Vorgeschichten - Gastarbeiter - Aussiedler - Asylbewerber - Die Asylbewerberkampagne - Strukturen der Ausländerdebatte - Globale Migration heute - Fazit
Vorgeschichten
Ausländische Arbeiter gab es in Deutschland schon seit den 1880er Jahren, mit dem Höhepunkt der Rekrutierung von insgesamt mehr als 10 Millionen Ausländern, die während des Zweiten Weltkrieges aus den von Deutschland besetzten Ländern überwiegend zwangsweise von den Nazi-Behörden ins Reich zum Arbeitseinsatz gebracht worden waren.[1]
Als aber nur etwa 15 Jahre nach dem Krieg, um das Jahr 1960 herum, die Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften in der Bundesrepublik wie in den meisten west- und nordeuropäischen Industriestaaten wieder einsetzte, wurde hier an die Traditionen der Zwangsarbeit ebenso wenig gedacht wie an die Migrationsbewegungen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die erneute Heranziehung von ausländischen Arbeitskräften begann vielmehr unter der Suggestion der Voraussetzungslosigkeit, und zwar in dem Moment, als der Zustrom der Flüchtlinge aus der DDR mit dem Bau der Berliner „Mauer“ im August 1961 jäh unterbrochen wurde. Ausländer schienen für die dynamisch wachsende Wirtschaft Westdeutschlands erneut unentbehrlich und wurden durch Anwerbungskampagnen hierher gelockt.
Gastarbeiter
Dabei wurde wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass der Aufenthalt der Arbeitsmigranten in den europäischen Industrieländern auf ein paar Jahre beschränkt bliebe; dass sich aus der Ausländerbeschäftigung längerfristige Folgeprobleme ergeben könnten, wurde in den frühen 1960er Jahren nicht thematisiert. Schon der sich in Westdeutschland einbürgernde Name „Gastarbeiter“ verwies auf diese Annahmen. In der Tradition der Zivilisierungsmission des weißen Mannes gegenüber den unterentwickelten Völkern in den Kolonien wurde die Anwerbung der Ausländer aus Südeuropa sogar als Maßnahme der kulturellen Hebung gefeiert oder, wie vom westdeutschen Arbeitsminister Blank, als „ein Stück Entwicklungshilfe für die südeuropäischen Länder“.
Anfang der 1970er Jahre aber machte sich bei den Arbeitsmarktexperten in Westdeutschland eine deutliche Unruhe breit, die ihren Grund in einer neuen, für sie ganz überraschenden Entwicklung hatte: Die Zahl der Rückkehrer sank, die der nachgeholten Familien der „Gastarbeiter“ stieg. Viele von ihnen waren das Leben in Barackenlagern leid und sahen sich nach richtigen Wohnungen um: Alles deutete darauf, dass diese Menschen nun offenbar vorzuhaben schienen, für länger hierzubleiben, wenn nicht gar – horribile dictu – für immer!
Daraufhin erließ die Regierung Brandt im Windschatten des „Ölboykotts“ der OPEC-Staaten von 1973 einen „Anwerbestop“[2], um den weiteren Zuzug von „Gastarbeitern“ zu begrenzen; ähnliche Bestimmungen traten dann in den meisten westeuropäischen Ländern in Kraft. Allerdings erwies sich das vornehmliche Kalkül der Initiatoren des „Ausländer-Zuzugstops“ als falsch. Die Zahlen der in den Aufnahmeländern lebenden Ausländer verminderten sich nicht, sondern begannen nach einiger Zeit sogar wieder zu steigen. Binnen weniger Jahre erwies sich die Vorstellung vom bald wieder rückkehrenden „Gast-Arbeiter“ als Schimäre. Aus den Arbeitsemigranten waren Einwanderer geworden – ein Prozess, den wir bei den meisten Arbeitsmigrationsprozessen der Neuzeit beobachten können. Einwanderungsprozesse entstehen in der überwiegenden Zahl der Fälle aus Saison- oder Wanderarbeit; der ursprünglich starke Rückkehrwunsch verblasst mit der Zeit, ohne dass damit bereits ein bewusster Entschluss der Einzelnen verbunden sein muss, nun auf Dauer hier zu bleiben.
Für diese neue Problematik besaßen die Behörden der Aufnahmeländer jedoch keine einschlägigen Handlungsmodelle, außer dem Versuch, die Zahl der Ausländer wieder zu senken. Bis in die späten 1990er Jahre galt jedoch das Postulat: „Deutschland ist kein Einwanderungsland“. Zwar gab es eine ganze Reihe von sozialpolitischen Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage der Ausländer; sie basierten aber weiterhin auf der Annahme des nur vorübergehenden Aufenthalts der Ausländer und sahen eine auch staatsbürgerliche Integration nicht vor.
