von Andrea Löw, Frank Bajohr

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1. November 2013

Das Interview mit Andrea Löw und Frank Bajohr führte Jürgen Danyel. Die Fragen wurden schriftlich beantwortet.

 

ZOL: Warum jetzt ein Zentrum für Holocaust-Studien? Gibt es in Deutschland einen Nachholbedarf hinsichtlich der Institutionalisierung der Forschungen zum Holocaust? Was waren die wissenschaftspolitischen und fachlichen Impulse für die Gründung des Zentrums?

Frank Bajohr: Als ich 2009/10 als Fellow am Holocaust Memorial Museum in Washington arbeitete, kursierte dort ein Papier unter dem Titel: „Holocaust-Forschung in Deutschland – eine Geschichte ohne Zukunft?“. Zwar hätten – so der Tenor des Papiers – deutsche Forscherinnen und Forscher in der Vergangenheit die Holocaust-Forschung entscheidend mitgeprägt, deren Zukunft in Deutschland sei jedoch wegen der fehlenden wissenschaftlichen Infrastruktur zweifelhaft.

In der Tat gibt es in Deutschland, anders als in den USA, Großbritannien, Israel und vielen anderen Ländern, keinen einzigen Lehrstuhl, der sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte des Holocaust befasst; ebenso wenig existieren Fellowship- oder vergleichbare Förderprogramme wie in den USA. Diese werden bezeichnenderweise von deutschen Nachwuchswissenschaftlern besonders stark nachgefragt. Zwar gibt es in Deutschland eine Fülle vor allem regionaler Gedenkstätten und Erinnerungsorte, aber kein Forschungszentrum, das vergleichbar ist mit dem Center for Advanced Holocaust Studies in Washington oder dem International Institute for Holocaust Research in Yad Vashem. Auch deshalb sind die entscheidenden Impulse zur Gründung des Zentrums für Holocaust-Studien, das jetzt am Beginn einer zweijährigen Vorlaufphase steht, aus dem Ausland gekommen. Es versteht sich aber meines Erachtens von selbst, dass ein Land wie Deutschland gerade bei diesem Thema ein massives Eigeninteresse haben muss, langfristig nicht hinter die international üblichen Standards zurückzufallen.

ZOL: Wie positioniert sich das Zentrum in der deutschen und internationalen Forschungslandschaft etwa gegenüber bereits bestehenden Forschungseinrichtungen wie dem Fritz Bauer Institut, den Forschungsarbeiten am Berliner Lehrstuhl von Michael Wildt oder dem US Holocaust Memorial Museum und der International School for Holocaust Studies in Yad Vashem?

Andrea Löw: Wir sind ja keine Konkurrenten dieser Einrichtungen, sondern verstehen uns als deren Partner. Teilweise haben wir bereits Gespräche geführt, auf einige andere Institutionen werden wir in allernächster Zukunft zugehen. Vor allem mit dem United States Holocaust Memorial Museum haben wir schon konkrete Kooperationen: zum einen ein gemeinsames Fellowship-Programm, das bereits sehr erfolgreich läuft, zum anderen werden wir die Tagebücher von Alfred Rosenberg in einer wissenschaftlichen Edition gemeinsam herausgeben. Auch nach Israel bestehen bereits gute Kontakte und im Dezember werden wir beide nach Jerusalem reisen, wo wir u. a. mit Vertretern von Yad Vashem und den Universitäten in Jerusalem und Haifa Gespräche über die zukünftige Zusammenarbeit führen werden. Ähnliches kann für zahlreiche weitere Partner gesagt werden, mit denen wir z. B. im European Holocaust Research Infrastructure-Projekt (EHRI) zusammenarbeiten. Und auch auf die nationalen Einrichtungen gehen wir zu. Wir möchten nicht gegen jemanden arbeiten, sondern sehen das Zentrum als verbindende Institution, in der Projekte und Forschungsideen zusammenlaufen und verknüpft werden können.

ZOL: Das Zentrum wird für eine zweijährige Anlaufphase vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Wie ist es aufgebaut und strukturiert? Was sind Ihre konkreten Forschungsvorhaben für die ersten zwei Jahre?

