Die Abbreviatur 9/11 ist längst zum Synonym für die zeitgenössische Erscheinungsform eines bestimmten Typus von Terror geworden: die geplante Auswahl eines meist öffentlichen Ortes als Ziel des Anschlags mit der Intention, eine möglichst hohe Zahl von Menschen zu töten und zu verletzen (Fahrgäste einer U-Bahn oder eines Busses, BesucherInnen eines Konzerts, Gäste eines Hotels oder eines Restaurants). Für die Attentäter ist der eigene Tod Teil der mörderischen Inszenierung. In der Tat, eine „mörderische Inszenierung“, denn, was mit den Anschlägen auf die Twin Towers in New York seinen Anfang nahm, erweist sich als bewusstes terroristisches „Kalkül“: Die zu erwartende, mediale Verbreitung der Bilder einer terroristischen Tat wird zum fixen Bestandteil der „Botschaft“ des Terrors. Die Bilder vom Geschehen erhöhen den symbolischen Anteil, der jedem terroristischen Akt innewohnt: So stehen die Bilder der brennenden und später einstürzenden Twin Towers auch symbolisch für die Tatsache der Angreifbarkeit moderner Gesellschaften, ebenso wie der zerstörte, rote Doppeldeckerbus, ein Wahrzeichen der Stadt London, zum Synonym einer sich jederzeit und an jedem Ort ereignenden Gewalttat werden konnte. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 formierte sich meines Erachtens eine spezifische, mediale „Ikonografie des Terrors“[1]: Bilder von Attentätern – meist jüngere Männer – in der Regel Passbilder von mehr oder weniger schlechter Qualität, Fotografien von Einsatzkräften, die inmitten von Rettungswägen Opfer bergen, Bilder von verletzten oder durch den Anblick des Geschehens traumatisierten Passanten, Fotografien von Trauernden umgeben von Kerzen und Blumen und zuletzt Bilder von betroffen und dennoch entschlossen wirkenden PolitikerInnen. Mit der medialen Veröffentlichung der Bilder intensiviert sich zugleich eine Debatte, die nach Bedeutung und Rolle von Bildern im Kontext von Terror und Krieg fragt und insbesondere die ethischen Grenzen des Zeigbaren in den Mittelpunkt rückt[2]. Denn mit den Bildern ist ein sich selbst als religiös-fundamentalistisch bezeichnender Terror „mitten im Westen“ angekommen. Ganz besonders und massiv in New York am 11. September 2001.
Daher gilt es, diese Bilder noch einmal in den Blick zu nehmen – und dies unter drei Aspekten: (1.) Aus zeithistorischer Perspektive betrachtet, handelt es sich um Bild-Quellen, die über spezifische Motive und ihre visuellen Stilmittel die „Geschichte“ eines terroristischen Aktes erzählen. In diese Erzählung eingelagert sind andere gesellschaftliche Diskurse, die sich grob gesagt in drei Stränge unterteilen lassen: in eine spezifische politische Ikonografie, eine visuelle Geschlechter-Anordnung und einen dichotomen Raum, der sich zwischen „uns“ und den „anderen“ aufspannt. Von diesen drei Diskursverschränkungen ausgehend, werden zwei weitere Thematiken problematisiert: Welche (2.) Funktion spielen digitale Bild-Archive als virtuelle Terrains kollektiven Gedächtnisses und damit Voraussetzung kollektiver Erinnerung? Und (3.) welche spezifische Symbolik geht von den Bildern aus, in die sich Prozesse von Ästhetisierung, Inszenierung und Emotionalisierung einschreiben?