Zudem entstanden nun in Westdeutschland wie in den meisten westeuropäischen Ländern bei der alteingesessenen Bevölkerung verstärkt Ängste und Ablehnung gegenüber den Zuwanderern, und zwar vor allem bei den sozial schwachen Gruppen unter den Einheimischen, die von Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst besonders betroffen waren. Hier entstand auch ein Potential für xenophobe und nationalistische Tendenzen, deren Stärke sich in den einzelnen Ländern jedoch unterschied und zudem stark schwankte.
Aussiedler
Zugleich aber begannen sich in diesen Jahren um 1980 herum die migratorischen Prozesse weltweit grundlegend zu wandeln. Dabei überlappten sich verschiedene historische Entwicklungen: Erstens war die Einwanderung von überwiegend ungelernten Arbeitern für die industrielle Massenfertigung in den 1960er und frühen 1970er Jahren Ausdruck der industriellen Rekonstruktionsperiode zwischen 1950 und 1975. Mit dem Niedergang der klassischen Industriegesellschaft, dem schroffen Rückbau der montanindustriellen Kapazitäten seit Mitte der 1970er Jahre und der Verlagerung industrieller Massenfertigung in Billiglohnländer wurde der ungelernte Arbeiter im Stahlwerk, im Bergbau oder bei der Autoindustrie plötzlich zum Auslaufmodell und der Gastarbeiter zum Konkurrenten um die sich stetig verringernde Zahl an Arbeitsplätzen für Angelernte und gering Qualifizierte.
Zweitens war die Phase des innereuropäischen Arbeitskräfteaustauschs, deren Signum in der Bundesrepublik die „Gastarbeiter“ waren, an ihr Ende gelangt. Die volkswirtschaftlichen Entwicklungen der europäischen Staaten begannen sich einander anzunähern. Durch die Entwicklung hin zu einem europäischen Binnenmarkt, die bis Ende der 1980er Jahre vollendet wurde, wurden auch für den Arbeitsmarkt nicht mehr die Begrenzungen der einzelnen Nationalstaaten, sondern die Grenzen der Europäischen Gemeinschaft entscheidend. In der Politik wurde mithin nicht länger die Dichotomie Inländer / Ausländer, sondern EG-Inländer / EG-Ausländer bestimmend. Auf die Migration von EG-Ausländern gehe ich im Folgenden nicht näher ein.
Drittens begannen sich die armutsmotivierten Massenwanderungen in der „Dritten Welt“, die traditionell eher regional ausgerichtet gewesen waren, seit den späten 1970er Jahren zunächst allmählich, seit den frühen 1980er Jahren dann in stark zunehmendem Maße zu überregionalen und transnationalen Wanderungsprozessen auszuweiten, und zwar zum einen durch die sich verschärfenden Unterschiede zwischen den reichen und den armen Regionen der Welt, zweitens durch den leichteren Zugang zu Informationen über diesen Zustand und drittens durch die verbesserten Transportwege. In allen westeuropäischen Ländern, nicht anders in den USA, nahm der „Wanderungsdruck“ aus den ärmeren Regionen der Welt daraufhin zu. In dieser Situation suchten die in die Industrieländer drängenden Migranten, nachdem in den 1970er Jahren überall Zuwanderungsbegrenzungen errichtet worden waren, neue Wege der Zuwanderung und fanden sie unter anderem im europäischen, insbesondere im deutschen Asylverfahren sowie in der deutschen Besonderheit der sogenannten „Aussiedler“ oder „Spätaussiedler“. Besondere Bedeutung gewannen dabei rapide Verschlechterungen der sozialen Lage durch Bürgerkriege sowie der wirtschaftliche Absturz der UdSSR und der sozialistischen Länder in Ostmitteleuropa.
Zu den Aussiedlern: Seit Mitte der 1980er Jahre schnellten die Zahlen der aus den Ostblockländern in die Bundesrepublik strömenden deutschstämmigen „Aussiedler“ in die Höhe. Bei diesen Menschen handelte es sich einerseits um die noch in den ehemaligen deutschen Ostgebieten lebenden Deutschen, denen nach den großen Flucht- und Vertreibungswellen zwischen 1944 und 1949 die Auswanderung nach Deutschland verwehrt worden war oder die sie gar nicht angestrebt hatten. Andererseits wurden unter diesem Begriff jene Menschen verstanden, die von Deutschen abstammten, die vor längerer Zeit aus Deutschland in osteuropäische Länder abgewandert waren, dort aber die Verbindung zur Heimat ihrer Väter behalten hatten. Besonders traf dies auf die in Rumänien und der Sowjetunion lebenden Angehörigen der deutschen Minderheit zu. Vor allem in der Sowjetunion hatten viele von ihnen seit den 1940er Jahren aufgrund ihrer Herkunft Repression, Verfolgung und Deportation erleiden müssen. Die meisten von ihnen lebten nach wie vor in ihren traditionellen Siedlungsgebieten, etwa in Siebenbürgen oder dem Banat, oder in den Gebieten, in die sie während des Zweiten Weltkrieges zwangsweise umgesiedelt worden waren.[3] Zwischen 1950 und 1987 waren insgesamt 1,4 Millionen Aussiedler in die Bundesrepublik gekommen, 62 Prozent davon aus Polen, 15 Prozent aus Rumänien, nur 8 Prozent aus der Sowjetunion. Nun aber begann sich dies entscheidend zu ändern.