Frank Bajohr: In den ersten beiden Jahren gehen wir mit relativ kleiner Besetzung an den Start. Sie besteht außer uns beiden noch aus unserem Kollegen Giles Bennett, der im Rahmen des EHRI-Programms gefördert wird, sowie aus zwei wissenschaftlichen und zwei studentischen Hilfskräften. Im Vordergrund der Vorlaufphase wird die Entwicklung und Erprobung einer hinreichenden Forschungsinfrastruktur stehen, aber auch mit der konkreten Forschung haben wir schon begonnen: Als erste Publikation des Zentrums werden wir, wie Andrea eben schon erwähnt hat, gemeinsam mit Jürgen Matthäus und den Kollegen in Washington die jüngst entdeckten politischen Tagebücher des NSDAP-Chefideologen Alfred Rosenberg in einer wissenschaftlich-kritischen Edition herausgeben. Sie können sich vorstellen, wie viel Detailarbeit allein bei der Kommentierung dabei zu leisten ist. Parallel dazu laufen die Vorarbeiten, weitere Forschungsfelder mittel- bis langfristig zu erschließen: Zusammen mit meinem Kollegen Michael Wildt überlege ich derzeit, das 2011 abgeschlossene Projekt über die Berichte ausländischer Konsuln und Diplomaten aus dem NS-Deutschland thematisch weiterzuführen, ausgedehnt auf die Länder Zentral- und Osteuropas und fokussiert auf den Holocaust und die Judenverfolgung, mit deren Folgen viele Diplomaten durch die jüdischen Flüchtlingsströme und die Erteilung von Visa unmittelbar konfrontiert waren. Auch eine vergleichende Geschichte des Antisemitismus im Europa der dreißiger und vierziger Jahre gehört zu den Vorhaben, die bei uns auf dem Zettel stehen.

ZOL: Wie soll das Zentrum langfristig etabliert und gesichert werden? Welche Modelle gibt es dafür? Ist eine dauerhafte Anbindung an die LMU vorgesehen? Soll das IfZ mit dem Zentrum zum wichtigsten Standort der Holocaust-Forschung in Deutschland entwickelt werden?

Andrea Löw: Es ist sicherlich noch zu früh, etwas Verbindliches über die langfristige Finanzierung des Zentrums zu sagen, wir haben ja erst vor kurzem mit unserer Arbeit begonnen. Die Bundesbildungsministerin Frau Wanka hat im Juli 2013 in Berlin öffentlich bekundet, dass sie die Förderung eines Zentrums für Holocaust-Studien als langfristige Aufgabe ihres Ministeriums sieht. Dies schließt natürlich die übliche Einwerbung von Drittmitteln oder die Einbeziehung weiterer Finanziers nicht aus. Ebenso sinnvoll ist eine Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität, die durch ihre Kompetenzen nicht zuletzt im Bereich der Jüdischen Geschichte ein wichtiger Partner wäre. Wir wollen uns gerne an der universitären Lehre beteiligen, auch mit dem Hintergedanken, Studierende durch Examensarbeiten und Dissertationen in unsere Forschungstätigkeit einzubeziehen. Auf jeden Fall wollen wir unser Zentrum langfristig zu einem wichtigen Kristallisationspunkt der internationalen Forschungsdiskussion über den Holocaust machen.

ZOL: Das Zentrum soll sich als „Kompetenz- und Kommunikationszentrum für die empirische Erschließung des Holocaust“ profilieren. Was hat man sich darunter vorzustellen?

Frank Bajohr: In der Vorlaufphase entwickeln wir vor allem ein System von Fellowships, das langfristig zu einem festen Forschungskolleg ausgebaut werden soll. Allein im Jahr 2014 werden sieben Fellows bei uns zu Gast sein: vier aus dem EHRI-Programm, einer/eine über ein Joint Fellowship, das wir gemeinsam mit dem Holocaust Museum in Washington betreiben, und zwei aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Im Rahmen des EHRI-Programms sind wir als ständige Mitglieder deren „Public Management Boards“ daran beteiligt, ein umfassendes Internet-Portal zur informationellen Erschließung der Holocaust-relevanten Archivbestände in Europa aufzubauen.

Zur Forschungsinfrastruktur gehören darüber hinaus auch Workshops und Konferenzen: Im April 2014 wollen wir auf einem Workshop die verschiedenen Forschungsfelder und Forschungsansätze zur Geschichte des Holocaust kritisch bilanzieren. Und im Oktober 2014 führen wir eine internationale Konferenz zum Thema „The Holocaust and the European Societies. Social Process and Social Dynamics“ durch. Ziel ist es, jenen gesellschaftlichen Prozessen im Herrschaftsalltag in Deutschland und den besetzten Ländern nachzuspüren, in die nicht zuletzt der Holocaust eingebettet war.

