von Mathias Beer

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1. April 2016

1. Ein Paradigmenwechsel in der Flüchtlingsfrage

 

„Global forced displacement has seen accelerated growth in 2014, once again reaching unprecedented levels. The year saw the highest displacement on record. By end-2014, 59.5 million individuals were forcibly displaced worldwide as a result of persecution, conflict, generalized violence, or human rights violations. This is 8.3 million people more than the year before and the highest annual increase in a single year.”[1]

 

So fasste das UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, seinen Bericht für das Jahr 2014 zusammen. Der Bericht gibt, komprimiert in einem umfangreichen Datenwerk, eine Übersicht der weltweiten Zwangsmigranten. Bereits mit seinem Titel „World at War“ weist der Bericht auf die maßgebliche Ursache für diese neue, bis dahin nicht gekannte Dimension der weltweiten Flüchtlingsfrage hin. Um die Dimension der Zahl zu veranschaulichen, setzt sie der Bericht in Beziehung zur Weltbevölkerung und ordnet sie in eine quantitative Reihung aller Staaten der Welt ein: Auf 122 Menschen der Weltbevölkerung kommt eine Person dieser Gruppe, oder zusammengenommen würden die Zwangsmigranten einen Staat bilden, der mit seiner Bevölkerungszahl weltweit an 24. Stelle rangieren würde. Von den knapp 60 Millionen Zwangsmigranten waren rund 19,5 Millionen Flüchtlinge, 38,2 Millionen Binnenflüchtlinge und 1,8 Millionen Asylsuchende. Der damalige UN-Flüchtlingskommissar António Guterres sprach angesichts dieser Zahlen von einem Paradigmenwechsel, der sich vor den Augen der Welt vollziehe: „Wir geraten in eine Epoche, in der das Ausmaß der globalen Flucht und Vertreibung sowie die zu deren Bewältigung notwendigen Reaktionen alles davor Gewesene in den Schatten stellen.“[2]

Der UNHCR-Bericht verzeichnet für Europa mit 51 Prozent die höchste Zuwachsrate an Schutzsuchenden. Diese Zahlen sind heute, ein gutes Jahr später, nicht nur bereits Geschichte, sondern auch schon weit überschritten. Allein im Oktober 2015 kamen 218.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa. Das waren in einem Monat fast genauso viele wie im gesamten Jahr 2014. Damit summiert sich die Zahl der Flüchtlinge, die 2015 nach Europa gekommen sind, auf weit über eine Million. Auch wenn ernsthaft bezweifelt werden darf, ob diese Zahlen verlässlich sind, sie also tatsächlich das gesamte Migrationsgeschehen abbilden, so geben sie dennoch einen unübersehbaren Trend wieder. Die bereits 2014 als dramatisch, als ein Paradigmenwechsel eingeschätzte Entwicklung setzte sich 2015 in einem rasanten Tempo fort. Nicht nur der UNHCR geht für das laufende Jahr von weiter steigenden Zahlen aus. Sie haben die Flüchtlingsfrage zum Prüfstein des europäischen Integrationsprozesses, ja zur Nagelprobe für das Selbstverständnis und den Bestand der EU schlechthin werden lassen.

Wenn auch nicht allein, so wurde und wird die Bundesrepublik als eines der europäischen Hauptaufnahmeländer für Flüchtlinge in besonderem Maß mit der Flüchtlingsfrage konfrontiert. Die Prognosen über die zu erwartenden Flüchtlingszahlen wurden in der zweiten Jahreshälfte 2015 laufend nach oben korrigiert. Ende des vergangenen Jahres hatte die Bundesrepublik 1,1 Millionen Flüchtlinge aufgenommen.[3] Allein die im Januar 2016 laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gestellten 52.532 Asylanträge deuten auf einen weiter anhaltenden Zustrom von Flüchtlingen hin.[4] Die Flüchtlingsfrage ist damit zum beherrschenden Thema der deutschen Innen-, Europa- und Außenpolitik geworden und wird es sicher auch noch bleiben.

2. Historische Erfahrungen, Assoziationen, Analogien

Diese Entwicklungen befeuern die politische und öffentliche Diskussion in Deutschland in einem Maße, wie es noch zu Beginn des Jahres 2014 nicht zu erwarten war. Dabei fällt auf, dass vor dem Hintergrund der steigenden Flüchtlingszahlen nicht nur der Grad der Emotionalität steigt. Es werden mit Blick auf die als historisch eingestuften Ereignisse immer neue, in die Geschichte Deutschlands zurückgreifende Vergleiche bemüht. Waren zunächst die hohen Flüchtlingszahlen zu Beginn der 1990er Jahre der Vergleichsmaßstab, so wurde mit der Flüchtlingsfrage, mit der sich Deutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs konfrontiert sah, bald tiefer in die Requisitenkiste der Geschichte gegriffen. Mittlerweile scheint auch dieser Vergleichsmaßstab überholt zu sein. Dafür spricht der allgegenwärtige Begriff „Völkerwanderung“, der im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Flüchtlingsfrage verwendet wird.

Vergleiche werden in der öffentlichen und veröffentlichten Diskussion der bundesdeutschen Gesellschaft angestellt: auf der Straße, in den Parlamenten, im Radio, im Fernsehen, in den elektronischen Medien. Sie sind einerseits diachroner Art: Die deutsche Vergangenheit wird nach ähnlichen Migrationsbewegungen befragt oder es werden gleich klare Antworten gegeben. Die Flüchtlingsfrage nach 1945 nimmt dabei einen prominenten Platz ein, wie nicht nur die Rede von Bundespräsident Gauck am 20. Juni 2015 aus Anlass des Weltflüchtlingstages zeigt.[5] Andererseits werden synchrone Vergleiche vorgenommen: Wie viele Flüchtlinge nehmen die Nachbarländer auf? Wie viele die anderen EU-Staaten? Wie viele im Weltmaßstab die klassischen Einwanderungsländer?