Von den 202.673 deutschen Aussiedlern des Jahres 1988 stammten 69 Prozent aus Polen, 23 Prozent aus der Sowjetunion und 6,3 Prozent aus Rumänien. Zwei Jahre später hatte sich das Bild deutlich gewandelt, nunmehr kamen 37 Prozent aus der Sowjetunion, 34 Prozent aus Polen und 28 Prozent aus Rumänien.[4] Zwischen 1986 und 1988 verfünffachte sich die Zahl der neu ankommenden Aussiedler also und war damit doppelt so hoch wie die Zahl der Asylbewerber. Nimmt man beide Migrationsbewegungen – auf den Wegen der Aussiedler- und der Asylgesetzgebung – zusammen, so wanderten innerhalb von fünf Jahren, zwischen 1988 und 1992, mehr als 2,2 Millionen Bürger aus den ehemals kommunistisch regierten Ländern Osteuropas in die Bundesrepublik ein. Schon dies verdeutlicht die gänzlich veränderte Struktur der Einwanderungsproblematik der Jahre um 1990 im Vergleich zu jener der frühen 1980er Jahre.
Die rechtliche und politische Begründung für den Status als „Aussiedler“ wurde nun ebenfalls zum innenpolitischen Streitpunkt. Im Jahre 1957 waren die Aussiedler den Vertriebenen gleichgestellt und der Begriff der ethnischen Zugehörigkeit präzisiert worden: „Deutscher Volkszugehöriger ist, wer sich in seiner Heimat zum Deutschtum bekannt hat.“[5] Darunter wurde – auf der Grundlage der Abstammung – eine aktive kulturelle und politische Orientierung verstanden, die in den meisten Ländern schon durch die dortigen Behörden herausgefordert wurde. Auf dieser Basis hatten die Aussiedler einen Rechtsanspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft sowie auf umfängliche sozialstaatliche Leistungen – etwa Wohnraum, Sprachkurse, Vorbereitungs- und Umschulungskurse für die berufliche Eingliederung und anderes.
Asylbewerber
Der zweite Einwanderungsweg bezog sich auf das Asylrecht sowie den Status als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Hierbei ist zum Verständnis der weiteren Entwicklung zunächst auf den Unterschied zwischen „Großem“ und „Kleinem Asyl“ zu verweisen. Das „Große Asyl“ meint die Asylberechtigung nach Art. 16a Grundgesetz. Danach erhält Asyl in Deutschland, wer drei miteinander kausal verknüpfte Voraussetzungen erfüllt: erstens die Verfolgung im Heimatland durch staatliche Stellen, zweitens die deswegen erfolgte Flucht nach Deutschland und drittens die deswegen erfolgte Stellung eines Asylantrags in Deutschland. In einem Großteil der Fälle sind aber diese drei Faktoren nicht gegeben. Solchen Personen kann unter bestimmten Voraussetzungen der rechtliche Status eines Flüchtlings nach der Genfer Flüchtlingskonvention zuerkannt werden („Konventionsflüchtling“ nach § 3 Abs.1 Asylgesetz). Solche Voraussetzungen sind die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure (wie derzeit etwa in Somalia), das Verlassen des Heimatlandes ohne aktuelle Bedrohung, die Flucht nach Deutschland erst nach sicherer Aufnahme in einem Drittstaat, die verspätete Asylantragstellung nach der Einreise sowie die so genannten „Nachfluchtgründe“. Damit sind solche Fälle erfasst, in denen die Voraussetzungen für die Asylgewährung erst während des Aufenthaltes in Deutschland eingetreten sind – etwa ein Regierungswechsel im Heimatland oder die erst beim Aufenthalt in Deutschland aufgenommene oppositionelle Tätigkeit; hier ist etwa an Iraner zu denken, die in Deutschland gegen das Regime in Teheran demonstrierten und danach nicht mehr zurückgehen konnten, ohne ihr Leben zu riskieren. Der weit überwiegende Teil der Flüchtlinge erhält in Deutschland Asyl nach §3 Asylgesetz, während der Anteil derer, die das „Große Asyl“ erhalten, lange Zeit bei unter 10 Prozent der Bewerber lag. Das wiederum hat dazu geführt, dass in der Presse die übrigen 90 Prozent als „Asylbetrüger“ diffamiert wurden.