Erzählen mit Bildern: visuelle Anordnungen
Obwohl eine Fotografie gemeinhin als nahezu paradigmatisch für das Einfrieren eines Augenblicks gilt[3], so gibt es gute Gründe für die Annahme, dass Bilder eines Ereignisses das Geschehene auf spezifische, visuelle Weise „erzählen“ und damit konstruieren. Die Bedeutung des Narrativen ist auf mehreren Ebenen anzusiedeln. Ausgehend vom historisch-anthropologischen Diktum Clifford Geertz‘, wonach „der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist“, wobei „Kultur als dieses Gewebe“ zu sehen ist[4], steht das Soziale und das Narrative auf spezifische Weise miteinander in Beziehung: Jegliche Konstruktion von Identität verläuft narrativ. Das selbstgesponnene Bedeutungsgewebe in Gestalt einer Erzählung erlaubt es den Individuen, eigene Handlungen wiederzuerkennen, vergangene Geschehnisse zu erinnern und zugleich symbolisch zu verstehen[5], da Erzählmuster nicht erfunden werden müssen, als Ausdrucksform stehen sie bereits zur Verfügung. Andererseits – und in diesem Kontext gewichtiger – generieren Gesellschaften ihre eigenen Erzählungen: Unerfahrbare, „transzendentale“ Entitäten wie ‚Gesellschaft‘ oder ‚Nation‘ werden begreifbar, können als Matrizen für Identitätsbildungsprozesse dienen. Die Narration einer „imaginären Gemeinschaft“[6] tritt besonders dann in Erscheinung, wenn eine Auseinandersetzung um die hegemoniale Deutung der Geschichte der Gemeinschaft und die daraus abzuleitenden Handlungen entbrennt oder ein unvorhergesehenes Ereignis eintritt, das eine sofortige (Re-)Konstruktion der nationalen oder transnationalen Geschichte notwendig macht. Die Chiffre 9/11 bringt ein derartiges Ereignis symbolisch zum Ausdruck. Was zeigen die Bilder, die von diesem Ereignis erzählen? Und wie sind die Bilder beschaffen, die auch noch Jahre später für dieses Ereignis stehen?[7]
Gemäß einer narrativen Logik, an der sich das Folgende orientiert, steht zu Beginn immer „eine geordnete Situation“, „deren Gleichgewicht von einer beliebigen Kraft gestört wird“[8]. Das Ereignishafte selbst tritt zunächst in das Blickfeld. Mehr noch als in den journalistischen Texten, in denen häufig die rhetorische Figur des totum pro parte bemüht wird – angesiedelt zwischen Metonymie und Synekdoche: „Die Amerikaner werden angegriffen“ – werden bestimmte Bilder für die Berichterstattung und das spätere Gedenken zentral, die Bilder des Ereignishaften und des Ortes selbst: Es handelt sich um die Bilderfolge des Anflugs des zweiten Flugzeugs, während der Nordturm des WTC bereits brennt, die einstürzenden Türme und der Rauch, der sich über Manhattan ausbreitet. Diese Bilder ohne ein „Davor“ erweisen sich als Basis, auf der (Bild-)Diskursstränge aufgesetzt werden können, die sowohl das Sprechen von einer „Wendezeit“, einem der Ruptur durch das Ereignis geschuldeten, „verschobenen“ Beginn des 21. Jahrhunderts und einem „kollektivem Trauma“ der USA, allererst ermöglichen. Die Bilder sind nicht gekoppelt an weltpolitische Entwicklungen seit dem Ende einer anderen Narration mit dem Titel Der Kalte Krieg weder an die Verstrickungen der amerikanischen Politik in der islamischen Welt, noch an den realen Auswirkungen der US-Außenpolitik in einer insgesamt komplexer werdenden Welt, die nur mehr so einfach nach dem Gut-Böse-Prinzip funktioniert. Mit den Bildern wird das Ereignis selbst inszeniert – gleichsam wie eine Katastrophe, aus „heiterem Himmel“, Out of the Blue[9]. Die umstrittene Frage eines „Davor“ wurde zum einen auf einer philosophischen Ebene diskutiert, beispielsweise Jacques Derridas Äußerungen zu den Anschlägen oder – die Gegenposition – in einem Essay Jean Baudrillards; zum anderen wurde diese Diskussion vor allem im Kontext einer „Ästhetik des Schreckens“ geführt, in der so unterschiedliche Beiträge wie jene berühmte und missverstandene Aussage von Karlheinz Stockhausen zu nennen ist, wie Analysen, die der Frage nach dem „Vorbildcharakter“ des Katastrophen-Film Genres im Stile von Hollywood-Produktionen nachgehen[10]. In all diesen Debatten erweist sich das Symbolische des Ereignishaften als Kristallisationspunkt.