Zu vergleichen, sei es synchron oder diachron, dient der Selbstvergewisserung – Ist es tatsächlich so schlimm? Wird Deutschland buchstäblich überrannt? Droht eine Katastrophe? Ja, schafft sich Deutschland ab? Es wird geradezu verzweifelt nach Mustern gesucht, mit deren Hilfe die Gegenwart zu deuten ist, so dass die Fragen und die zunehmende Unsicherheit in der Gesellschaft wenn nicht verschwinden, doch zumindest ein erträgliches Maß annehmen.

Vergleiche werden auch im Bereich der Wissenschaft angestellt, wobei Demographen, Politologen, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler und Historiker sich zu Wort melden. Dabei werden nicht neue Forschungsergebnisse ins Feld geführt, dafür sind die Ereignisse auch noch viel zu nahe, sondern es wird auf „historische Erfahrungen“ verwiesen oder solche werden als Vergleichsmaßstab herangezogen. Assoziationen und Analogien werden bemüht sowie Schlussfolgerungen und angebliche Lehren aus der Geschichte gezogen. Dabei ist die Flüchtlingsfrage nach 1945 eine immer wieder herangezogene Vergleichsgröße.

Die im Bereich der Wissenschaft angestellten Vergleiche sind nicht primär Teil innerwissenschaftlicher Diskurse zur aktuellen Flüchtlingsfrage, sondern sie haben die Öffentlichkeit im Blick. Sie wollen mit dem Gewicht der wissenschaftlichen Expertise der einen oder anderen in der Öffentlichkeit und Politik vertretenen Meinung Nachdruck verleihen – Wir schaffen das, wie die Geschichte zeigt. Wir schaffen das so nicht, wie die Geschichte zeigt. Oder: Das ist nicht zu schaffen, wie die Geschichte zeigt. Allen drei Positionen ist eines gemein: Mit dem Hinweis, dass die Frage, was man aus den Migrationserfahrungen der deutschen Nachkriegszeit für heute lernen könne, viel zu selten gestellt werde, führen die Vertreter der unterschiedlichen Positionen aus dem reichen Fundus der Geschichte Beispiele an, die den eigenen Standpunkt mehr oder weniger überzeugend untermauern sollen. Lediglich ein paar Beispiele sollen das verdeutlichen.

„Flüchtlinge: Böhmen, Pommern, Syrien“ ist ein Beitrag von Andreas Kossert in der Wochenzeitung „Die Zeit“ überschrieben.[6] Er wirbt dafür, die deutsche Gesellschaft solle sich ihres historischen Erbes, der deutschen Flüchtlingsfrage nach 1945, erinnern, um auf dieser Grundlage mit Zuversicht auch die gegenwärtige Flüchtlingsfrage zu stemmen und langfristig zu bewältigen. Kossert resümiert: „Der Handwagen von einst ist das auf dem Mittelmeer treibende Boot von heute.“ Mit einer unverhohlenen und grundsätzlichen Schelte der deutschen Flüchtlingspolitik und dem Hinweis auf die Gefahr einer Auflösung der deutschen Gesellschaft zweifelt der Osteuropahistoriker Jörg Baberowski daran, dass die gegenwärtige deutsche Flüchtlingsfrage mit dem bisher angewandten Instrumentarium in den Griff zu bekommen sei.[7] Er wurde in seiner Argumentation vom Historiker Manfred Hettling unterstützt, der insbesondere den Stellenwert der Nation als kulturellen Überlieferungszusammenhang betont. Dieser sei einerseits ein wichtiger Faktor bei der erfolgreichen Bewältigung der deutschen Flüchtlingsfrage nach 1945 gewesen und stelle andererseits ein Merkmal dar, durch das sich die Flüchtlingsfrage in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und die gegenwärtige Flüchtlingsfrage kategorial unterschieden.[8] Diese Unterscheidung stellten die Migrationsforscher Jannis Panagiotidis, Patrice Poutrus und Frank Wolff grundsätzlich in Frage und plädierten explizit für die Vergleichbarkeit der beiden Migrationsprozesse insbesondere mit Blick auf deren Folgen für die deutsche Gesellschaft.[9] Mit Verweis auf die dunklen Seiten der deutschen Nationalgeschichte und die von ihnen angenommene „zeitabhängige Relativität kultureller Unterschiede“ führen sie gerade die Lösung der Flüchtlingsfrage nach 1945 als positives Beispiel für die mögliche Bewältigung der heutigen Flüchtlingsfrage an.

Fasst man diese Diskussion zusammen, so ist unverkennbar, dass sich die Positionen nicht nur in der national oder humanitär begründeten Solidarität in der historischen und gegenwärtigen Flüchtlingsfrage diametral gegenüber stehen. Die Diskussion offenbart auch, wie ein und dasselbe historische Ereignis, die Flüchtlingsfrage nach 1945, mit Blick auf die Gegenwart diametral unterschiedlich gedeutet wird.

Hier setzen die folgenden Überlegungen an.[10] Sie zielen aus dem Blick der Geschichtswissenschaft auf den zwar immer wieder bemühten, aber nie konsequent und systematisch durchgeführten Vergleich der Flüchtlingsfrage, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland stellte und wie sie sich gegenwärtig stellt. Dabei werden die Risiken in Kauf genommen, einen weitgehend abgeschlossenen, gut erforschten und einen sich vor unseren Augen vollziehenden Prozess mit offenem Ausgang zu vergleichen. Der Vergleich nimmt sechs ausgewählte Bereiche ins Visier, deren Zahl durchaus erweiterbar ist: Definitionen, Ursachen, Dimensionen, Merkmale, Voraussetzungen und Folgen der Flüchtlingsaufnahme.