ZOL: Zu den selbst erklärten Zielen des Zentrums gehört die internationale Vernetzung. Durch die Mitarbeit an dem von der EU geförderten Forschungsnetzwerk EHRI haben Sie bereits Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt. Wie gehen Sie dabei mit den unterschiedlichen Forschungstraditionen und Erinnerungskulturen in Bezug auf den Holocaust um? Inwieweit behindern diese eine länderübergreifende Kommunikation und gemeinsame Forschungsarbeit?

Andrea Löw: Unsere Erfahrungen in der internationalen Zusammenarbeit, vor allem im EHRI-Projekt, sind sehr gut. Die Arbeit verläuft äußerst konstruktiv und bis jetzt habe ich nicht den Eindruck, dass unterschiedliche Forschungstraditionen diese Kooperation behindern. Gerade die Internationalisierung der Holocaust-Forschung und vor allem der Forschungsdiskussion hat ja dazu geführt, dass sich strikt nationale Perspektiven auf den Holocaust deutlich abgeschwächt und relativiert haben. Natürlich merken wir schon, dass es, über das EHRI-Projekt hinausgehend, manchmal nicht ganz einfach ist, die richtigen Ansprechpartner zu finden, weil die Forschungslandschaft mitunter etwas unübersichtlich ist, zum Beispiel in Russland ist das so. Gerade nach Osteuropa möchten wir ja Kontakte knüpfen und uns vernetzen, da fangen wir erst an. Im November machen wir hier einen ersten Schritt durch unsere Beteiligung an einer internationalen Konferenz in Kaliningrad anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht: Schließlich ist Kaliningrad (das damalige Königsberg) die einzige heute russische Stadt, in der diese Pogrome stattfanden. Ich werde unser Zentrum in Kaliningrad vorstellen und hoffe auf weitere Kontakte, die sich dadurch ergeben.

ZOL: Die großangelegte am IfZ erarbeitete Edition von Quellen und Dokumenten zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945 konzentrierte sich bislang vor allem auf klassische archivalische Zeugnisse und erscheint derzeit lediglich in gedruckter Form. Werden in der Arbeit des Zentrums künftig auch andere Formen der Überlieferung zur Geschichte des Holocaust in den Blick genommen, z. B. Fotografien oder Ego-Dokumente? In welchem Verhältnis stehen das Editionsprojekt und die Arbeit am Zentrum?

Andrea Löw: Wir arbeiten natürlich eng mit den Kollegen des Editionsprojekts zusammen. Ich selbst war ja bis Ende Juni Mitarbeiterin des Projekts und kenne es sehr gut. Aus der Edition ergeben sich ganz neue Forschungsfragen; sie bietet potenziell die Grundlage sowohl für eine integrierte Geschichte des Holocaust im Sinne Saul Friedländers, indem sie nämlich Quellen unterschiedlichster Akteure zur Verfügung stellt, aber auch für eine transnationale Perspektive. Wir hoffen, die Forschungsfragen gemeinsam mit den Kollegen der Edition anzugehen, und werden das auf unserem Workshop im Frühjahr auch machen. Ego-Dokumente sind ja gerade eine zentrale Quellengattung in der Edition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden“ (VEJ), damit werden auch wir zukünftig zu tun haben. Wir legen uns keine Beschränkungen hinsichtlich bestimmter Quellengattungen auf.

ZOL: Die Forschung zum Holocaust hat in den letzten Jahren eine Reihe von neuen Impulsen erfahren, etwa durch das Paradigma der Volksgemeinschaft als Ausgrenzungsgemeinschaft, die Erforschung des Besatzungsalltags, die Untersuchung der Rolle einzelner Institutionen bei der Planung und Umsetzung des Holocaust oder die historische Gewaltforschung. Wie kontrovers werden diese Fragen verhandelt? Was sind Ihrer Meinung nach die offenen Fragen und umstrittenen Themen der Holocaust-Forschung. Gibt es hier international unterschiedliche Debattenlagen?