Die strukturalistische Tradition der Erzähltheorie definiert zunächst formale Kriterien und Bausteine, die eine Erzählung als solche ausweisen. Todorov unterscheidet in seiner „Erzählgrammatik“ beispielsweise kleinste Handlungsabläufe (narrative Sequenzen oder Propositionen) von handelnden Figuren, die er Agens nennt; diesen werden wiederum Eigenschaften zugesprochen, Prädikate, und sie üben Handlungen aus. In Anlehnung an diese narrative Struktur sind es wenige Agens, die an der visuellen Erzählung 9/11 teilhaben: die ‚Regierenden‘ (George W. Bush und Donald Rumsfeld), der ‚Drahtzieher‘ (Osama bin Laden), die ‚Terroristen‘ (Attentäter), die ‚Helden‘ (die Einsatzkräfte), die ‚Opfer‘, die ‚Zuseher‘ (Passanten) und die ‚Trauernden‘. Sie sind sehr schnell in Szene gesetzt, schon mit dem 12. September 2001. Diese Agens bilden die Basis einer Personalisierung des Geschehens auf der visuellen Ebene, die oben angesprochene politische Ikonographie: Mit Blick auf die zentralen Agens werden die Anschläge in den Pressebildern auf einen „Zweikampf“ des ‚Präsidenten‘ mit dem ‚Drahtzieher‘ reduziert. Dieser visuelle Diskurs nimmt Anleihen bei der klassischen politischen Herrscherbild-Ikonographie[11]. Betrachtet man die visuelle Inszenierung des ‚Präsidenten‘, so ist eine deutliche Verschiebung der visuellen Aussage innerhalb der ersten Woche nach den Anschlägen zu erkennen: von einem – bildlich gesprochen – ‚geschockten‘ ‚Präsidenten‘ zum Versuch der Inszenierung einer Figur, die zunehmend ‚wiedererstarkt‘ sein soll. Der ‚Gegenspieler‘ hingegen bleibt gänzlich stereotyp, es existieren kaum Bildvarianten, lediglich einige Standfotos aus Videoaufnahmen.
Daraus können zwei Interpretationen des visuellen Diskurses 9/11 abgeleitet werden: Das scheinbare ‚Wiedererstarken‘ des ‚Präsidenten‘ könnte man als Nationalisierungs-Diskurs bezeichnen. Standen zunächst die Bilder des unmittelbaren Geschehens, die Türme einerseits und die betroffenen Menschen andererseits im Mittelpunkt, so verändern sich die Bildmotive im Laufe der ersten Woche nach den Anschlägen deutlich: Zum einen zeichnet sich eine Stabilisierung der Kräfte nach innen ab, sie richtet sich an die eigene Bevölkerung, zum anderen ist eine Mobilisierung als Signal nach außen, an die Welt, zu erkennen. Diese Bewegung manifestiert sich einerseits an einer zunehmenden Verschiebung der Bilder vom Ereignishaften hin zu Motiven aus dem Kontext von ‚Börse‘ und ‚Militär‘ – in beiden Fällen kann sowohl diskursstrategisch von einer Innen- wie Außenfunktion gesprochen werden. Andererseits nimmt die Anzahl der Bildmotive, die in einem islamischen Kontext zu verorten sind, zu, etwa indem neue Gruppen, neue Agens, in den Bildern inszeniert werden wie ‚die Taliban‘. Gerade mit letzterem tritt eine zunehmende visuelle Stereotypisierung im Laufe der ersten Woche nach den Anschlägen hervor. Gemäß den Kennzeichen des Stereotypen – Vereinfachung von Komplexität, Verallgemeinerung von Sachverhalten und Übertragung von Inhalten und Mustern auf unbekannte Personen oder Situationen – erfolgt in den Bildern eine Praxis der Signifikation des Anderen[12], die Etablierung einer Differenz im Rahmen eines „Repräsentationsregimes“[13]: Die dargestellten Personen sind nie namentlich gekennzeichnet, ihre Mimik und Gebärde können als ‚irr‘, ‚fratzenhaft‘, ‚dämonisch‘ und ‚fanatisch‘ typisiert werden. In diesen Bildern tritt Edward Saids zentrale These des Orientalismus auf nahezu beeindruckende Weise in neuem Gewand zu Tage: die Vorstellung der Überlegenheit der westlichen Identität, bei gleichzeitiger Entwertung und Betonung der Rückständigkeit des Orients[14]. In kaum einem Motiv wird diese Haltung deutlicher als in der Abbildung einer verschleierten Frau. Dieses Motiv wird zu einem der zentralen, westlichen Leitbilder der Kriege, die den Anschlägen vom 11. September folgten[15]: Geht es doch plötzlich darum, die orientalische Frau vom Joch der Unterdrückung zu befreien, metaphorisch gefasst im Prozess der ‚Entschleierung‘.