Das Asylrecht in Deutschland hat seine eigene Geschichte. Es war 1949 auf Druck der Amerikaner ins Grundgesetz aufgenommen worden – als Referenz an die nach 1933 vor den Nazis geflüchteten jüdischen und nichtjüdischen Deutschen, die überall in der Welt Aufnahme und Asyl gesucht und so selten gefunden hatten. Fortan, so die Festlegung im Parlamentarischen Rat, sollte Deutschland in seiner westlichen Schrumpfform für die von Diktaturen Verfolgten eine sichere Heimstätte sein. Dieser Grundgesetzartikel war einschränkungslos und nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament zu verändern.
Tatsächlich aber hatte das Asylrecht bis in die 1980er Jahre hinein nur eine sehr geringe Rolle gespielt. Es wurde im Kalten Krieg nahezu ausschließlich für Flüchtlinge aus dem Ostblock angewandt, von denen im Durchschnitt jährlich zwei- bis dreitausend in die Bundesrepublik kamen, hier hohes Ansehen genossen und deren Antrag auf Asyl zu fast 80 Prozent auch anerkannt wurde.
Im Laufe der 1980er Jahre aber nutzte nun eine steigende Zahl von Migranten diesen Weg, um nach Deutschland zu kommen. Ähnliches vollzog sich, wenn auch in weit geringerem Maße, in allen westeuropäischen Ländern. Dafür gab es neben den beschriebenen allgemeinen Ursachen auch solche mit aktuellem politischen Hintergrund: Die Machtübernahme des islamistischen Regimes im Iran, der Bürgerkrieg im Libanon sowie der Militärputsch in der Türkei führten zu großen Fluchtbewegungen, und der Anteil von Asylbewerbern gerade aus diesen Ländern nahm drastisch zu. Als die Zahl der Asylbewerber in der Bundesrepublik im Jahre 1986 erstmals auf über 100.000 stieg, setzte eine an Heftigkeit zunehmende Diskussion ein, wie man dieser unerwünschten Zuwanderung Herr werden könne. Diese Debatte nahm bald scharfe, sogar hysterische Töne an und sollte nun für fast zehn Jahre zu einem der beherrschenden Themen der bundes-, dann gesamtdeutschen Innenpolitik werden.
Viel stärker aber als die Umstürze in der Türkei und im nahen Osten wirkte der sich andeutende Zusammenbruch der kommunistischen Länder im Machtbereich der Sowjetunion aus. Die Zahl der „Ostflüchtlinge“ war bereits seit 1980 zusehends angestiegen. 1986 kam jeder sechste Asylsuchende aus Osteuropa, 1988 jeder dritte.
Nach der Öffnung der Grenzen in Osteuropa nahm die Zahl der Asylbewerber drastisch zu. Sie lag 1989 in der Bundesrepublik bei 120.000, 1990 bei 190.000. Bis 1992 stieg sie dann auf 438.000, um nach der Änderung des Grundgesetz-Artikels 16 im Dezember 1992 wieder auf das Ausgangsmaß von etwa 120.000 pro Jahr zurückzufallen. Zwei Drittel der Asylbewerber kamen aus Osteuropa.[6] Nun waren 100.000 Asylbewerber angesichts der etwa 4,5 Millionen Ausländer in Deutschland (1986) im Grunde eine unbeachtliche Größenordnung.
Daran band sich jedoch eine tief sitzende Furcht vor der „Überflutung“ Europas und vor allem Deutschlands durch Millionen von Flüchtlingen aus der Sowjetunion und ihren Trabanten. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass der Asylparagraph ursprünglich ja genau für diese Gruppe eingerichtet worden war, nämlich für Menschen, die vor den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen in den kommunistischen Ländern nach Westen flohen. Dennoch wurden nicht Russen, Polen und Tschechen zu Symbolfiguren des „Asylanten“, der nun als neue Figur der deutschen Nachkriegsgeschichte eine zeitweise prominente Rolle einnahm, sondern Schwarzafrikaner, Araber und bald auch Vietnamesen, obwohl diese nur einen verschwindenden Teil der Asylbewerber ausmachten.