3. Die Flüchtlingsfrage nach 1945 und heute

3.1. Definitionen

Die Flüchtlingsfrage nahm bei der Bewältigung der Folgen des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik einen hohen Stellenwert ein. „Deutschlands Problem Nr. 1“ titelte „Das Parlament“ am 12. März 1952. Mit dem Begriff „Flüchtlingsfrage“ wurde zeitgenössisch die erzwungene Aufnahme von rund 12,5 Millionen Reichsbürgern und Angehörigen deutscher Minderheiten aus Ostmitteleuropa in den vier Besatzungszonen Deutschlands bezeichnet. Dem allgemeinen Begriff „Flüchtlingsfrage“ entsprach zunächst eine fehlende Definition des damit verbundenen Personenkreises. In den zeitgenössischen Akten und Publikationen ist eine große Zahl von Bezeichnungen zu finden: Ostflüchtlinge und Flüchtlinge, die wiederum echte, unechte, schwarze, wilde und illegale Flüchtlinge sein konnten. Man trifft auch auf Kriegsvertriebene, Ausgewiesene, Neubürger, Ostumsiedler, Vertriebene, Binnen- und Außenumsiedler sowie Heimatvertriebene. Dabei lässt sich von 1945 bis 1953 ein grundsätzlicher Wandel in der Begrifflichkeit vom Flüchtling und Ostflüchtling zum Ausgewiesenen, Neubürger, Vertriebenen und schließlich zum Heimatvertriebenen feststellen.

Erst mit dem Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge, kurz Bundesvertriebenengesetz (BVFG) vom 19. Mai 1953 wurde eine verbindliche und bundeseinheitliche Begriffsbestimmung eingeführt.[11] Im Gesetz wird grundsätzlich zwischen Vertriebenen einschließlich der Aussiedler, Heimatvertriebenen und Sowjetzonenflüchtlinge unterschieden. Danach ist ein Vertriebener, wer als deutscher Staats- und Volkszugehöriger seinen Wohnsitz in den Ostgebieten des Deutschen Reiches oder außerhalb der Grenzen in dessen Gebietsstand vom 31. Dezember 1937 hatte und diesen durch Flucht, Vertreibung und Ausweisung verloren hat. Ein Heimatvertriebener ist dem Gesetz zufolge ein Vertriebener, der am 31. Dezember 1937 oder bereits einmal vorher seinen Wohnsitz im Gebiet desjenigen Staates hatte, aus dem er vertrieben worden ist. Sowjetzonenflüchtling wiederum bezieht sich auf Personen aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), die in die Bundesrepublik geflüchtet sind. Die Flüchtlingsfrage nach 1945 umfasst demnach unterschiedliche Personenkreise, für die als entscheidendes Merkmal die deutsche Staats- und Volkszugehörigkeit konstitutiv waren.

Auch die Flüchtlingsfrage der Gegenwart umfasst unterschiedliche Gruppen von Personen, insbesondere Asylbewerber, Flüchtlinge entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention, solche, die subsidiären Schutz erhalten, und darüber hinaus Personen, die zuwandern, ohne unter den Status der genannten Personengruppen zu fallen. Der Definition dieser Gruppen liegen aber vollkommen andere Kriterien zugrunde als bei den deutschen Vertriebenen, Heimatvertriebenen, Aussiedlern und Sowjetzonenflüchtlingen der Nachkriegszeit. Der Anspruch auf Asyl wurde 1949 im Grundgesetz in Art. 16 festgelegt – „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ – und kannte zunächst keine geographische oder kulturelle Einschränkung. Der Artikel wurde 1993 insofern drastisch eingeschränkt, als sich auf diesen Anspruch nicht berufen kann, wie es im neu eingeführten Art. 16a, Abs. 2 heißt, „wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist“.[12] Der Artikel wurde im Oktober 2015 nochmals restriktiver gefasst.[13]

Darüber hinaus umfasst die gegenwärtige Flüchtlingsfrage Personen deren Status nach dem „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951“, kurz Genfer Flüchtlingskonvention, das am 22. April 1954 in Kraft getreten ist, festgeschrieben ist.[14] Zunächst im Wesentlichen auf Europa beschränkt, erhielt das Abkommen durch das „Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967“ weltweite Gültigkeit. Danach ist ein Flüchtling eine Person, „die infolge von Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten sind, und aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz des Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtung nicht in Anspruch nehmen will.“ Die Bestimmungen des Abkommens schließen, was in der Forschung oft übersehen wird, die deutschen Vertriebenen, Heimatvertriebenen, Aussiedler und Sowjetzonenflüchtlinge aus der Genfer Flüchtlingskonvention ausdrücklich aus.

Subsidiären Schutz kann ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser erhalten, dem weder nach dem Asylrecht noch nach der Genfer Flüchtlingskonvention Schutz gewährt werden kann. Dafür muss er stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringen, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, d.h. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

Das Nebeneinanderstellen der wichtigsten juristischen Definitionen für Menschen, die Teil der Flüchtlingsfrage nach 1945 waren bzw. gegenwärtig sind, zeigt deutlich: Erstens hat man es bei der Flüchtlingsfrage nach dem Zweiten Weltkrieg und jener von heute juristisch betrachtet mit völlig unterschiedlichen Personengruppen zu tun. Hinzu kommt zweitens der fundamentale Unterschied, dass die Definition die Personengruppen nach dem BVFG national begründet, dagegen jene Definition für die Personen, die die Gruppe der gegenwärtigen Flüchtlinge umfasst, im Wesentlichen humanitärer Art ist. Sind bei dieser die Art und der Grad der Verfolgung und Bedrohung das bestimmende Definitionskriterium, so ist es bei der anderen die ethnische Zugehörigkeit.