Diese Stereotypisierung betrifft einen weiteren, zentralen Diskursstrang: die Geschlechter-(An-)Ordnungen in den Fotografien. Eines der bekanntesten Fotografien zeigt einen Helfer, der eine verletzte junge Frau zu einem Einsatzwagen trägt. Das Motiv, die Komposition, die Blickachsen, die Hautfarbe der abgebildeten Figuren, die gesamte Ikonografie reproduziert stereotype Geschlechterrollen. Und dieses Bild ist kein Sonderfall. Weibliche Personen werden immer – im Unterschied zu männlichen Einsatzkräften beispielsweise – als ‚passiv‘, ‚emotional‘, ‚weinend‘ oder ‚trauernd‘ dargestellt. In den veröffentlichten Bildern existieren so gut wie keine Aufnahmen weiblicher Einsatzkräfte, was nicht den Tatsachen vor Ort und den weiblichen Todesopfern unter den Einsatzkräften entspricht.
Diese drei visuellen Diskursstränge kennzeichnen nicht nur die Print-Ausgaben der Zeitungen und Magazine, auch die Online Portale widmen sich – insbesondere zum 10-jährigen Gedenken an die Anschläge – dem Geschehen in den USA. Die Hamburger ZEIT stellt sämtliche Print-Ausgaben zum kostenlosen Download zur Verfügung, DER SPIEGEL hat eine eigene Archiv-Rubrik zum 11. September eingerichtet. Sie trägt den Titel: „Das globale Trauma“.[16] In dieser Rubrik versammelt die Online-Redaktion neben aktuellen Artikeln und Archivmaterial vor allem die zu Ikonen aufgestiegenen Bilder der Terroranschläge. Anlässlich einer 2011 zusammengestellten Ausstellung in Berlin mit dem Titel „Unheimlich vertraut“, in der auch Material aus dem Bildarchiv des SPIEGEL Aufnahme gefunden hat, hält eine Journalistin desselben Wochenmagazins die Tatsache fest, dass es von den Bildern der Anschläge „vielleicht knapp ein Dutzend ins kollektive Gedächtnis geschafft“ hätten, die aber zu einer „unheimlichen Ästhetik der Symbol gewordenen Bilder“[17] beitragen würden. Damit sind drei Themen angesprochen, die in einem spezifischen Verhältnis zueinander stehen: Archiv, kollektives Gedächtnis und Ästhetisierung.
Orte des Erzählens: digitale Archive
Als Michel Foucault in den 1960er Jahren den Begriff des Archivs neu und entgegen der seit dem 17. Jahrhundert üblichen Verwendung definierte, existierte noch kein World Wide Web. Und dennoch könnte man sagen, kaum eine Charakterisierung scheint direkter in das Zentrum dieses modernen, dynamischen Orts des Aufbewahrens vorzustoßen. Mit Foucaults Kerngedanken soll im Folgenden ein Blick auf die diskursstrategische Dimension dieses riesigen, dezentralen Archivs geworfen werden.