In Westdeutschland hatte sich die Diskussion um die Ausländer- und Asylpolitik bereits im Verlaufe der späten 1980er Jahre derart zugespitzt, dass Beobachter in dieser Thematik schon früh „die alles überragende innenpolitische Kontroverse der heraufziehenden neunziger Jahre“ erkannten. „Fachleute rechnen mit einer Ausreisewelle von bis zu 10 Millionen Menschen“, hieß es Ende 1990 in verschiedenen Zeitungen. Auch wurde der Anteil der Asylbewerber an den Zuzügen und den Wanderungsbewegungen insgesamt überschätzt. Von 1990 bis 1994 standen den knapp 1,5 Millionen Asylbewerbern etwa 2,1 Millionen Ausländer gegenüber, die außerhalb des Asylweges nach Deutschland kamen. Dabei handelte es sich um Familiennachzüge sowie um EG-Ausländer mit erweitertem Zuzugs- und Aufenthaltsrecht.[7]
Die Asylkampagne
Bereits seit 1988 hatten die Unionsparteien darauf bestanden, dass der stark zunehmende Zuwanderungsdruck nach Deutschland abgewehrt werden müsse – und zwar durch die Änderung des Grundgesetzartikels 16 über die Gewährung von politischem Asyl. Innerhalb der sozialdemokratischen Partei war diese Frage umstritten. Hier spiegelten sich die in der Gesellschaft vertretenen gegensätzlichen Positionen: Auf der einen Seite standen diejenigen, die in den Städten und Gemeinden mit den Auswirkungen der Zuwanderung und der steigenden Verärgerung in der Bevölkerung konfrontiert waren – auf der anderen Seite diejenigen, die das in der politischen Tradition der Bundesrepublik bedeutungsvolle Grundrecht auf Asyl nicht preisgeben wollten.
Daraufhin begann die Union im Vorfeld der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen vom Dezember 1990 mit einer Kampagne für eine Veränderung des Grundrechts auf Asyl und zielte dabei vor allem auf die unschlüssige SPD. Im Zentrum stand dabei die Behauptung, bei den Asylbewerbern handle es sich überwiegend um Schwindler und Betrüger, die von den hohen sozialen Leistungen in der Bundesrepublik angelockt würden. „Bei mehr als 90 Prozent Schwindlern“, hieß es etwa in der „Welt“, „kann sich das zur existenziellen Bedrohung unseres Sozialwesens auswachsen.“ Der Berliner Historiker Arnulf Baring forderte in der „Bild-Zeitung“, das Grundrecht auf Asyl müsse sofort abgeschafft werden, denn das „Grundproblem“ bestehe doch darin, „dass unsere gutmütige Sozialgesetzgebung zum Magneten geworden ist, der die Armen des ganzen Erdballs anzieht“. Daher dürfe „selbst die Asylgewährung nicht das Recht auf eine Sozialhilfe einschließen, wie sie Deutschen zusteht.“ Und der bayerische Innenminister Stoiber erklärte: „Das Grundgesetz wird anscheinend dann erst geändert, wenn den Altvorderen in Bonn, die bar jeglicher praktischen Erfahrung sind, einmal das Feuer unterm Hintern von ihren eigenen Leuten angezündet wird.“[8]
Mit Maueröffnung und Wiedervereinigung war der Zuzug von Ausländern und Asylbewerbern von einem westdeutschen zu einem gesamtdeutschen Problem geworden. Gerade in diesen Bereichen waren die Voraussetzungen und Erfahrungen in beiden Gesellschaften außerordentlich unterschiedlich. In der DDR hatte es nur sehr wenige Ausländer gegeben – Anfang 1989 etwa 190.000 Personen, weniger als ein Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung. Die größten Gruppen unter ihnen stammten aus den befreundeten sozialistischen Staaten Vietnam und Mosambik und waren als „Vertragsarbeiter“ ins Land geholt worden, um die Arbeitskräfteknappheit etwas abzumildern. In der Regel handelte es sich um junge, ledige Männer, die ohne Familie in die DDR gekommen waren. Sie lebten dort unter rechtlich ungesicherten und sozial schwierigen Bedingungen und nahezu ausschließlich in abgesonderten Gemeinschaftsunterkünften. Von den Einheimischen wurden die Ausländer streng separiert – Kontakte zu ihnen waren für DDR-Bürger meldepflichtig. Und da es außer den vorgeschriebenen Ritualen der exerzierten Völkerfreundschaft keinen öffentlichen Austausch über die Anwesenheit der Ausländer gab und zudem in der SED ein guter Teil der bolschewistischen Tradition der Fremdenfurcht weiterlebte, konnte es nicht überraschen, dass auch in der ostdeutschen Bevölkerung vor 1989 fremdenfeindliche Stimmungen verbreitet waren. Die aber waren bis 1990 weitgehend unterdrückt worden. [9]
