Krieges, in die späten 1950er und frühen 1960er Jahre. In den USA flaute die mit dem Namen McCarthy verbundene antikommunistische Paranoia, der sogenannte second red scare, nur langsam ab. International spitzte sich die Lage nach Chruschtschows Berlin-Ultimatum von 1958, das bekanntlich in den Bau der Berliner Mauer mündete, und dem Abschuss eines US-amerikanischen Spionageflugzeugs über der Sowjetunion 1960 (U-2 Affäre) bis zur Schweinebucht-Invasion und Kuba-Krise 1961/1962 weiter zu.

Erzählt wird die Geschichte des KGB-Spions Rudolf Abel alias William Fisher (im Film gespielt von Mark Rylance) von seiner Verhaftung in Manhattan im Sommer 1957 bis zu seinem Austausch gegen den U-2-Piloten Francis Gary Powers (Austin Stowell) Anfang 1962 auf der Glienicker Brücke zwischen West-Berlin und Potsdam. Eigentlicher Held des Films ist allerdings Abels Anwalt James B. Donovan, gespielt von Tom Hanks. Nach dem Prozess, in dem Abel zu 30 Jahren Haft verurteilt wurde, erhielt Donovan von der US-Regierung den Auftrag, den Austausch Abels gegen Powers in Ost-Berlin zu verhandeln. Hintergrund war, dass bei diesem ersten Agentenaustausch zwischen den Supermächten offizielle Regierungskontakte von Seiten der Amerikaner noch unerwünscht waren. Als „der Unterhändler“ (so der deutsche Untertitel) kam daher James Donovan ins Spiel, der sich durch seine engagierte Verteidigung Abels auch bei den Sowjets als vertrauenswürdig empfohlen hatte.

Der Film besteht aus zwei Teilen, die sich recht deutlich voneinander abheben. Im ersten Teil steht der Prozess gegen Abel und die Verteidigung durch Donovan in den USA im Mittelpunkt. Als parallele Nebenhandlung (die freilich in Wirklichkeit beinahe drei Jahre später stattfand) werden der Abschuss der U-2 und der anschließende Schauprozess gegen den Piloten Powers in Moskau behandelt. Der zweite Teil spielt überwiegend in Berlin zwischen August 1961 und Februar 1962. Thema ist hier Donovans Verhandlung mit den Sowjets und Vertretern der DDR. Letztere hielten mit dem Studenten Frederic Pryor (Will Rogers) einen weiteren US-Amerikaner gefangen, der – zu Unrecht – ebenfalls der Spionage bezichtigt wurde. Während Verhaftung und Prozess in einem sommerlich-warmen, bisweilen freilich auch schwül-heißen Klima spielen, wirkt Berlin im zweiten Teil kalt und abweisend, selbst in jenen Passagen zu Anfang, in denen noch nicht Winter ist. Visuell wird dieser Effekt durch unterschiedliche Farbtemperaturen unterstützt: warme, rötliche Töne im ersten Teil, ein deutlicher Blaustich im zweiten. Ost-Berlin ist zudem als düstere Ruinenlandschaft inszeniert, in einer Szene sagt der Ost-Anwalt Wolfgang Vogel (Sebastian Koch) zu Donovan, „unsere russischen Freunde“ hätten entschieden, „dass wir unsere Hauptstadt nicht wieder aufbauen dürfen“. Hier bewegt sich der Film – wie in einigen anderen Szenen auch – im Bereich fragwürdiger Klischees: auf der einen Seite der prosperierende Westen, auf der anderen nur Ruinen und Unterdrückung.

Freilich soll die Kälte offenbar auch generell das diplomatische Klima während dieser Phase des Kalten Krieges symbolisieren. Die Dramaturgie entspricht mehr oder minder dem Monomythos der Heldenreise, wie ihn Joseph Campbell und andere beschrieben haben.[1] Dafür muss der Held Donovan die „Komfortzone“ seiner Kanzlei für Versicherungsrecht in Manhattan verlassen und den kommunistischen „Drachen“ in Gestalt der sowjetischen und ostdeutschen Verhandlungspartner niederringen. Dieser Weg des Protagonisten wird nicht zuletzt durch seine Reise in die eisige Ruinenlandschaft Ost-Berlins symbolisiert. Es spricht für die subtile Ironie des Films, dass der Held sich bei seiner Mission zunächst vor allem eines holt: eine kräftige Erkältung.