Das Archiv ist für Foucault keine Sammlung von Texten und Dokumenten einer Tradition, der Könige, der Wunderkammern und Bibliotheken, in denen seit den Sammel-Praktiken der Renaissance die Figur des ‚Archivars‘ die zentrale Position einnimmt. Die Archive sind auch nicht die Orte, die Institutionen, „die in einer gegebenen Gesellschaft gestatten, die Diskurse zu registrieren und zu konservieren, die man im Gedächtnis und zur freien Verfügung haben will“[18], kurz: Archive bilden keine Räume aus, in denen Gesagtes und Geschriebenes einfach passiv abgelegt wird. Das Archiv erweist sich in Foucaults Denken vielmehr als „das Gesetz dessen, was gesagt werden kann“[19], mit anderen Worten, das System der Bedingungen, dass Dinge sagbar sind: „das Spiel der Regeln, die in einer Kultur das Auftreten und das Verschwinden von Aussagen, ihr kurzes Überdauern und ihre Auslöschung, ihre paradoxe Existenz als Ereignisse und als Dinge bestimmen“[20]. Das Archiv rückt damit in den Rang eines Katalysators, einer Filterung, die das Wissen nicht konserviert, sondern vielmehr produziert. Das Archiv „ist das allgemeine System der Formation und Transformation der Aussagen“.[21] „Aussagen“ im Sinne Foucaults bündeln sich nicht nur im einst Gesprochenen, Geschriebenen, sie liegen gleichermaßen in Gestalt virtueller Artefakte vor: Bilder, Fotografien. Diese visuellen Aussagen produzieren wie Geschriebenes ihrerseits ein bestimmtes Wissen: Fotografien – unabhängig von Bild-Manipulation, Ausschnitt oder Kompositionsregeln – geben auf eine bestimmte Weise Auskunft über ein historisches Ereignis. Sie erzählen die Geschichte des Ereignisses. Damit ist unweigerlich die Problematik des kollektiven Erinnerns an Ereignisse aufgeworfen. Und, in Anlehnung an Foucault, die Frage nach der Auswahl der materiellen, bildlichen Träger, denen künftig Erinnerungsfunktion zukommt wird.
Der Zusammenhang von Aufbewahren und Gedächtnis wie von Erinnern und Vergessen-lassen besteht seit den Anfängen des Archivwesens[22]. Foucaults Betonung der aktiven, Wissen produzierenden Rolle des Archivs gibt dieser Schnittstelle eine neue diskursstrategische Wende: Die in einem Online-Archiv gespeicherten Fotografien, die von einem (zeit-)historischen Ereignis zeugen sollen, sind nie nur zum Zwecke des Aufbewahrens abgelegte Bilder. Diese Bilder sind Stellungnahmen, die diskursive Positionen repräsentieren und damit zugleich als Deutungsangebote für historische Ereignisse zur Verfügung stehen – vordergründig, weil ihnen gemeinhin ein „authentischer“, ein „dokumentarischer“ Charakter zugesprochen wird. In die Funktion eines Deutungsangebots historischer Ereignisse können diese Bilder deshalb aufrücken, weil sie zugleich auf etwas jenseits dessen verweisen, was sie zu zeigen vorgeben – das vermeintlich „Authentische“ oder „Dokumentarische“ unterstützt diesen Prozess. Mit anderen Worten, die medialen, digital archivierten Bilder eines Ereignisses stellen „bloß eine Komponente des Mediendiskurses unter anderen [dar], von denen sie überdeterminiert wird“[23]. Wie ist diese These zu verstehen?
Fotografien von politischer oder zeithistorischer Bedeutung sind durch eine „mehrfache Lesbarkeit“[24] charakterisiert, sie besitzen multiple Bedeutungsebenen, weil sie wie „Sprachbilder“ – im weitesten Sinne – funktionieren, wie „Synekdochen (partes pro toto), Metonymien und Metaphern“[25], allgemeiner formuliert, wie kollektiv wirksame Symbole[26] im Sinne der Diskurstheorie. Die Besonderheit dieser kollektiven Symbole liegt darin, dass sie als Applikationsvorlagen für Identifikationsprozesse dienen. Die einfache Zugänglichkeit der Bilder im „Netz“ erhöht ihre ideologisch-politische Bedeutung als Deutungsangebote von Ereignissen, weil sich in sie, wie oben gezeigt, gesellschaftliche Diskurse einschreiben können. Das Bild-Ereignis 9/11 zeigt dies nahezu paradigmatisch: bestimmte, ideologisch besetzte Vorstellungen von politischer Führung, traditionelle Geschlechteranordnungen und visuelle Konstruktionen des Anderen. Gerade die starke Verbreitung der Pressebilder – nicht zuletzt im Internet – verweist auf ihre Funktion als Bedeutungsträgerinnen gesellschaftlicher Reproduktionsprozesse.