Nach der Öffnung der Grenzen und der Wiedervereinigung wurden die Menschen in Ostdeutschland jedoch mit einer fremden Welt des Westens konfrontiert, in welcher ihnen die acht Millionen dort lebenden Ausländer doppelt fremd vorkommen mussten. Nationalistische und fremdenfeindliche Positionen gewannen so rasch an Boden. „Rassismus und Ausländerfeindlichkeit“, so wurde bereits im April 1990 konstatiert, „kommen jetzt in der DDR ungehindert zum Ausbruch, das alte SED-Regime hatte die Ressentiments nur notdürftig unterdrückt. Mangelwirtschaft und nationalistische Stimmungen schüren den Fremdenhass gegen Vietnamesen, Polen und andere Minderheiten. Gewalttaten nehmen zu.“[10]
Mit jedem Monat, in dem steigende Zahlen von Asylbewerbern gemeldet wurden, verschärfte sich der Ton der Asylkampagne weiter. Der Berliner CDU-Fraktionschef Landowsky etwa beschwerte sich in einem Interview über die Ausländer, die „bettelnd, betrügend, ja auch messerstechend durch die Straßen ziehen, festgenommen werden und nur, weil sie das Wort ‚Asyl’ rufen, dem Steuerzahler in einem siebenjährigen Verfahren auf der Tasche liegen.“[11] So war die erste politische Erfahrung, die die Ostdeutschen im wiedervereinigten Deutschland machten, eine hoch emotionalisierte Asyldebatte, in der Gewalt gegen Ausländer als Gefahr dargestellt wurde, aber auch als Drohung verstanden werden konnte. Dadurch entstand allmählich ein politisches Klima, in dem in zugespitzten Situationen vor allem Jüngere den Eindruck gewinnen konnten, Überfälle auf Ausländer seien legitim und würden womöglich augenzwinkernd geduldet.
Als im April 1991 die deutsch-polnische Grenze in Frankfurt an der Oder feierlich geöffnet wurde, empfingen hunderte von Jugendlichen die einreisenden Polen mit einem Steinhagel. Einen weiteren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung, als am Ostersonntag 1991 in Dresden Jugendliche einen aus Mosambik stammenden ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter überfielen und aus der fahrenden Straßenbahn stießen; der Mann starb an seinen Verletzungen.[12]
Mittlerweile hatte sich die Asylkampagne verselbständigt. Boulevard und Straße regierten die Politik. Kein anderes Thema, so zeigten die Umfragen, bewegte die Deutschen in diesen Jahren so sehr wie die Asylproblematik. Von Juni 1991 bis Juli 1993 war für die Deutschen das Thema „Asyl/Ausländer“ das wichtigste Problem vor Vereinigungskrise und Jugoslawien-Krieg, mit Spitzenwerten von nahe 80 Prozent im Sommer 1991 und im Sommer 1992.[13] „Schon sind, vor allem im Osten, Überfälle auf Asylanten an der Tagesordnung“, berichtete der „Spiegel“ am 9. September 1991. „Viele Deutsche sehen solche Gewalttaten mit klammheimlicher Freude. Rund 40 Prozent der jungen Ostdeutschen empfinden Ausländer zumindest als ‚lästig’[...]. Jeder vierte hält sogar ‚Aktionen gegen Ausländer’ für richtig.“[14]>
Wenige Tage später ereignete sich ein aufsehenerregender ausländerfeindlicher Exzess. Vom 17. September 1991 an belagerten im sächsischen Hoyerswerda einige hundert Jugendliche über mehrere Tage hinweg ein Wohnheim für Ausländer, in dem Asylbewerber und ehemalige Vertragsarbeiter wohnten, bewarfen es mit Steinen und Brandsätzen und versuchten es zu stürmen. Als Polizeieinheiten das Gebäude beschützten, wurden sie ebenfalls mit Brandflaschen und Stahlkugeln beworfen. Schließlich kapitulierte die Polizei vor dem Mob und evakuierte die in den Wohnheimen lebenden Menschen mit Bussen. Bemerkenswert an den Ereignissen von Hoyerswerda waren nicht nur die Ausschreitungen, sondern auch, dass sie unter regem Anteil von explizit sympathisierenden Zuschauern aller Altersgruppen geschahen.
Die Ereignisse von Hoyerswerda zogen zahlreiche weitere ausländerfeindliche Anschläge und Übergriffe nach sich. Allein in den 14 Tagen nach diesen Ausschreitungen wurden solche Vorfälle aus 21 Orten in Ost- und Westdeutschland gemeldet. Im Oktober 1991 wurden in dem niederrheinischen Ort Hünxe vier libanesische Flüchtlingskinder nach einem Brandanschlag mit schweren Verbrennungen in ein Krankenhaus eingeliefert. In Gotha überwältigten Jugendliche vier sowjetische Soldaten und warfen sie aus dem Fenster einer Wohnung. In Greifswald griffen mehr als 200 Hooligans nach einem Fußballspiel ein Asylbewerberheim an, dabei wurden 35 Menschen zum Teil schwer verletzt.