Der Vorwurf, hier werde lediglich ein überkommenes Klischee des „guten“ Westen im Kampf gegen den „bösen“ Osten bedient, würde dem Film aber ohnehin nicht gerecht – so US-amerikanisch seine Perspektive auch ist. Denn, wie eingangs bereits angedeutet, anders als in vielen zeitgenössischen Cold-War-Filmklassikern wie z. B. Hitchcocks „Torn Curtain“ (1966) ist der normative Rahmen von gutem Westen und bösem Osten eben keineswegs von vornherein zementiert. Vielmehr wird der Spion Abel als ausgesprochen sympathische Figur gezeichnet. Aus gegenseitigem Respekt wird im Laufe des Films eine Freundschaft zwischen dem amerikanischen Anwalt Donovan und ihm. Für Spielberg gibt es keinen Zweifel: Spionage haben beide Seiten betrieben, und sie war auf beiden Seiten gleichermaßen legitim oder illegitim. Gerade, dass Abel sich nach seiner Verhaftung von der CIA nicht als Doppelagent anwerben ließ und nichts verraten hat, wird ihm hier hoch angerechnet. Er sei ein „guter Soldat“, der sich geweigert habe, „seine Grundsätze aufzugeben“, so Donovan/Hanks in seinem Film-Plädoyer. Er sei sich und seinen kommunistischen Überzeugungen selbst unter der Androhung der Todesstrafe treu geblieben. Die Ähnlichkeit von Porträt und Abbild in der Eingangsszene ist also durchaus symbolisch zu verstehen.

Die Regierungen und ihre Geheimdienste, ob KGB oder CIA, folgen dagegen Regeln höherer politischer Opportunität, und im Zweifel sind sie stets bereit, dafür einen Menschen zu opfern. Dieser Zynismus, für politische Geländegewinne die eigenen Werte und Prinzipien bedenkenlos über Bord zu werfen, ist im Film beiden Seiten immanent. Die Äquidistanz erinnert an einen anderen zeitgenössischen Klassiker, nämlich „The Spy Who Came in from the Cold“ von Martin Ritt aus dem Jahr 1965 (nach dem Roman von John Le Carré), der das zynische Kalkül der Geheimdienste allerdings noch in sehr viel düstereren Farben zeichnet. Besonders schlecht kommt im Film die DDR einschließlich ihres Unterhändlers Vogel weg, weil sie den Versuch unternommen habe, die Affäre in eine internationale Anerkennung des Ulbricht-Regimes umzumünzen. Aber auch das US-amerikanische Justizsystem ist im Film keineswegs über jeden Zweifel erhaben: Abels Verteidiger muss lernen, dass die rechtsstaatlichen Garantien, etwa was die Verwertbarkeit von Beweisen angeht, nicht viel wert sind, wenn der Angeklagte ein sowjetischer Spion ist. Wer – wie Donovan – darauf besteht, dass diese Garantien ohne Ansehen der Person gelten, scheitert nicht nur, sondern macht sich auch zur Zielscheibe kollegialen Gespötts und – schlimmer noch – antikommunistischer Ressentiments. Auch in der Justiz scheint der Zweck die Mittel zu heiligen.

In einer Schlüsselszene des Films versucht der CIA-Agent Hofman, Donovan Informationen über seinen Mandanten zu entlocken, was dieser mit dem Hinweis auf seine anwaltliche Schweigepflicht verweigert. Hofman möchte ihn daraufhin überreden, es mit den Regeln in diesem Fall nicht so genau zu nehmen, schließlich gehe es um die nationale Sicherheit. Donovan veranlasst das, ihn sitzen zu lassen, nicht ohne ihn vorher darüber belehrt zu haben, dass es ausschließlich diese Regeln seien, die die Vereinigten Staaten als melting pot von Migranten überhaupt ausmachen würden. Mit anderen Worten: Wer die Grundwerte und Garantien der Verfassung angesichts der Bedrohung für irrelevant hält, beraubt sich selbst dessen, was er zu verteidigen vorgibt.

Es fällt nicht schwer, dies als politische Kritik zu interpretieren, die weniger auf den Kalten Krieg als die aktuelle Politik in den USA seit 9/11 zielt. Ganz gleich, ob man die handstreichartige Verabschiedung des sogenannten „Patriot Act“ nach dem Anschlag vom 11. September 2001 nimmt, den rechtsfreien Raum Guantánamo, die von höchster Stelle gebilligte Entführung und Folter von Verdächtigen in geheimen CIA-Gefängnissen oder die ausufernde präventive Überwachung durch die NSA und den Umgang mit Whistleblowern: Stets wurden liberale Grundwerte und Menschenrechte im Namen der nationalen Sicherheit mit Füßen getreten. Eben darum geht es Spielberg: Er möchte dem derzeit nicht nur in den USA dominanten populistischen Anti-Terror-Patriotismus, der auf Gewalt und Überwachung setzt, eine andere Form von „wahrem“ Patriotismus entgegensetzen – einen Patriotismus, der die liberalen Werte und Garantien auch in schwerem Wetter verteidigt, anstatt sie im Namen der nationalen Sicherheit eilfertig über Bord zu werfen, sobald die ersten dunklen Wolken am Horizont aufziehen. Denn – so die implizite Botschaft – wer zu denselben Mitteln greift wie seine Gegner, der wird sich am Ende auch moralisch nicht mehr von ihnen abheben.