3.2. Ursachen der Migrationen

Die Flucht, Ausweisung und Umsiedlung der deutschen Bevölkerung am Ende des Zweiten Weltkriegs waren kein Novum. Sie reihen sich in eine Kette von Bevölkerungsverschiebungen ein, denen der Gedanke der Entmischung durch Grenzverschiebung oder der Anpassung der ethnischen Struktur der Bevölkerung an neu gezogene Grenzen durch Umsiedlung im Rahmen der Herausbildung der modernen Nationalstaaten zugrunde lag.[15] Zu Beginn des 20. Jahrhunderts und insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg waren Bevölkerungstransfers zu einem anerkannten Mittel der Politik geworden. Der Zweite Weltkrieg bot dann das Exerzierfeld, auf dem diese nicht nur, vor allem aber im Dienste der nationalsozialistischen Eroberungs-, Besatzungs- und Vernichtungspolitik in großem Stil angewandt wurden. Der Gedanke der ethnischen Entmischung stand auch Pate bei den Überlegungen der Alliierten für eine stabile Nachkriegsordnung. Entsprechende Pläne reiften allmählich aufgrund der Dynamik und unter den Bedingungen des zum totalen und Vernichtungskrieg ausgearteten Zweiten Weltkriegs.

Flucht, Umsiedlung und Ausweisung von 12,5 Millionen Deutschen, ein Prozess in dessen Verlauf mehrere hunderttausend Menschen ums Leben kamen, stellen das Ergebnis eines komplexen Wechselspiels von im Wesentlichen drei unterschiedlichen Faktorenbündeln dar: Die Vorstellung ethnisch homogene Nationalstaaten zu schaffen, um so Minderheitenprobleme zu lösen, und die praktischen Erfahrungen mit Bevölkerungsaustausch und Umsiedlungen in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gehörten ebenso dazu wie die Folgen des deutschen Besatzungsregimes und dessen menschenverachtende Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkriegs sowie die sich herausbildende neue, von der Sowjetunion und den USA bestimmte bipolare Machtkonstellation. All diese Faktoren standen Pate für die sogenannten wilden Vertreibungen zwischen Mai und Juli 1945 und die im Potsdamer Abkommen von den Alliierten vertraglich sanktionierte Umsiedlung in einem bis dahin nicht gekannten Umfang.[16]

Der zitierte Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks für 2014 macht schon in seinem Titel „World at War“ deutlich, welches die wesentliche Ursache für die gegenwärtige Flüchtlingsfrage ist, mit der sich Europa und Deutschland konfrontiert sehen. Doch auch wenn Krieg sowohl am Anfang der Flüchtlingsfrage nach 1945 als auch der gegenwärtigen Flüchtlingsfrage steht, sind die Unterschiede unübersehbar. Die deutsche Flüchtlingsfrage war eine Folge der nationalsozialistischen Herrschaft und insbesondere des Bestrebens der Alliierten, in Europa Minderheitenfragen auf vertraglicher Grundlage mit dem Ziel möglichst homogener Nationalstaaten durch punktuelle Umsiedlungen zu lösen. Dagegen sind die Flüchtlinge von heute vorwiegend das Ergebnis individueller Flucht vor Krieg, Verfolgung, Not und Elend. Dabei gibt es unübersehbare Überschneidungen und Vermengungen mit der „subsistance“, der „betterment“ und der „labor migration“. Darüber hinaus hat die gegenwärtige Flüchtlingsfrage, anders als die nach dem Zweiten Weltkrieg im Wesentlichen auf einen Teil Europas beschränkte, globale Dimensionen angenommen.

3.3. Dimension der Migrationen

Viele Deutsche waren in den letzten Monaten des Krieges umgesiedelt worden, Tausende waren vor der schnell vorrückenden Ostfront geflohen. Hinzu kamen die zu Hunderttausenden unmittelbar nach Kriegsende im Rahmen der wilden Vertreibungen aus Polen und der Tschechoslowakei Ausgewiesenen. Ende des Jahres 1945 setzten auf Grund der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz die organisierten Vertriebenentransporte ein. Fast täglich rollten Züge mit Ausgewiesenen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn in den dafür bestimmten Bahnhöfen der vier Besatzungszonen ein. Sie ließen die Zahl der Ostflüchtlinge oder Flüchtlinge, wie die damals gängige Bezeichnung lautete, schnell auf mehrere Millionen ansteigen. Bald war das vom Alliierten Kontrollrat am 20. November 1945 festgelegte Aufnahmesoll für die einzelnen Besatzungszonen weit überschritten.[17]

Die Verteilung der Flüchtlinge und Vertriebenen auf die Besatzungszonen und innerhalb der einzelnen Regionen war nicht einheitlich. Der Anteil der „Umsiedler“ in der SBZ, wie der dort verordnete Begriff für die Vertriebenen lautete, war deutlich höher als in den westlichen Besatzungszonen.[18] Hier gehörten die Länder der britischen Besatzungszone, Schleswig-Holstein gefolgt von Niedersachsen und Bayern in der amerikanischen Besatzungszone zu den Hauptaufnahmegebieten. In nicht wenigen Gemeinden fand sich die eingesessene Bevölkerung in kürzester Zeit in der Situation einer Minderheit wieder. Im Durchschnitt waren in den Hauptaufnahmeländern der westlichen Zonen von 100 Personen 33 Flüchtlinge oder Vertriebene. Dagegen zählten zur gleichen Zeit im zur französischen Besatzungszone gehörenden Rheinland-Pfalz lediglich drei von hundert Menschen zur Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen.

