von Christian Bornemann

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1. Oktober 2015

Das Bruce-Springsteen-Konzert am 19. Juli 1988 in Berlin-Weißensee auf der Treptower Insel war eine der größten Musikveranstaltungen der DDR-Musikgeschichte. Mit 160.000 Zuschauern stellte es einen Besucherrekord auf. Dass ein amerikanischer Künstler überhaupt in der DDR spielen durfte und dabei die Massen zu begeistern wusste, erklärt sich jedoch nicht ohne Weiteres. Erst eine Vielzahl von Faktoren ließ diese Veranstaltung Wirklichkeit werden. Dazu zählt die Wahrnehmung der Wünsche der Bürger durch die Verantwortlichen der DDR-Kulturpolitik ebenso wie die Intentionen sowohl der politischen Eliten als auch der Musikfans, die sich aus Presse- und Zeitzeugenberichten rekonstruieren lassen. Der Entstehungskontext des Konzertes soll dazu dienen, die Annäherung der DDR an die Musik des Westens und die Öffnung des Landes für westliche Künstler zu rekonstruieren. Vielleicht war am Ende die Kölner Rockband BAP für diesen Prozess ausschlaggebend? Hätte ohne eine bereits geplante Tour BAPs, die dann eiligst abgesagt wurde, das legendäre Konzert von Bruce Springsteen im Sommer 1988 überhaupt stattgefunden?
Zur Beantwortung dieser Fragen, die auch mentalitätsgeschichtliche Aspekte des Musik-Erlebens berühren, wird im Folgenden die faktische Rekonstruktion der Ereignisse in eine fiktive Erzählung eingebettet: Denkbar mögliche Stimmen von DDR-Bürgern rahmen den Text und liefern weitere Informationen. Um einen groben Überblick über die Entwicklungen der ostdeutschen Kulturpolitik bis in die 1980er Jahre zu geben, wird im ersten Teil die DDR-Musikgeschichte seit der Ankunft des Rock’n’Roll im geteilten Deutschland skizziert, ehe im folgenden Abschnitt die Bedingungen für heimische Musiker und Bands beschrieben und der Umgang mit westlicher Musik in der DDR analysiert werden. Berücksichtigt werden ebenfalls die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Kulturpolitik der DDR. Abschließend rücken die Entwicklungen der 1980er Jahre in den Fokus.

Die Schlagzeilen aus der Jungen Welt, dem Sprachrohr der FDJ, zeigen ein klares Bild, wie das in den 1950er Jahren aus Amerika herüberschwappende Phänomen Rock’n’Roll aus staatlicher Sicht idealerweise vom breiten Publikum rezipiert werden sollte. Artikel mit Titeln wie „Heulboje Elvis Presley“,[1] in denen der Musiker als „dumm, stumpfsinnig und brutal“[2] charakterisiert wurde, sollten die Heranwachsenden vor dem Einfluss dieser Musik bewahren. Die Rezeption Elvis Presleys in der Jungen Welt verweist darauf, dass der Rock’n’Roll sehr wohl Teil der DDR-Jugendkultur war. Jedoch spiegelte sich im Auftreten und der Musik des „King“ die amerikanische, imperialistische Ideologie wider, die in den Bestrebungen des Zentralkomitees der SED nach einer authentischen (ost-)deutschen Nationalkultur strikt abgelehnt wurde.[3] Der Unmut gegenüber dieser „Jugendmusik“ war nicht nur ein ostdeutsches Phänomen. Auch im Westen Deutschlands galt Presley als „feminin, sexualisiert und schwarz“, als ein Künstler, „der schwarze musikalische Einflüsse unter weißen Jugendlichen salonfähig gemacht hatte“.[4] Erst nach Antritt seines Militärdienstes und der Stationierung in Deutschland änderte sich die Berichterstattung. So feilte beispielsweise die Bravo am Image des Stars, „befreite ihn vom Vorwurf rassistischer Grenzüberschreitungen und stattete ihn mit Respektabilität aus“.[5]