Diese weithin unerwarteten, eruptiven Fälle von Gewalttätigkeit gegen Ausländer und Asylbewerber im Osten wirkten dabei offenbar stimulierend auf die im Westen stets vorhandene, aber isoliert gewesene rechtsradikale Szene, die sich durch die Re-Etablierung nationaler Symbolik und Phraseologie seit dem Fall der Mauer ohnehin auf dem Vormarsch wähnte. Diese von der überwiegenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung im Osten wie im Westen gleichwohl weiterhin abgelehnte Szene hatte hier einen Agitationspunkt gefunden, von dem aus sie ihre Isolation zu durchbrechen trachtete, was ihr in Ostdeutschland in manchen Regionen auch gelang.
Da die Zahl der Asylbewerber weiter anstieg und eine einvernehmliche Lösung des Konflikts nicht in Aussicht stand, setzte die Asyldebatte, die nach dem Schock von Hoyerswerda für einige Zeit abgeflaut war, im Frühjahr 1992 wieder in voller Lautstärke ein. Erneut kamen aus den Kommunen besorgte Rufe nach Eindämmung der Zuwanderung, und erneut machte die Boulevardpresse Stimmung. So nahmen im Sommer 1992 die Übergriffe gegen Ausländer wieder zu. Nun stieg auch die Zahl der Toten. Bereits am 14. März hatten in Saal bei Rostock 40 Rechtsextremisten ein Asylbewerberheim überfallen und einen Rumänen zu Tode geprügelt. Am 25. April erstach ein 21-jähriger Deutscher in Berlin auf offener Straße einen Vietnamesen. Am 8. Juli 1992 prügelten Jugendliche nach einem Überfall auf ein Ausländerwohnheim in Stuttgart einen seit 20 Jahren in Deutschland lebenden Albaner zu Tode. Am 3. August wurde in Stotterheim in Thüringen ein polnischer Saisonarbeiter von drei Skinheads zu Tode getreten. Ihren Höhepunkt fanden die Ausschreitungen in einem am 22. August beginnenden, mehrtägigen Pogrom in Rostock-Lichtenhagen, als zeitweise mehr als 1000 Jugendliche versuchten, ein von der Polizei nur notdürftig gesichertes Wohnheim für Ausländer und Asylbewerber zu stürmen. Sie steckten das Haus, in dem sich zahlreiche Ausländer, vor allem Vietnamesen, befanden, in Brand, während die Menge „Aufhängen!“ rief. Es gelang dem Mob, unterstützt von den johlenden Zuschauern, für eine Weile sogar, die Polizei zu vertreiben und schließlich zu zwingen, die in dem Wohnheim lebenden Ausländer unter dem Beifall der Unterstützer und Gaffer zu evakuieren.[15]
Die Reaktionen auf die Rostocker Vorfälle waren vielfältig. Auf der einen Seite ließ die Kampagne gegen die Asylbewerber nicht nach. In Rostock, so betonte ein Unions-Politiker, habe sich nicht Rassismus geäußert, „sondern der vollauf berechtigte Unmut über den Massenmissbrauch des Asylrechts.“[16] Auf der anderen Seite entwickelte sich nun aber in der deutschen Gesellschaft ein zunehmender Widerstand gegen diese Exzesse der Ausländerfeindlichkeit, der sich in Demonstrationen und Kundgebungen mit großer Beteiligung niederschlug und das politische Klima in der Republik nachhaltig beeinflusste.