Bei der Volkszählung 1950 betrug der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik 16,5 Prozent. Das entsprach etwa acht Millionen Menschen. Damit übertraf die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen die Bevölkerungsgröße Australiens und war mehr als doppelt so hoch wie diejenige der Schweiz. Bis 1961, der letzten Volkszählung, bei der nach dem Flüchtlings- und Vertriebenenstatus gefragt wurde, lag der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen bei 21,5 Prozent.[19] Das heißt, damals war jeder fünfte Bewohner der Bundesrepublik ein Flüchtling, Vertriebener, oder er stammte von diesem Personenkreis ab.

Auch wenn man die Zahl der bis Ende des letzten Jahres in Deutschland aufgenommenen Flüchtlinge zugrunde legt, handelt es sich bei der einen Million um eine gemessen an der Flüchtlingsfrage am Ende des Zweiten Weltkriegs vergleichsweise geringe Zahl. Dieses Verhältnis wird sich nicht grundsätzlich ändern, selbst wenn sich gemäß den Prognosen der Flüchtlingszustrom in den nächsten Jahren auf einem hohen Niveau einpendeln sollte. Doch nicht nur die Dimension der Zahlen ist unterschiedlich. Die Umsiedlung, Flucht, Vertreibung und Aufnahme der deutschen Vertriebenen erfolgte in einem überschaubaren Raum, im Rahmen eines bereits 1945 feststehenden überschaubaren Prozesses und eines überschaubaren Zeitraums von rund fünf Jahren. Dagegen lassen sich sowohl die Intensität als auch die Dauer der gegenwärtigen Flüchtlingsfrage nicht abschätzen. Die Kriege im Nahen Osten bis Afghanistan, die steigende Zahl der „failed states" und der weltweite Terrorismus als wesentliche Ursachen der gegenwärtigen Fluchtbewegungen werden wohl in absehbarer Zeit nicht beendet werden. Damit bleiben die Unsicherheit in Bezug auf Dauer und Dimension des Flüchtlingszustroms und auch bezogen auf die aufnehmende Gesellschaft bestehen.

3.4. Merkmale der Migranten

Der von den ostmitteleuropäischen Staaten gewollten und von den Alliierten sanktionierten Ausweisung der deutschen Bevölkerung lag die Idee des ethnisch reinen, angeblich Frieden stiftenden Nationalstaats zu Grunde. Deshalb zielte die ethnische "Säuberung" Ostmitteleuropas am Ende des Zweiten Weltkriegs auf eine möglichst vollständige Umsiedlung der Deutschen, ob Reichsbürger oder sogenannte Volksdeutsche. Angehörige einer ethnisch definierten Gruppe wurden in ihr Mutterland gebracht, Deutsche zu Deutschen, wie es hieß. Zwei Drittel der im Nachkriegsdeutschland aufgenommenen Flüchtlinge und Vertriebenen waren Reichsbürger und damit im engeren Sinn Binnenvertriebene. Das andere Drittel machten Angehörige deutscher Minderheiten aus der Sowjetunion, aus Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien und Rumänien aus. Weil es sich grundsätzlich um eine totale Ausweisung und Umsiedlung handelte, waren davon unterschiedslos auch beide Geschlechter, alle Alters- und auch alle Berufsgruppen betroffen. Deren Struktur entsprach in etwa jener der Bevölkerung in den vier Besatzungszonen bzw. den beiden deutschen Staaten. Alle Gruppen der Flüchtlinge und Vertriebenen einte bei bestehenden regionalen, sprachlichen und konfessionellen Spezifika mit der aufnehmenden Gesellschaft neben der gemeinsamen Sprache zudem das gleiche historische und kulturelle Band. Bei aller Differenz lag der Flüchtlingsfrage nach 1945 die gemeinsame nationale Erfahrung, ein erlebter und erinnerter, in seiner Bindungskraft hoch einzuschätzender Überlieferungszusammenhang zu Grunde, der auch auf einer gemeinsamen Sprache beruhte. Auch deshalb hat sich in der Bundesrepublik keine Flüchtlings- oder Vertriebenenidentität herausgebildet.

Demgegenüber ist die gegenwärtige Flüchtlingsfrage das Ergebnis unterschiedlichen Migrationsprozesse, die Flucht, Zwangsmigration und Erwerbsmigration einschließt, die darüber hinaus Menschen mit unterschiedlicher Herkunft zusammenfassen – mit Syrien, Albanien, dem Kosovo, dem Irak, Afghanistan und Serbien sind nur die wichtigsten Herkunftsländer genannt.[20] Das gilt aber auch für die Altersstruktur der Flüchtlinge. Wenn auch viele Familien, Frauen und unbegleitete Kinder auf der Flucht sind, so bilden junge Männer eine verhältnismäßig große Gruppe. Ähnlich sieht es bei der Berufsstruktur aus. Diese ist bei aller Unsicherheit angesichts nicht vorhandener oder nur geschätzter Daten höchst uneinheitlich und unterscheidet sich deutlich von jener der deutschen Aufnahmegesellschaft.

Anders als den Flüchtlingen und Vertriebenen nach 1945, denen neben einem rechtlichen Status ein gemeinsames, national begründetes kulturelles Band und eine gemeinsame Sprache eigen war, verfügen die Flüchtlinge der Gegenwart weder über einen einheitlichen rechtlichen Status noch gibt es, bis auf die maßgebliche Fluchtursache Krieg, andere gemeinsame Merkmale, die sie als Gruppe charakterisieren und die der aufnehmenden Gesellschaft ähnlich sind.

3.5. Voraussetzungen für die Aufnahme der Flüchtlinge

Bei der Ankunft der Flüchtlinge und Vertriebenen war Deutschland viergeteilt, es war zerstört, es fror, hungerte und wurde vom Alliierten Kontrollrat regiert. Die Alliierten verfolgten zunächst ein striktes Assimilationskonzept. Mit der vollständigen rechtlichen Gleichstellung der Flüchtlinge und Vertriebenen sollte deren schnelle Einschmelzung, d. h. Assimilation forciert werden.