Auch in anderen Gesellschaften wurde immer wieder gegen die durch den sogenannten Formverbrauchseffekt“[6] entstandene Musik gewettert. Der frühe Jazz etwa, der sich mit seiner ungewohnten Harmonik und Melodik sowie seiner komplexen Rhythmik schnell als Teil der Broadway-Kultur etablierte, wurde von einigen amerikanischen Komponisten, die vergeblich nach einer „amerikanischen Musik“ suchten, abgelehnt. Dies lag zum einen am sozialen Kontext der Musik, zum anderen daran, dass der Jazz Elemente aus Klassik, religiöser Musik und der Musik der indigenen Bevölkerung verband und zu etwas Neuem fusionierte.[7] Ähnliches gilt für den Boogie, die elektronische Musik oder den aufkommenden Heavy Metal der späten 1970er Jahre. Dass die "gerontokratische" Führung der DDR in den 1980er Jahren eine explizit ablehnende Haltung gegenüber den musikalischen Vorlieben der Jugend forciert haben könnte, ist anzunehmen. Doch ignorieren konnte die Partei- und Staatsführung diese Wünsche kaum: Seit 1984 berieten das Zentralkomitee der SED wie auch der FDJ-Zentralrat in regelmäßigen Abständen die Situation der Populärmusik.[8] Anfang der 1980er Jahre glich die Kontrolle des Rock-Musik-Sektors schließlich einer „chaotischen Kulturpolitik ohne strategisches Konzept“.[9] Gleichzeitig war „Anders sein!“ ein wichtiges Motiv der ostdeutschen Rockmusik. Die Texte einheimischer Bands wurden deutlich rebellischer, die Zielgruppe bunter. Das Erkennungsbild der Rockfans reichte nun von Kahlrasur über lange Haare bis hin zu Springerstiefel und Sandalen. Aber auch „Schmuddelpunks“ oder gut Gekleidete konnten dazu gezählt werden. Wie ,Jugend‘ war und was sie ausmachte, konnte nicht mehr verallgemeinert werden. Der Trend ging eindeutig dahin, sich von der etablierten Gesellschaft abzuheben, was sich schließlich in den Liedtexten zeigte.[10] Je heterogener das Publikum wurde, umso weniger wollte es offiziell geförderte Musik hören und kehrte den entsprechenden Bands den Rücken.[11] Die Auflagen der SED für einheimische Musiker, ihre Songs dem Thema Frieden anzupassen, vermochte die Situation nicht zu verbessern und stieß auch bei den Musikern auf Unmut.[12] Deshalb öffnete man sich innerhalb des Zentralkomitees der SED in den 1980er Jahren vorsichtig dem Westen und begann, bundesdeutsche Musiker und Bands einzuladen.
Im Jahr 1984 sollte die Kölner Band BAP bei der Großveranstaltung „Rock für den Frieden“ im Großen Saal des Palastes der Republik auftreten. Dem Konzert sollte eine Tour durch zwölf weitere Städte der DDR folgen. Allerdings wurde im Vorfeld ein Interview des BAP-Sängers Wolfgang Niedecken in der Sendung „Rund“ des DDR Jugendfernsehens sinnentfremdet ausgestrahlt. Der Band waren politische Statements jedoch wichtig, daher erweiterten BAP ihr Repertoire um den Song „Deshalv spill’ mer he“[13] – einen Song, der sich provokant an die „Clique, die sich Volksvertreter nennt“ richtete, Meinungsfreiheit und Pazifismus einforderte und den „Kalten Kriegern“[14] die Nachricht „Uns kriegt ihr vor keinen offiziellen Karren gespannt“ entgegenwarf.[15] Dies rief in der DDR, auf höchster politischer Ebene die zu erwartende Empörung hervor. Der Song wurde als ein „den Sozialismus beleidigendes Lied“ und eine „Provokation des Feindes“ abgestempelt.[16] In der Konsequenz wurde die Konzertreise, obgleich die Band schon in Ostberlin logierte, kurzerhand abgesagt, als Ersatz sprang die ostdeutsche Band Puhdys ein.[17] Zudem entwarf das Politbüro eine Vorlage zum „Auftreten von Rockgruppen aus der BRD in der DDR“. Diese sah vor, auf derartige Gastspiele künftig zu verzichten.[18]