Die Bilder dienen als Applikationsvorlage zum einen der Formierung hegemonialer Deutungen des Ereignisses, die in den offiziellen Pressebildern ihren Ausdruck finden und aktuell selbst in Schulbüchern[27] reproduziert werden; zum anderen trifft dies auch auf antihegemonial intendierte Diskurspositionen zu – beispielsweise in der wenige Tage nach den Anschlägen spontan organisierten Ausstellung Here is New York, mit der die Kuratoren Privatpersonen dazu aufriefen, ihre „persönlichen“ Bilder der Anschläge zu präsentieren, „ihr“ New York der Öffentlichkeit vorzustellen – Ausdruck eines Wunsches nach Austausch und Solidarität angesichts des Geschehenen. Für beide Formierungen ist gerade nicht das rein „Dokumentarische“ oder „Authentische“ der Fotografien wesentlich, sondern die symbolischen Komponenten der Fotografien, denn an sie knüpft sich ihre Funktion als TrägerInnen eines kollektiven Gedächtnisses. Und das hat wesentlich mit zwei Eigenschaften des Symbolischen im Bild zu tun: der ästhetischen Gestaltung, die eine Inszenierung der Dramatik darstellt, und dem emotionalen Gehalt der Bilder.
Neben den professionell komponierten Bildern der FotojournalistInnen, die die Angst oder Betroffenheit der Menschen zeigen, geht von den Bildern der brennenden und später einstürzenden Türme, aufgenommen aus Brooklyn und New Jersey, seit diesem Septembertag insbesondere eine „Ästhetik des Schreckens“ aus, in deren Symbolik etwas zu Tage tritt, das man das Erhabene, das Sublime nennen kann[28], begrifflich unbedingt als Bild-Rhetorik von Gewalt, Brutalität, Angst und Hilflosigkeit zu verstehen und nicht im kunsthistorischen Sinne des naturhaft Gewaltigen. Edward Burke rückte den Begriff des Sublimen 1757 in A philosophical enquiry into the origin of our ideas of the sublime and beautiful als zentrale Unterscheidung vom Schönen in den Mittelpunkt seiner ästhetischen Betrachtungen: Im Unterschied zum Schönen kennzeichnet das Erhabene dasjenige, „was die stärkste Bewegung hervorbringt, die zu fühlen das Gemüt fähig ist“.[29] Ein Gedanke, der sich bereits bei Lukrez findet, die Vorstellung von jenen, die beobachten, „wenn Sturmböen weithin die Meerflut peitschen, vom Lande aus, wie andre gefahrvoll sich abmühen müssen“.[30] Für Burke ist es exakt dieses „Furchtbar-Erhabene“, das Mit-Ansehen der Katastrophe ohne selbst ihr Opfer zu sein. Verursacht wird das Erhabene durch Entitäten, die das Subjekt existenziell bedrohen: Allen voran der Schrecken (von Burke durchwegs als terror bezeichnet), die Dunkelheit (obscurity), die Macht (power), die Beraubung (privation), die Riesenhaftigkeit (vastness), die Größe (magnitude) und neben anderen die Plötzlichkeit (suddenness).[31] Man denke an die Bilder der Anschläge und setze sie in Beziehung zu Burkes Ursachen des Sich-Einstellens des Erhabenen, so wird deutlich, welche enorm symbolische Bedeutung durch die Verzahnung von Ästhetisierung als Inszenierung und Emotionalisierung den Bildern zukommt: Kirschenmann erinnert an die „aufgeladene Ästhetisierung“ des Feuerballs[32] (die Plötzlichkeit und Monstrosität), an die in hohem Maße inszenierten Aufnahmen der Feuerwehrmänner, die, so wird uns präsentiert, einen letztlich „aussichtslosen Kampf“ führen und an denen es am Ende liegt – visuell-narrativ inszeniert –, in einer patriotischen Geste, die Fahne der USA am Ground Zero zu hissen, einer Geste, in deren Pathos sich ein kollektives Gedächtnis einschreibt, von dem eine ideologische Anrufung für die BetrachterInnen ausgeht. Dem sind andere Bilder gegenüberzustellen, die Fotografien der Opfer, auch sie in gewisser Weise über die Titel, die sie bekommen haben, nach Geschlechtern getrennt, The Dust Lady und Falling Man.
Die Bilder des Terrors, des Schreckens, schließen bis heute symbolisch die Lücke, die der terroristische Akt, das Ereignishafte, in die symbolische Ordnung geschlagen hat.
[1] Ächtler, Norman/ Gansel, Carsten (Hg.): Ikonographie des Terrors? Formen ästhetischer Erinnerung an den Terrorismus in der Bundesrepublik 1978 – 2008, Heidelberg 2010.