Doch schon die große Zahl der Vertriebenen und die rasche Folge, in der sie eintrafen, bargen ein hohes Konfliktpotential in sich.[21] Die Vertriebenen mussten gemäß der alliierten Vorstellung „Make the Germans do it“ aufgenommen werden, dazu gab es keine Alternative. Dadurch entfaltete die Flüchtlingsfrage unter den Bedingungen der deutschen "Zusammenbruchgesellschaft" (Christoph Kleßmann) sehr schnell ein Konfliktpotential mit nachhaltiger Wirkung. Die Fragen - Wo kann ich unterkommen? Wie werde ich satt? Wo finde ich meine Familie wieder? - standen auf der Tagesordnung. Sie wurden dadurch verschärft, dass die eingesessene und die zugewiesene Bevölkerung sie gleichermaßen stellten. Die Landkreise wehrten sich massiv gegen den steigenden Zuzug von Ostflüchtlingen. In den Gemeinden, auf die die Vertriebenen ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen, sozialen und konfessionellen Verhältnisse vor allem auf Grund der verfügbaren Unterkünfte nach dem Passieren der ständig überfüllten Kreisdurchgangslager verteilt wurden, sah es nicht anders aus. Ein Viertel des Wohnungsbestandes in Deutschland war zerstört oder schwer beschädigt; ihm stand die von Tag zu Tag steigende Bevölkerung gegenüber. Alte Lager erhielten neue Insassen. Neue Lager mussten eingerichtet werden. Einweisungen in Privatwohnungen, auch unter Gewaltanwendung, standen auf der Tagesordnung.

Solche Erfahrungen verstärkten die Ablehnung, welche die Flüchtlinge und Vertriebenen erfuhren. Gegenseitige Vorurteile gegenüber Fremdem und Fremden spielten keine geringe Rolle. Selbst Konrad Adenauer meinte 1946, es müsse darauf geachtet werden, dass die Vertriebenen nicht den preußischen Geist in die rheinische Jugend pflanzten. In Meinungsumfragen äußerten viele Vertriebene, die eingesessene Bevölkerung sähe sie nicht als Deutsche an, sondern halte sie für Menschen geringeren Wertes, für Fremde oder Unheil bringende Bettler. Die ursprüngliche Skepsis schlug in dem Maße in Ablehnung um, als sich abzeichnete, dass es sich bei den Flüchtlingen und Vertriebenen nicht um Gäste, sondern Dauerbewohner handeln würde. Neutrale Beobachter sprachen angesichts solcher Verhältnisse von einem hier und da akuten Krieg zwischen Alt- und Neubürgern. Von deutlichen Zügen eines „Nationalitätenkampfes“ und eines „Klassenkampfes“ war die Rede. Die Stimmen, welche schon immer eine Lösung des Flüchtlingsproblems allein in der massiven Auswanderung sahen, erhielten neue Nahrung. Dennoch, die Vertriebenen mussten ohne jedwedes Aufnahmeverfahren aufgenommen werden. Zudem kam die Rückkehr, wenn auch entschieden gewünscht, aus Sicht der Alliierten nicht in Frage. Vieles, wenn nicht sogar alles, deutete im Vorfeld der Gründung der Bundesrepublik auf die Offenheit der deutschen Flüchtlingsfrage.[22]

Völlig anders sehen dagegen die Voraussetzungen für die Aufnahme der gegenwärtigen Flüchtlinge in Deutschland aus. Die Bundesrepublik entscheidet oder versucht darüber zu entscheiden, wer aufgrund welcher Kriterien für wie lange aufgenommen und wer zurückgeschickt wird oder zurückgeschickt werden soll. Die Flüchtlinge kommen in der Regel zunächst in Lager, wenn der Begriff auch gerne zugunsten von Grenzzentren, Transit- oder Registrierzentren, Aufnahmeeinrichtungen, Landes- und Bedarfserstaufnahmestelle gemieden wird. Allein schon die punktuelle Überlegung, ungenutzten privaten Wohnraum zu requirieren, führt zu einem bundesweiten Echo. Aber die Flüchtlinge kommen in ein wirtschaftlich prosperierendes, wohlhabendes, funktionierendes, auf Gewaltenteilung beruhendes Staatswesen mit einer hoch effizienten Verwaltung auf allen Ebenen. Sie kommen zudem in eine Gesellschaft, die trotz wachsender Fremdenfeindlichkeit die Willkommenskultur nicht nur hoch hält, sondern sie auch praktiziert. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Bundesrepublik nicht verpflichtet, alle Flüchtlinge aufzunehmen. Sie kann selbst im Rahmen der durchaus veränderbaren gesetzlichen Bestimmungen entscheiden, wer einen Aufenthaltstitel erhält und wer umkehren muss. Und sie tut es noch in einem Maß, für das es internationale Anerkennung gibt.

3.6. Folgen für die Flüchtlinge und die aufnehmende Gesellschaft

Die Flüchtlingsfrage war ein gewichtiger Teil der Gründungskrise der Bundesrepublik. Im Flüchtlingsproblem sah der Deutsche Bundestag daher das Kernstück aller sozialen Fragen.[23] Dass man von der Flüchtlingsfrage sprach, war kein Zufall. Antworten auf die Herausforderungen, welcher der mit der Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen angestaute soziale Sprengstoff in sich barg, fehlten 1949 noch weitgehend. Es war längst nicht klar, ob und wie er entschärft werden konnte, weshalb auch hohe Auswanderungszahlen aus Deutschland registriert wurden, aber es bestand Einigkeit darin, dass er so schnell wie möglich entschärft werden musste. Die das gesamte gesellschaftliche Gefüge betreffende Flüchtlingsfrage tickte, um mit dem Historiker Hans-Peter Schwarz zu sprechen, wie eine Zeitbombe im Gebälk des jungen Staates.