Dieser Verlust für die ostdeutschen Musikfans und der gleichzeitig sinkende Beliebtheitsgrad von DDR-Rock-Bands seit Anfang der 1980er Jahre führte zu einem Vakuum innerhalb der Szene. Die DDR-Rock-Bands konnten oder wollten sich den Entwicklungen aus dem Ausland nicht anpassen, wurden doch die aufkommenden Genres Punk, New Wave oder Heavy Metal vom FDJ-Zentralrat als nihilistisch und gewalttätig eingestuft.[19] Selbst die Versuche einiger neu gegründeter Bands, sich musikalisch und textlich der gerade im Westen aufkommenden Neuen Deutschen Welle anzupassen, verhallten weitgehend ungehört. Schon 1982 hatte die Leitung des staatlich gelenkten Rundfunks entschieden:

„Wir haben festgelegt, dass alle neu geschriebenen Titel von DDR-Autoren, die in die Richtung der Neuen Deutschen Welle gehen könnten, einer besonderen Prüfung unterzogen werden, damit die großen Verdienste unseres Landes um die Entwicklung einer deutschsprachigen Rockmusik nicht durch Abflachung von Werken der Neuen Deutschen Welle zunichte gemacht werden.“[20]

Der Verlust einer breiten Zuhörerschaft durch eine verzögerte Entwicklung der Musikbranche und fehlende, wenn nicht gar unterdrückte Genres, führte letztlich zu einer neuen Strategie der Kulturpolitik.

 

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Seit Tagen wurde von diesem Geheimtipp gesprochen – das konnte ich mir nicht entgehen lassen. Also brach ich mit Freunden zum Brandenburger Tor auf, wurde doch gemunkelt, dass es im Westen nicht weit der Mauer an diesem Abend ein Konzert mit vielen amerikanischen Künstlern geben solle. Die Musik der ganz Großen endlich einmal live hören! Als wir ankamen, waren schon unzählige Menschen da. Immer wenn der Wind in unsere Richtung wehte, hörten wir ihn klar und deutlich: den Rockstar David Bowie. Einige tanzten, andere standen geradezu andächtig und lauschten den ungewohnten Live-Klängen.

Als ein „Grüße an unsere Freunde jenseits der Mauer“ aus dem Westen schallte, brach frenetischer Jubel aus. Einige stimmten in die drüben aufkommenden „Die Mauer muss weg!“-Rufe mit ein. Das war Wahnsinn! Es war elektrisierend. Man konnte gar nicht anders als mitzumachen. Die Mauer muss weg! Es war echt laut. Als die Volkspolizei dann aber versuchte, die Ordnung wiederherzustellen, verschwand ich schnell mit meinen Freunden, damit wir diesen schönen Abend nicht eventuell auf der Polizeiwache beenden mussten.
***

 

Das anlässlich der 750-Jahrfeier der Stadt veranstaltete Festival in West-Berlin zu Pfingsten 1987 zog auf bundesdeutscher Seite ein breites Medienecho nach sich, in dem auch die Versammlung der Fans auf Ostberliner Seite immer wieder anklang und gar als „Volksaufstand à la 17. Juni 1953“ bezeichnet wurde.[21] In der DDR wurde das Ereignis dagegen wenig überraschend lediglich in zwei identischen Zeitungsartikeln – gemäß der offiziellen Lesart geglättet – thematisiert. So wurde das westliche Medienecho als Provokation auf den bevorstehenden Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik umgedeutet und den CDU/CSU-Vertretern von „Springer bis zum Bayern-Kurier“ in die Schuhe geschoben.[22]
Allerdings reagierte die Veranstaltungspolitik der DDR auf dieses Vorkommnis mit einem radikalen Richtungswechsel, der umgehend Umsetzung fand. Da das lebhafte Interesse der Bevölkerung an musikalischen Großveranstaltungen mit internationalen Künstlern erkannt war, gestaltete sich auch die Kulturpolitik wieder „weltoffener“. Eine Wiederholung der Ereignisse zu Pfingsten sollte jedoch mit aller Macht verhindert, die „jugendliche Rockbegeisterung in prosozialistische Haltung kanalisier[t]“ werden.[23]

Ein FDJ-Sekretär, der zur Aufsicht über die stattfindenden Konzerte eingeteilt wurde, schreibt später in seinem Jahresbericht:

1987
Das Konzert der Gruppe Barclay James Harvest am 14. Juli 1987 im Berliner Treptow Park kann als großer Erfolg bezeichnet werden. Die 45.000 Zuschauer konnten die hervorragenden Organisationsfähigkeiten unserer Genossen von FDJ und Volkspolizei bestaunen. Auch die Musiker äußerten selbst, dass sie fortan in mehr sozialistischen Ländern auftreten wollen, um unsere friedliebende Kultur besser kennenzulernen.[24] Der 750. Geburtstag Berlins, der Hauptstadt unserer Republik, wurde würdig begangen. Die Musiker bekundeten dabei auch ihrer Solidarität zu unseren sozialistischen Brüdern und Schwestern in Nikaragua,[25] sehr zum Gefallen des Publikums. Ebenfalls auf den Wiesen des Treptower Parks gastierte am 17. September der amerikanische Folk-Rock-Musiker Bob Dylan. Die Musikbegeisterten unserer Republik drängten zu der Veranstaltung, sodass im Vorfeld ein Ausverkauf der Karten zu verzeichnen war.[26] Von schädlichen westlichen Einflüssen war an diesem Abend nichts zu spüren, stand doch das Konzert ganz unter dem Motto unserer Konzertreihen in Abgrenzung zu denen des Klassenfeindes – dem Frieden.[27] Aber nicht nur der Frieden wurde besungen, vielmehr bezog auch der Künstler selbst klar Position: Er beklagte die ausbeuterische und inhumane Gesellschaftsordnung seines Heimatlandes ebenso, wie Imperialismus, Rüstung und Militarismus. Besonders erfreulich: Mit diesem Konzert ist es uns gelungen, sowohl die Jugendlichen, als auch die älteren Generationen anzusprechen und von der Überlegenheit des Sozialismus zu überzeugen.[28]

1988
Die Solidaritätsveranstaltung zugunsten des neunten Jahrestages der Sandinistischen Revolution in Nikaragua unter dem Motto des 5. Berliner Rocksommers wurde dieses Jahr in der alteingesessenen Örtlichkeit des Treptower Parks durchgeführt.[29] Hauptgast war der amerikanische Sänger Bruce Springsteen in Begleitung seiner E-Street-Band. Das Konzert lockte 160.000 Menschen an.
[...]

Aufgrund des regen Zulaufs zu diesen Konzerten entschied der FDJ-Zentralrat am 28. Juni 1988: „Rockkonzerte mit Zehntausenden Zuschauern haben sich als wirksame Form der massenpolitischen Arbeit der FDJ unter der Jugend bewährt.“[30] Der Applaus, der vermutlich ausschließlich den auftretenden Künstlern galt, wurde auf die FDJ projiziert.[31]

 

***
Über eine solche Gelegenheit freute sich Anke Müller, eine 18 Jahre alte Schülerin und begeisterte Musik-Enthusiastin aus Berlin-Pankow, besonders: Sie hat sich auf gut Glück als Redakteurin beim Kulturteil der
Berliner Zeitung beworben, die sie für ihren ersten Bericht zum Konzert Bruce Springsteens beim 5. Berliner Rocksommer schickte. Als Mitglied der „Springsteen-Clique“ ihrer Schule, einer eingeschworenen Gemeinschaft von Rock-Fans, konnte sie es kaum glauben, den „Boss“ endlich einmal live zu erleben. Zur Musik brachte sie ihr Vater, dessen Regale voller geschmuggelter LPs aus dem Westen waren. Sie hatte sich vorgenommen, all denen, die an diesem Abend nicht dabei sein konnten, zu zeigen, was es mit dem amerikanischem Geist von Freiheit – besungen von Springsteen – auf sich hatte. Ein Tag später reichte sie folgenden Artikel ein:

Ein majestätisches Bild bot sich den Besuchern des 5. Berliner Rocksommers am vergangenen Dienstag-Abend auf der Treptower Insel. Unter strahlend blauem Himmel bewunderten die Fans eine derart große Bühne, für deren Verwirklichung Kabel und Traversen aus dem Brückenbau geholt werden mussten.[32] Bei Dämmerung war es dann soweit: Von überall strömten Menschen auf das Festivalgelände. Der Andrang war so groß, dass die Ordner überfordert waren und einfach aufhörten zu kontrollierten. Sie machten die Wege frei, um schlimmeres zu verhindern. Absperrungen wurden übersprungen und umgekippt. Offiziell wurden 160.000 Besucher erwartet – die Dunkelziffer lag bei 200.000. Hinter den Bauzäunen standen die, die keinen Platz mehr erhalten haben, aber trotzdem lauschen wollten.[33] Tausende jubelten auf, als er die Bühne betrat. Der „Boss“ persönlich, im Gefolge die E-Street-Band. Gleich nach den ersten Akkorden von „Badlands“ war die Stimmung prächtig. Sie sollte es den ganzen Abend bleiben. […] Als sie dann den Temptation-Klassiker „War“ mit der einprägsamen Zeile „What is it good for?“ spielten, hatte die Ekstase auch die Ordner gepackt, die lieber feierten, als weiter die Menschen zu kontrollieren. Die Menge hatte sowieso nur die Musik im Sinn. Die Stimmung glich einem Volksfest. […] Leider war die Akustik im ersten Teil zu schlecht. Das Gelände war zu groß, die Lautsprecher zu leise. Wenigstens sorgten die Videoleinwände dafür, dass jeder den „Boss“ sehen konnte.[34] […] Dann sagte Springsteen mit starkem Akzent: „Ich bin nicht für oder gegen eine Regierung. Ich bin hier um Rock’n’Roll für euch zu spielen, in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren abgerissen werden“[35] – Jubel, einige schwenkten selbstgemalte USA-Flaggen.[36] Weiter ging es mit dem Nummer-Eins-Hit „Born in the USA“, einem Lied, das den Schrecken des Vietnam-Krieges und dessen Soldaten besingt. Springsteen machte sich einen Spaß daraus, nur das Publikum singen zu lassen. […]
***

 

Nach Übergabe und Durchsicht gab die Berliner Zeitung folgenden Bericht in Druck:

Ein eindrucksvolles Bild bot sich den über 160.000 Besuchern des 5. Berliner Rocksommers am vergangenen Dienstag-Abend auf der Treptower Insel. FDJ und SED scheuten keine Kosten und Mühen, um das Konzert zwei Wochen zuvor mit einer gewaltigen Veranstaltung zu überbieten.[37] Im Schein der roten Abendsonne betrat der „Workingclass-Hero“ Bruce Springsteen mit seiner E-Street-Band die Bühne – die Zuschauer jubelten. Gleich nach den ersten Akkorden von „Badlands“ zollten die Zuschauer den Veranstaltern mit bester Laune und Singstimme Tribut. […] Mit dem Lied „War“ und seinem prägnantem Refrain „What is it good for?“ besang Springsteen die sozialistische Botschaft von Liebe und Frieden. Mit anderen Liedern will er Jugendlichen, die in der Welt des Kapitals von Arbeitslosigkeit (und Armut) bedroht sind, Hoffnung geben und Mut machen.[38] Die Volkspolizei und FDJ sorgten für Ordnung, was einen reibungslosen Ablauf des Konzertes gewährleistete. […] Auch die Technik war an diesem Abend vorzüglich, durch den raffinierten Lichteinsatz kam Springsteens Vitalität so recht zur Geltung.[39] Wenn er von den Missständen in seiner Heimat spricht, von der Einsamkeit, Ruhelosigkeit und Enttäuschungen durch die würdelose Arbeitslosigkeit, schafft Springsteen, dem vieles davon selber in der Jugend wiederfuhr, Identifikationsmöglichkeiten.[40] […] Mit dem Nummer-Eins-Hit „Born in the USA“ kritisierte Springsteen das militaristische und imperialistische Vorgehen Amerikas und die schlechten Arbeitsbedingungen und sozialen Absicherungen. Die Zuschauer stimmten ihm mit vollem Gesang zu. Dabei unterbrach Springsteen immer mal wieder die Band, um nur das Publikum singen zu lassen, das diese Chance begrüßte. […]