[2] Mit Blick auf die Anschläge vom 11. September entzündete sich eine heftig geführte Debatte um die Fotografie Falling Man – zu sehen ist ein Mann, der sich aus einem der brennenden Türme stürzt –, aufgenommen von Richard Drew; ein Beispiel aus jüngerer Zeit betrifft die Debatte rund um die Anschläge auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo: die Veröffentlichung der Fotografie der Ermordung des verwundet am Boden liegenden Polizisten.
[3] Bekanntlich waren es Gotthold Ephraim Lessing und nach ihm Johann Gottfried Herder, die dem Bild lediglich ein punctum temporis, die Erfassung des „fruchtbaren Augenblicks“, zugestanden.
[4] Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1983, S. 9.
[5] Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien 2002, S. 13.
[6] Anderson, Benedict R.: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, 2., um ein Nachw. von Thomas Mergel erw. Aufl., Frankfurt am Main 2005.
[7] Im Folgenden werden einige Ergebnisse der Analyse eines Bildkorpus von über 1500 Bildern in aller Kürze wiedergegeben. Diese Ergebnisse sind Teilaspekte der Habilitationsschrift des Autors. Bei den Bildern selbst handelt es sich einerseits um Pressebilder, die in der Woche nach den Anschlägen, ein Jahr und 10 Jahre später aus Anlass der Gedenkfeierlichkeiten am Ground Zero in den Printmedien erschienen sind und andererseits handelt es sich um Bilder, die auf den Homepages dieser Zeitungen anlässlich des 10-jährigen Gedenkens in das Netz gestellt wurden.
[8] Todorov, Tzvetan: Grammatik und Erzählgrammatik. In: Ders.: Poetik der Prosa, Frankfurt am Main 1972, S. 115–125, Zitat S. 117.
[9] So der Titel eines mehrseitigen Gedichts zu 9/11 des englischen Lyrikers Simon Armitage, publiziert 2008, beginnt mit den Worten: „All lost. / All lost in the dust. / Lost in the fall and the crush and the dark. / Now all coming back.“ Armitage, Simon (2008): Out of the blue. London 2008, S. 9.
[10] Richard, Birgit: 9-11. World Trade Center Image Complex + "shifting image". In: Kunstforum International 2003, (164), S. 36–73. Und Assmann, Aleida: Resonanz und Einschlag. Zur Affektlogik von Bildern im kulturellen Gedächtnis. In: Otfried Höffe (Hg.): Bild und Bildlichkeit. Nova acta Leopoldina ; N.F. (386 = Bd. 113). Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2012, S. 23–35.
[11] Warnke, Martin: Herrscherbildnis. In: Uwe Fleckner, Martin Warnke und Hendrik Ziegler (Hg.): Handbuch der politischen Ikonographie. In zwei Bänden. Band 1: Von Abdankung bis Huldigung. Band 2: Von Imperator bis Zwerg. 1. Aufl. München: Beck 2011, S. 481–490.
[12] Hall, Stuart: Das Spektakel des Anderen. In: Ders.: Ideologie, Identität, Repräsentation. 1. Aufl. Hamburg 2004, S. 108–166, Zitat S. 114.
[13] Ebd., Zitat S. 115.
[14] Said, Edward W.: Orientalismus. Frankfurt am Main 2010, S. 17.
[15] Grittmann, Elke: Verhüllt - unverhüllt: Bild und Verschleierung in der Afghanistan-Berichterstattung. In: Michael Beuthner/ Joachim Buttler/ Sandra Fröhlich/ Irene Neverla/ Stephan A. Weichert (Hg.): Bilder des Terrors – Terror der Bilder? Krisenberichterstattung am und nach dem 11. September, Köln 2003, S. 268–284. Wenk, Silke: Sichtbarkeitsverhältnisse: Asymmetrische Kriege und (a)symmetrische Geschlechterbilder. In: Linda Hentschel (Hg.): Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, 1. Aufl. Berlin 2008, S. 31–49.
[16] "Das gloable Trauma", abrufbar unter http://www.spiegel.de/thema/terroranschlaege_vom_11_september_2001/ in: Spiegel Online, Veröffentlichungsdatum unbekannt [zuletzt abgerufen am : 07.12.2015].