Frank Bajohr: In den Niederlanden tobt derzeit ein erbitterter Streit um das Buch eines Historikers der Universität Leiden, in dem dieser nach Auswertung zahlreicher Tagebücher zu dem provokativen Schluss kommt, der durchschnittliche Niederländer habe vom Holocaust wenig gewusst und sich auch deshalb nicht an Rettungsaktivitäten zugunsten der niederländischen Juden beteiligen können. Dieser Streit verweist weit über die Niederlande hinaus auf eine zentrale Frage, die schon in der Vergangenheit für Konflikte in manchen europäischen Ländern gesorgt hat, z. B. in Polen. Die Frage lautet: Was hatte die breite Masse der europäischen Bevölkerung eigentlich mit dem Holocaust zu tun? Während die meisten Europäer nach 1945 als ebenso unbeteiligte wie unwissende „Bystander“ galten, werden diese in den letzten Jahren immer stärker der Täterseite zugeschlagen. Täter und Gesellschaft verschmelzen auf diese Weise immer stärker zur „Tätergesellschaft“ – ein Begriff, der in den letzten Jahren vor allem in Deutschland immer häufiger zu lesen ist. Das erwähnte Buch des niederländischen Historikers markiert demgegenüber eine Gegenreaktion. Das Zentrum für Holocaust-Studien wird diese wie andere Fragen aufgreifen und zum Thema seiner Workshops und Konferenzen machen. Zeitgeschichte ist bekanntlich immer auch Streitgeschichte, das gilt auch für die Geschichte des Holocaust, der auch in Zukunft ein kritischer Stachel im Fleisch bleiben wird. Speziell in Deutschland wird uns die Frage noch lange beschäftigen, wie ein derart präzedenzloser Massenmord unter maßgeblicher Initiative einer Nation durchgeführt werden konnte, deren Angehörige sich als Inkarnation von Kultur und Zivilisation in Europa begriffen.

ZOL: Wie geht das Zentrum damit um, dass verschiedene Fragen der NS-Forschung in epochenübergreifenden Vergleichs- und Verflechtungsgeschichten untersucht werden (z. B. Zwangsarbeit, Lager, Vertreibungen)? Könnte hier die institutionelle Verselbständigung der Holocaust-Forschung nach dem amerikanischen Vorbild zu einem Hindernis werden?

Frank Bajohr: Es wäre für die Holocaust-Forschung fatal, würde sie sich als verinselte Spezialforschung verstehen und sich wie ein Orchideenfach in einer thematischen Nische einrichten. Stattdessen muss sie sich zum einen stets ihrer historischen Kontexte bewusst sein, z. B. der Geschichte des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Besatzungsherrschaft. Zum anderen muss sie offen sein für Erkenntnisse von Nachbardisziplinen jenseits der Geschichtswissenschaft. So hat beispielsweise die Täterforschung von grundlegenden Erkenntnissen der Sozialpsychologie enorm profitiert. Insgesamt hat sich jedoch die Holocaust-Forschung in der Vergangenheit als offen und anschlussfähig erwiesen – auch in Amerika. Ich erinnere nur an die Verbindung von Holocaust- und Genozid-Forschung, auch wenn deren Nutzwert für die Holocaust-Forschung, gelinde gesagt, begrenzt gewesen ist.

ZOL: Woran arbeiten Sie außerdem zurzeit?

Frank Bajohr: Ich habe gerade eine Edition von Tagebüchern aus dem Jahr 1933 mit herausgegeben und beschäftige mich inhaltlich vor allem mit der Edition der Rosenberg-Aufzeichnungen. Für eine größere Monographie fehlt aber in der Vorlaufphase des Zentrums die Zeit.

Andrea Löw: Bei mir ist es ähnlich, für ein eigenes Forschungsprojekt fehlt in unserer Vorlaufphase definitiv die Zeit. Ich versuche gerade einen Verlag für eine englische Übersetzung meines in diesem Jahr erschienenen Buches „Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung“, das ich gemeinsam mit Markus Roth geschrieben habe, zu finden. Das Buch wurde gerade im Programm „Geisteswissenschaften International“ ausgezeichnet, sodass die Übersetzung finanziert ist. Ansonsten kann ich vielleicht den einen oder anderen Aufsatz noch fertigstellen, mehr geht im Moment aber nicht. Aber das ist nicht schlimm, wir haben so viele spannende Dinge im Zentrum vor, darauf freue ich mich, das ist eine wahnsinnig interessante Aufgabe.