Entgegen der Erwartung und Vorhersage vieler Zeitgenossen im In- und Ausland gelang es in einem Jahrzehnte währenden Prozess, zunächst den Zeitzünder der Flüchtlingsfrage zu entschärfen und schließlich den neutralisierten Sprengkörper in das Fundament des entstehenden Staates einzufügen. Die befürchtete desintegrierende und destabilisierende Wirkung – palästinensische Verhältnisse, wie es zeitgenössisch hieß –, die von „Deutschlands Problem Nr. 1“ auszugehen drohten, trat nicht ein. Unter den Faktoren, die dazu beigetragen haben, war die Verschärfung des Ost-West-Gegensatzes zum Kalten Krieg mit der wichtigste. Angesichts der sich anbahnenden, von der Konfrontation zweier Blöcke gekennzeichneten bipolaren Welt waren die Westmächte, allen voran die USA, an einem stabilen, wirtschaftlich florierenden Weststaat interessiert. Die Folge war eine Neuausrichtung der Politik gegenüber den westlichen Besatzungszonen, die in die Gründung der Bundesrepublik und deren Westintegration mündete. Dabei hatte die Flüchtlingsfrage und mit ihr verbunden der Wohnungsbau und der Lastenausgleich einen hohen Stellenwert. Das deutsche Wirtschaftswunder, einerseits Integrationsmotor und andererseits auch Ergebnis der Flüchtlingsintegration, sog die Arbeitskraft der Vertriebenen geradezu auf. Stieg nach der Währungsreform bei den Vertriebenen die Arbeitslosigkeit bis zu 40 Prozent, so herrschte Mitte der 1950er Jahre Vollbeschäftigung.

Doch die verglichen mit der Ausgangssituation nicht für möglich gehaltenen Erfolge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch nach Jahrzehnten die Eingliederung der Vertriebenen noch nicht vollzogen war. Das lässt sich am Konuptialindex, ein Index, der die Häufigkeit der Eheschließungen zwischen Alt- und Neubürgern misst, und auch in den Bereichen Landwirtschaft, Industrie und Eigentumsquote ablesen. Beispiele aus einem Bundesland, Baden-Württemberg, sollen hier genügen: Bei der Landwirtschaftszählung 1960 lag der Anteil der von Vertriebenen bewirtschafteten Höfe bei lediglich 2,6 %. Diese wiederum wiesen eine um ein Drittel geringere Eigentumsquote als jene eingesessener Bauern auf. Die Vermögenssubstanz (Haushalt und Ersparnisse) der Altbürger war 1964 fast doppelt so hoch. In der Industrie war 1971 bei den älteren Jahrgängen der Anteil der un- und angelernten Kräfte unter den Vertriebenen immer noch doppelt so hoch wie bei den Altbürgern. Im selben Jahr verfügten 32,6% aller Einheimischen über ein Haus, dagegen lediglich 24,9% der Vertriebenen. Bestätigt wurden diese Daten durch die Analyse des Mikrozensus von 1971. Sie weist in unterschiedlichen Bereichen eine nach wie vor bestehende Chancenungleichheit von Alt- und Neubürgern nach und entlarvt damit die behauptete schnelle Integration der Vertriebenen als Mythos.[24] Auch bei den deutschen Vertriebenen erstreckt sich die Integration auf mindestens drei Generationen.

Wie viele der gegenwärtigen Flüchtlinge in Deutschland bleiben werden, lässt sich nicht beziffern. Wie die Integration der gegenwärtigen Flüchtlinge erreicht werden kann – die wesentliche und maßgebliche Komponente der Flüchtlingsfrage – , ist ungewiss. Wie die langfristigen Folgen der gegenwärtigen Flüchtlingsaufnahme aussehen werden – demographisch, wirtschaftlich, politisch, kulturell – , darüber wird spekuliert. Ob die Flüchtlinge zumindest langfristig helfen werden, den demographischen Faktor abzufedern, ist nicht sicher. Ob sie die von der Wirtschaft händeringend gesuchten Arbeits- und vor allem Fachkräfte liefern, muss sich noch erweisen. Und ob es mit den Flüchtlingen gelingt, die Waage der deutschen Sozialsysteme auszutarieren, wird zwar angenommen, ist aber durchaus nicht sicher. Sicher ist nur, dass es ein langer Prozess mit ungewissen, in jedem Fall nicht vorhersehbaren Folgen sein wird – für die Flüchtlinge und die deutsche Gesellschaft.

4. Fazit

Eindeutiger kann das Ergebnis eines Vergleichs der gegenwärtigen und der Flüchtlingsfrage nach 1945 nicht ausfallen. Die strukturellen Voraussetzungen sind, welche Parameter man auch betrachtet, grundverschieden. Für die beliebte Gleichsetzung der Flüchtlingsfrage nach 1945 und der gegenwärtigen, für eine Analogie oder auch nur eine Anspielung, liefern die empirischen Befunde keine Grundlage. Der in der Öffentlichkeit, in der politischen Auseinandersetzung, in den Medien und auch in der Wissenschaft bemühte Vergleich führt daher nicht nur in die Irre, er ist auch falsch. Die gedeuteten, vermuteten oder angenommenen Gemeinsamkeiten der beiden Flüchtlingsfragen liegen nicht vor. Auch deshalb sollte der Griff in die Kiste der Geschichte das Urteilen und Unterscheiden nicht ersetzen, auch nicht bei der gegenwärtigen Flüchtlingsfrage.