[17] Zinser, Daniela: Ausstellung "Unheimlich vertraut": Vom Terror ein Bild gemacht http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/ausstellung-unheimlich-vertraut-vom-terror-ein-bild-gemacht-a-785490.html#ref=rss in: Spiegel Online, 01.09.2011 [zuletzt abgerufen am 07.12.2015].
[18] Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main 1990, S. 187.
[19] Ebd., S. 187.
[20] Foucault, Michel: Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cerlce d'épistémologie. In: Daniel Defert und François Ewald. Unter Mitarbeit von Lagrange Jacques (Hg.): Foucault – Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits. Band 1: 1954 – 1969, Frankfurt am Main 2001, S. 887–931, Zitat S. 902.
[21] Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main 1990, S. 188.
[22] Assmann, Aleida: Archive im Wandel der Mediengeschichte. In: Knut Ebeling/ Stephan Günzel: Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin 2009, S. 167.
[23] Link, Jürgen: Zum Anteil der symbolischen Komponenten realer Ereignisse. Ein Beitrag der Diskurstheorie zur Analyse neorassistischer Äußerungen. In: Siegfried Jäger/ Franz Januschek (Hg.): Der Diskurs des Rassismus. Ergebnisse des DISS-Kolloquiums, November 1991, Osnabrück 1992, S. 37–52, Zitat S. 39.
[24] Link, Jürgen: "Ein 11. September der Finanzmärkte". Die Kollektivsymbolik der Krise zwischen Apokalypse, Normalisierung und Grenzen der Sagbarkeit. In: kultuRRevolution, 2009 (55/56), S. 10–15, Zitat S. 11.
[25] Ebd., S. 11.
[26] Link, Jürgen: Kollektivsymbole und Mediendiskurs. Zur aktuellen Frage, wie subjektive Aufrüstung funktioniert. In: kultuRRevolution, 1982 (1), S. 7f.
[27] Das Schulbuch von Achs, Oskar; Scheuch, Manfred; Tesar, Eva: gestern - heute - morgen. Das 21. Jahr-hundert. Politische Bildung. 1. Aufl. Wien 2006: (Österreichischer Bundesverlag Schulbuch) für die Matura-Klassen schildert z.B. die Ereignisse auf einer Doppelseite und die Folgen auf den nächsten Seiten; die zwei Bilder zeigen zum einen die zweite Maschine knapp vor dem Aufprall, zum anderen einen Feuerwehrmann auf den Trümmern des eingestürzten World Trade Centers. Das Schulbuch von Scheucher, Alois; Staudinger, Eduard; Scheipl, Josef; Wald, Anton; Ebenhoch, Ulrike: Zeitbilder 8. Wien 2006: (Österreichischer Bundesverlag Schulbuch) geht ebenfalls auf die Anschläge und ihre Folgen ein, das Bildmaterial ist knapper und reduziert sich auf den zweimaligen Druck einer Abbildung der Explosion im Südturm (S. 113 und S. 127).
[28] Diesen Zusammenhang hat Karl-Heinz Stockhausen mit seiner missverständlichen Formulierung wohl im Sinne, vgl. Liebert, Wolf-Andreas: Ultimatives Kunstwerk mit Todesfolge. Das 9/11-Blending Karlheinz Stockhausens im Pressegespräch am 16.09.2001. In: Monika Schwarz-Friesel/ Jan-Henning Kromminga (Hg.): Metaphern der Gewalt. Konzeptualisierungen von Terrorismus in den Medien vor und nach 9/11. Tübingen 2014, S. 25–50.
[29] Burke, Edmund: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, Hamburg 1989, S. 72.
[30] Lukrez, zit. nach Preußer, Heinz-Peter: Grandiose Gefühle. Konzepte des Erhabenen und ihre filmischen Realisationen Burke – Kant – Lyotard, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2015 (63 (1), 152 – 189, Zitat S. 153.
[31] Burke Edmund: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, Hamburg 1989, S. 91ff.
[32] Kirschenmann, Johannes (2006): "Voller Emotion und Erinnerung". Das kollektive Gedächtnis und seine medialen Konstruktionen. In: Johannes Kirschenmann/ Ernst Wagner (Hg.): Bilder, die die Welt bedeuten. "Ikonen" des Bildgedächtnisses und ihre Vermittlung über Datenbanken. München 2006, S. 135–149, Zitat S. 141.