Über diese gefilterte mediale Berichterstattung sollten all jene Leserinnen und Leser, die sich nicht intensiver mit Rock-Musik, den Künstlern und deren Intentionen auseinandersetzen konnten, wollten oder durften, geprägt und beeinflusst werden. Diejenigen aber, die dabei gewesen waren, bekamen vor Augen geführt, wie die Logik des DDR-Mediensystems funktionierte: Mit den Zeitungsartikeln sollte nicht informiert, sondern politisch-ideologische Bildung betrieben werden. Die Berichterstattung wurde kaum der Leserschaft angepasst – entsprechend wenig glaubwürdig mussten sie dieser erscheinen.[41] Für derartige Zensurmaßnahmen war die Abteilung Agitation und Propaganda des Zentralkomitees der SED zuständig. Ausgewählte Personen, zum Teil ohne jegliche journalistische Erfahrung, überprüften Tag für Tag die Inhalte der Zeitungsartikel. Dabei wurde besonders auf die ideologischen Phrasen geachtet.[42] Das Beispiel des fiktiven Zeitungsartikels zeigt, dass das reale Geschehen am 19. Juli 1988 nicht dem in den Zeitungen geschilderten entsprach. Die „Stürmung“ des Konzertgeländes von jenen, die keine Karte hatten, oder das Schwenken amerikanischer Flaggen, wurden konsequent verschwiegen.[43] Dabei ließe sich das pro-amerikanische Verhalten in diesem Fall noch als Solidaritäts- oder Identifikationsbekundung mit dem Künstler interpretieren, da sowohl Album- als auch EP-Cover von Born in the USA Merkmale des Star-Spangled Banners aufweisen.

Doch wurden nicht nur bestimmte Ereignisse in der offiziellen Berichterstattung verschwiegen, das Konzert Bruce Springsteens insgesamt war hochgradig ideologisch aufgeladen. So wurde in der Vor- und Nachberichterstattung wiederholt auf die „Solidarität für das antiimperialistische Nikaragua“ [44] hingewiesen, FDJ und ZK als Veranstalter, Organisatoren und Durchführende gelobt und die in den Texten aufgezeigten Missstände der amerikanischen Politik aufgegriffen, um sie einmal mehr gegen den „Klassenfeind“ zu Felde zu führen.[45]
Musik kann in vielen Aspekten politisch sein und muss deshalb immer in ihrem Kontext betrachtet werden. Die offensichtliche oder unterschwellige Thematik der Texte, die Wahl des Genres, die Performance und Gesten der Künstler, der Aufführungsort, die Gruppennamen, Lied- oder Albentitel, die Gestaltung der Plattencover und die Vertriebsweise sind immer auch politisch konnotiert. Den meisten Hörern fällt dies allerdings erst auf, wenn sich Musiker ganz konkret politisch äußern.[46]
Dies hat Bruce Springsteen, wenn auch indirekt, mit seinen Ausführungen auf der Bühne getan. Dabei nahm er keine konkrete Haltung ein, sondern stellte grundlegende Bedürfnisse nach Freiheit, Glück und Harmonie in den Fokus. Die Worte, mit denen er seine Hoffnungen formulierte, „dass alle Barrieren eines Tages abgerissen sein würden“, waren bewusst gewählt. Seine Begleiter hatten ihm zuvor noch geraten, das Wort „Mauer“ zu vermeiden, um die Gastgeber nicht zu provozieren.[47] Doch lag seine Priorität ohnehin nicht auf der Übermittlung politischer Botschaften, sondern allein auf seiner Musik, in deren Texten die Idee der Freiheit durchweg zu finden ist. Trotzdem wurde seine Ansprache bei der zeitverzögerten Radioübertragung herausgeschnitten. Schon zuvor hatte es Unstimmigkeiten zwischen Künstler und Veranstalter gegeben, mussten doch die Konzertplakate geändert werden, nachdem Springsteen vom Motto „Nikaragua im Herzen“ des Berliner Rocksommers erfuhr. Anscheinend wurde ohne dessen Wissen das Konzert in Verbindung mit der sandinistischen Revolution gestellt.[48] Springsteen verzichtete darauf, den Sozialisten „Freiheit zu erklären“, wehrte sich im Gegenzug aber auch erfolgreich gegen eine Verbindung des Konzertes mit dem Gedanken an den „antiimperialistischen Kampf Nikaraguas“