Dieser „Verfassungspatriotismus“ ist gewiss nicht unsympathisch. Aber das, was Spielberg hier als Lösung verkauft, war historisch betrachtet durchaus Teil des Problems. Denn die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten ein junges, in mancher Hinsicht fragiles, ausgeprägt föderales Gebilde mit multiethnischer und multikultureller Bevölkerung waren (und prinzipiell noch heute sind), hat erst zu jener tiefen Unsicherheit über den Zusammenhalt und die US-amerikanische Identität geführt, die unter anderem in der antikommunistischen Paranoia der späten 1940er und frühen 1950er Jahre ihren Ausdruck fand und die im Anti-Terror-Kampf noch nachklingt. Die Aktivitäten des berüchtigten „House of Un-American Activities Committee“ (HUAC) mögen partiell gegen die Verfassung verstoßen haben, aber sie verliehen ihr zugleich auch eine besondere Bedeutung: Denn verlangt wurde hier nicht weniger als ein unbedingtes Bekenntnis zur US-amerikanischen Ordnung. Fremde Loyalitäten – seien sie kommunistisch oder ultramontan – waren verdächtig. Ein (guter) Amerikaner zu sein wurde hier zu einem Bekenntnisakt, und gerade dies trug zum pogromartigen Verlauf der politischen Säuberungen bei.[2]

Neben den bisweilen etwas holzschnittartigen Ost-West-Klischees (etwa der Parallelisierung von zwei Kletterszenen, die zum einen Schüsse auf Flüchtlinge an der Mauer in Ostberlin zeigen, und andererseits unbeschwert spielende Jugendliche in New York) ist der Film wegen vermeintlicher historischer Ungenauigkeiten kritisiert worden. Das betrifft etwa das Schicksal des Spions Abel nach dessen Austausch. Der Film deutet hier zumindest an, Abel könnte in der Sowjetunion als Verräter gegolten haben, obwohl dies de facto nicht der Fall war.[3] Was zehn Jahre zuvor, unter Stalin, noch wahrscheinlich gewesen sein mag, trifft auf die Chruschtschow-Ära so nicht mehr zu. Trotz einiger Dramatisierungen und Vereinfachungen, trotz der mythischen Stilisierung Donovans zum Helden, der den Deal im Film quasi im Alleingang ausgehandelt zu haben scheint, überrascht insgesamt, wie eng sich das Drehbuch an den historischen Ereignissen orientiert.[4]                                                                             

Ohnehin sollte der Aspekt der historischen Referentialität nicht überbewertet werden. Populäre Spielfilme funktionieren dramaturgisch nur, wenn sie sich gewisse Freiheiten nehmen, zur exakten Abbildung historischer Fakten und Ereignisse ist dieses Medium wenig geeignet. So akribisch die historische Ausstattung von „Bridge of Spies“ auch sein mag, viel weniger als Historisierung betreibt der Film die Parallelisierung von Geschichte und Gegenwart. Der Kalte Krieg wird zur historischen Allegorie einer Gegenwart, in der demokratische Gesellschaften ebenfalls mit extremen Bedrohungen umgehen müssen: Wie bleiben wir uns und unseren Prinzipien unter diesen Bedingungen treu? Was bedeutet dann Patriotismus? Und was hilft am Ende mehr, Abschottung und Dämonisierung des Gegners oder Verhandlungen? Selten waren diese Fragen so aktuell wie derzeit, und entsprechend willkommen kommt Spielbergs subtiler Appell, sie zu reflektieren, statt in populistischen Aktionismus zu verfallen.

 

USA/Deutschland 2015, Regie: Steven Spielberg; Buch: Matt Charman, Ethan & Joel Coen; Kamera: Janusz Kamiński; Musik: Thomas Newman, 141 Minuten.

 
 

[1] Vgl. Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt/M. u.a. 1999.
[2] Vgl. Thomas Mergel, "The Enemy in Our Midst". Antikommunismus und Amerikanismus in der Ära McCarthy, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 51 (2003), S.  237–258.
[3] Ob es sich bei dieser Andeutung allerdings um eine „deftige Geschichtslüge“ handelt, wie es in einer Kritik heißt, sei dahingestellt; vgl. Jan Schulz-Ojala: Unterm Radar. Old-School-Thriller vom Feinsten: Steven Spielbergs Spionagefilm „Bridge of Spies“ mit Tom Hanks zwischen allen Fronten, in: Der Tagesspiegel, 26.11.2015, S.27.
[4] Offenbar diente insbesondere der autobiographische Bericht Donovans als wichtige Quelle; vgl. James B. Donovan, Strangers on a Bridge, New York 1964.