Daraus aber den Schluss zu ziehen, der Blick in die Vergangenheit sei zu vermeiden, wäre sicher voreilig. Denn gerade die Analyse einer Zwangsmigration von rund 12,5 Millionen Menschen mit den ihr eigenen Charakteristika und deren weitgehend erfolgreiche Integration und Assimilation in der Bundesrepublik erlaubt es, zumindest Schlüsse aus einem mittlerweile historisch gewordenen Prozess zu ziehen: Die Aufnahme von Millionen von Migranten in kurzer Zeit kann gelingen, ihre Integration kann erfolgreich verlaufen, und die Flüchtlinge und die aufnehmende Gesellschaft können daraus Vorteile ziehen. All das kann, muss aber nicht eintreten und tritt schon gar nicht zwangsläufig ein.

Damit das Mögliche auch tatsächlich eintritt, bedarf es eines bestimmten Voraussetzungsbündels, in diesem Fall der einmaligen Konstellation, für die die Stichworte Besatzung, Zwang, Kalter Krieg, Wirtschaftswunder, gezielte staatliche Maßnahmen zugunsten der Flüchtlinge, gemeinsamer nationaler und kultureller Erbens- und Gedächtniszusammenhang, Prosperität und Frieden stehen. In einem solchen spezifischen, mehrere Jahrzehnte umfassenden Kontext zeitigte das Experiment der ungewollten Aufnahme und Integration von Millionen von deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen im Nachkriegsdeutschland unter Inkaufnahme nicht geringer Opfer auf beiden Seiten, getragen von einem sehr hohen finanziellen Aufwand, langfristig betrachtet positive Folgen – für die Flüchtlinge und für die aufnehmende Gesellschaft. Beide Seiten haben sich als Ergebnis der Flüchtlingsfrage nach 1945 verändert. Die bundesdeutsche Gesellschaft ist in großen Teilen auch ein Ergebnis dieses letztendlich erfolgreichen Integrationsprozesses.

Wenn aber der Eingliederungsprozess deutscher Flüchtlinge und Vertriebenen unter diesen spezifischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen mehr als drei Generationen gedauert hat, so darf angenommen werden, dass die Folgen der gegenwärtigen Flüchtlingsfrage, gerade auf Grund der zumindest ansatzweise herausgearbeiteten grundlegenden strukturellen Unterschiede zwischen der Flüchtlingsfrage nach 1945 und jener von heute, ein Experiment mit noch höheren Anforderungen und mit einer deutlich längeren Dauer und auch offenem Ausgang sind. Für dieses Experiment kann der Staat neben dem Asylgesetz und den internationalen Flüchtlingsverpflichtungen auch mit einem Zuwanderungsgesetz, das es in der frühen Bundesrepublik zwar nicht namentlich, aber mit dem BVFG de facto gab, klare Rahmenbedingungen setzen. Die Bürger ihrerseits sind aufgefordert, das Zusammenwachsen von Alt- und Neubürgern zu leben. So gesehen, können auch aus dem Vergleich der Flüchtlingsfrage nach 1945 und heute anregende und damit hilfreiche Schlüsse gezogen werden – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

 


[1] World at War. UNHCR. Global Trends. Forced Displacement in 2014.
[2] Weltweit knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Pressemitteilung UNHCR, 18.06.2015.
[3] Vgl. z. B die Meldung: 1,1 Millionen Flüchtlinge kamen 2015 nach Deutschland, in: Die Welt, 6.01.2016.
[4] BAMF: Asylgeschäftsstatistik 1/2016.
[5] Rede: Bundespräsident Joachim Gauck anlässlich des ersten Gedenktages für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2015 in Berlin.
[6] Andreas Kossert: Flüchtlinge: Böhmen, Pommern, Syrien, in: Zeit, 12.02.2015. Dem Beitrag ist auch das folgende Zitate entnommen.
[7] Jörg Baberowski: Ungesteuerte Einwanderung. Europa ist gar keine Wertegemeinschaft, in: FAZ, 14.09.2015.
[8] Manfred Hettling: Diese gewissen Menschengruppen, in: FAZ 20.10.2015, S. 13. Der textidentische Beitrag ist auch unter dem Titel „Die Zumutung des Solidaritätsempfindens“ erschienen.
[9] Jannis Panagiotidis, Patrice Poutrus, Frank Wolff: Integration ist machbar, Nachbar, in: FAZ, 29.09.2015, S. 13.
[10] Der sich als Diskussionsangebot verstehende Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den ich am 19.11.2015 am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig gehalten habe. Es wird bewusst auf einen umfangreichen Anmerkungsappart verzichtet.
[11] Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz - BVFG), Ausfertigungsdatum: 19.05.1953.
[12] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Art. 16a.
[13] Zu dem am 20.10.2015 verabschiedeten Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz. Bundesgesetzblatt Jahrgang 2015 Teil I Nr. 40, ausgegeben zu Bonn am 23. Oktober 2015.
[14] Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (In Kraft getreten am 22. April 1954). Darin auch das folgende Zitat.
[15] Michael Schwartz: Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. Und 20. Jahrhundert, München 2013.
[16] Vgl. dazu Mathias Beer: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011; Ray M. Douglas: Ordnungsgemäße Überführung. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2012.
[17] Vgl. dazu Beer, Flucht und Vertreibung.
[18] Michael Schwartz: Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945-1961, München 2004.
[19] Reichling, Gerhard: Die deutschen Vertriebenen in Zahlen. Teil 1: Umsiedler, Verschleppte, Vertriebene, Aussiedler 1940-1985, Bonn 1986; Teil 2: 40 Jahre Eingliederung in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1989.
[20] BAMF: Aktuelle Zahlen zu Asyl, März 2016.
[21] Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, Berlin 2008; Beer: Flucht und Vertreibung.
[22] Beer: Flucht und Vertreibung.
[23] Ebd.
[24] Paul Lüttinger: Integration der Vertriebenen. Eine empirische Analyse, Frankfurt am Main/New York 1989.