Die Menschen sehnten sich nach populärer, westlicher Musik. Die Politik der DDR passte sich diesen Wünschen zumindest partiell an – und suchte zugleich einen Nutzen daraus zu ziehen: Musikalische Großveranstaltungen konnten durch eine entsprechende mediale Berichterstattung eine politische Sinnbildung erfahren. Wahrscheinlicher ist, dass im Verlauf des Springsteen-Konzerts weder eine pro-kapitalistische noch eine anti-sozialistische Gesinnung das Publikum durchdrang, sondern allein die Musik im Mittelpunkt stand.

 

[1] „Heulboje Elvis Presley – Geschütz im Kalten Krieg“, in: Junge Welt, vom 19. November 1958, S. 1.
[2] In: Junge Welt, vom 5. Februar 1957, S. 3
[3] Uta G. Poiger, Jazz, Rock, and Rebels: Cold War Politics and American Culture in a divided Germany, Berkeley 2009, S. 59.
[4] Detlef Siegfried, Time is on my side, Göttingen 2006, S. 108.
[5] Ebd., S. 108.
[6] Dietmar Elflein, Schwermetallanalysen. Die musikalische Sprache des Heavy Metal. Bielefeld 2010, S. 34–36. Der „Formverbrauchseffekt“ bezeichnet den Einfluss unterschiedlicher Musikarten auf einen Stil oder Genre, der dazu führt, dass etwas Neues entsteht. In der einschlägigen Fachliteratur ist der Terminus allerdings negativ besetzt, da etwas Bestehendes entfremdet und zerstört wird. Somit ist die neu entstandene Musik „schlechter“ als der alte Stil.
[7] Thomas Schmidt-Beste, „Was ist ,amerikanische‘ Musik? Identitätssuche und Fremdwahrnehmung“, in: Philipp Gassert (Hg.), Was Amerika ausmacht. Multidisziplinäre Perspektiven, Stuttgart 2009, S. 177–194, hier S. 188f.
[8] Michael Rauhut, Rock in der DDR. Bonn 2002, S. 95–98.
[9] Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR 1945–1990. Köln 1995, S. 187.
[10] „Er ist anders“ von Sandow auf „Kleeblatt-LP“, 1988.
[11] Bernd Lindner, DDR Rock & Pop. Köln 2008, S. 151.
[12] Vgl. Rauhut, Rock in der DDR (wie Anm. 8), S. 95.
[13] Kölner Dialekt für „Deshalb spielen wir hier“.
[14] Bezeichnung Niedeckens für die Führungsetagen beider deutschen Staaten. Zu sehen in einem Beitrag des MDRs über das geplatzte Konzert in Berlin mit Originalaufnahmen und Interviews.
[15] Siehe dazu Linder, DDR Rock & Pop (wie Anm. 11), S. 164. Niedecken kritisierte die fehlende Programmfreiheit des Senders und erinnerte sich, dass BAP der Meinung sein sollten, dass die SS-20 eine „Friedensrakete“ sei, was er scharf ablehnte.
[16] Rauhut, Rock in der DDR (wie Anm. 8), S. 97.
[17] Linder, DDR Rock & Pop (wie Anm. 11), S. 165.
[18] Michael Rauhut, „,Wir müssen etwas Besseres bieten.‘ Rockmusik und Politik in der DDR“, in: Deutschland Archiv, Jg. 30 (1997), H. 4, S. 572–587, hier S. 585.
[19] Rauhut, Rock in der DDR (wie Anm. 8), S. 98f.
[20] Brief von Horst Fliegel (Leiter der Hauptabteilung Musik beim Staatlichen Komitee für Rundfunk) an Achim Becker (Vorsitzender des Komitees), 13.10.1982, BArchP, DR 6, 925. Zitiert nach Rauhut, Rock in der DDR (wie Anm. 8), S. 99–101.
[21] Rauhut, Rockmusik und Politik in der DDR (wie Anm. 18), S. 586.
[22] Fritz Noll, „Wer macht Krawall?“ In: Neues Deutschland, Nr. 135, vom 11. Juni 1987, S. 2; „Wer macht Krawall?“ In: Berliner Zeitung, Nr. 135, vom 11. Juni 1987, S. 2.
[23] Rauhut, Rock in der DDR (wie Anm. 8), S. 106.
[24] Ralf Dietrich, „Heiße Rhythmen unter nächtlichem Himmel“, in: Neues Deutschland, Nr. 165, vom 16. Juli 1987, S. 6.
[25] „Ihr wart phantastisch“, in: Neues Deutschland, Nr. 165, vom 16. Juli 1987, S. 6.
[26] In: Berliner Zeitung, Nr. 218, vom 16. September 1987, S. 8.
[27] Matthias Gehler, „Rockkonzert des Jahres“, in: Neue Zeit, Nr. 219, vom 17. September 1987, S. 8.
[28] Ralf Dietrich/Günter Görtz, „Rockpoesie im Treptower Park“, in: Neues Deutschland, Nr. 221, vom 19. September 1987, S. 4.
[29] „Standpunkt, Wille, Körnten – das brauchen wir“, in: Neues Deutschland, Nr. 155, vom 2. Juli 1988, S. 3.
[30] Rauhut, Rock in der DDR (wie Anm. 8), S. 106.
[31] Ebd.
[32] Interview mit Gerald Ponesky, Produktionsleiter des Konzertes, in der MDR-Dokumentation „Mein Sommer ’88 – Wie die Stars die DDR rockten“, ausgestrahlt im Juli 2013.
[33] Thomas Purschke, „Sehnsucht nach Freiheit, so riesengroß“, in: taz.de, vom 19. Juli 2013.
[34] Steffen Gerth, „Legendäre Konzerte. Stars and Stripes über Ost-Berlin“, in: Spiegel Online, vom 19. Juli 2008.
[35] Lars von Törne, „Konzert in Berlin-Weißensee. Bruce Springsteen: Born in the DDR“, in: Der Tagespiegel, vom 16. Juli 2013.
[36] Gerth, Legendäre Konzerte (wie Anm. 34).
[37] Frank Breit, „Rockfest für den Frieden“, in: Neue Berliner Illustrierte, Ausgabe 26 (1988), S. 10f.
[38] Dirk Zöllner, „Das Motto der Konzerte: Nikaragua im Herzen“, in: Neues Deutschland, vom 15. Juli 1988, S. 6.
[39] Martina Krüger/Ralf Dietrich, „Songs über die Liebe und für eine Welt, in der sie gedeiht“, in: Neues Deutschland, vom 21. Juli 1988, S. 4.
[40] Birgit Walter, „Von glühender Energie und vibrierender Kraft. Bruce Springsteen elektrisierte sein Publikum“, in: Berliner Zeitung, vom 21. Juli 1988, S. 7.
[41] Wolfgang Mühl-Benninghaus, Unterhaltung als Eigensinn. Eine ostdeutsche Mediengeschichte. Frankfurt am Main 2012, S. 315f.
[42] Günter Höhne, „Prenzlauer Berg und Jammertal. Ab heute in der KulturBrauerei: Zeitzeugnisse der 80er Jahre über einen verhinderten Dialog zur Stadterneuerung“, in: Der Tagesspiegel (1996), online abrufbar auf der Seite Industrieform DDR.
[43] Siehe hierzu Erik Kirschbaum, Bruce Springsteen. Rocking the Wall. The Berlin Concert that changed the World. New York 2013, S. 111 und S. 105.
[44] „Radrennbahn Weißensee: 5. Berliner Rocksommer“, in: Neues Deutschland, vom 14. Juli 1988, S. 8.
[45] Peter Venus, „Kaum drei Wochen waren Zeit“, in: Berliner Zeitung, vom 23. Juli 1988, S. 9.
[46] Ute Canaris, „Dienerin, Gefährtin oder Wegweiserin? Was Musik mit Politik zu tun hat“, in: dies. (Hg.) Musik//Politik. Bochum 2005, S. 21–47, hier S. 24.
[47] Kirschbaum, Rocking the Wall (wie Anm. 43), S. 93.
[48] Siehe dazu von Törne, Bruce Springsteen: Born in the DDR (wie Anm. 35).