Am 23. November 1992 schließlich steckten zwei Jugendliche ein von Türken bewohntes Haus im schleswig-holsteinischen Mölln in Brand. Drei Bewohner, eine Frau und zwei Mädchen, verbrannten – der bis dahin schrecklichste und folgenreichste Anschlag gegen Ausländer in Deutschland nach dem Krieg, der weithin fassungsloses Entsetzen hervorrief.[17] Nun wurden aber auch die Stimmen aus dem Ausland zunehmend besorgter. Vor allem die zaudernde Haltung der Regierung geriet in die Kritik. „Es wird der deutschen Regierung und Helmut Kohl schwer fallen“, schrieb die israelische Tageszeitung Ha’aretz, „sich von dem Verdacht reinzuwaschen, dass sie die Gewaltwelle gegen Ausländer aus einem ganz bestimmten Grund nicht stoppten: in der Hoffnung, die sich sträubende sozialdemokratische Opposition im Bundestag für die Abschaffung des Artikels 16 zu mobilisieren. [...] Jeden Tag erhärtet sich der Eindruck, dass die Bundesregierung in zwei elementaren Aufgaben versagt hat: die öffentliche Ordnung zu bewahren und das Leben und den Besitz von Ausländern zu schützen.“[18]
Unter dem Druck dieser Ereignisse und der weiter eskalierenden Kampagne zeichnete sich ab, dass die Sozialdemokraten ihre Weigerung, den Asylartikel des Grundgesetzes zu ändern, nicht würden aufrechterhalten können. Im Dezember 1992 einigten sich Koalition und SPD schließlich auf den so genannten „Asylkompromiss“, wonach jeder, der aus einem Staat einreiste, in dem die Grundsätze der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention Gültigkeit besaßen, kein Recht auf Asyl in Deutschland mehr besaß. Da Deutschland aber ausschließlich von Staaten umgeben war, in denen diese Grundsätze gewährleistet waren, konnte niemand mehr Asyl beantragen, der auf dem Landwege nach Deutschland gekommen war. Damit war Deutschland gegenüber Zuwanderung auf dem Asylweg praktisch abgeriegelt. Politisches Asyl konnte seither nur noch erlangen, wer mit dem Flugzeug nach Deutschland einreiste.[19]
Einen Tag nach der Verabschiedung des Asylgesetzes im Bundestag wurde aber auf verheerende Weise deutlich, dass die Änderung des Grundgesetzes weder ein Ende der Debatte noch der ausländerfeindlichen Übergriffe bedeutete. In Solingen kamen nach einem Brandanschlag auf ein von Türken bewohntes Haus fünf Menschen, drei Kinder und zwei Erwachsene, ums Leben. Von 1990 bis 1993 waren damit mindestens 49 Menschen von Rechtsextremisten ermordet worden – fast ausschließlich Ausländer. Bis zum Jahr 2000 stieg diese Zahl auf mehr als einhundert.[20]
Strukturen der Ausländerdebatte
Die Eskalation der Kampagne gegen die Asylbewerber macht deutlich, welche enorme innenpolitische Sprengkraft diese Frage in sich barg: auf der einen Seite sozial depravierte, oft auch politisch tatsächlich verfolgte Menschen, die enorme Risiken eingingen, um Aussichten auf eine bessere Zukunft in den reichen Ländern des Westens zu gewinnen. Auf der anderen Seite die einheimische Bevölkerung in Westdeutschland und den anderen Ländern der Europäischen Union, die sich durch die zuwandernden Armen insbesondere in ihrer sozialen Absicherung bedroht fühlte, weil es eben die ärmeren Schichten der Einheimischen waren, mit denen die Ausländer um die vorhandenen Ressourcen bei Sozialhilfe, Wohnraum und öffentlicher Aufmerksamkeit konkurrierten. Insofern war eine Verengung der Zuwanderungsmöglichkeiten über das Asylrecht vermutlich unvermeidlich, selbst wenn die tatsächlichen Zuwanderungszahlen bis 1989 ja auch in Deutschland durchaus undramatisch waren. Zugleich aber dynamisierte und radikalisierte die Asylkampagne die in den sozial schwächeren Teilen der Gesellschaft ohnehin vorhandenen Befürchtungen und verschaffte den im Zuge der deutschen Wiedervereinigung in Ostdeutschland entstandenen Abstiegsängsten ein sichtbares Objekt der Kompensation, weil die Asylbewerber ein dreifaches Stigma trugen, das ihnen keine Handlungsoptionen ließ: arm, fremd und illegal.
Die fremdenfeindliche Bewegung der frühen 1990er Jahre war jedoch nicht selbstgesteuert; sie hatte eines Anstoßes von außen bedurft. Hier liegt die Bedeutung der Asylkampagne, die in einer denkbar zugespitzten Umbruchsituation ein klares Feindbild bot und durch die sich überbietende Tonlage einen Enthemmungsprozess in Gang setzte, der sich dann zu dynamisieren begann. In Folge der Asylkampagne bildete sich in Ost- wie in Westdeutschland eine neue Form des organisierten Rechtsradikalismus vor allem unter Jugendlichen heraus, der weitaus gewalttätiger war als alle vorausgegangenen Erscheinungen in diesem Milieu. Zahlreiche rechtsradikale Gruppierungen entstanden, die ein Klima der Bedrohung gegenüber Ausländern und Linken schufen und manche Orte zu „national befreiten Zonen“ erklärten. Aus dem Jenaer Milieu des Rechtsradikalismus ging auch die Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ hervor, die in den 1990er Jahren mit ersten, gegen Juden und Ausländer gerichteten Aktionen begann und zwischen 2000 und 2006 neun aus der Türkei und Griechenland stammende Männer sowie eine deutsche Polizistin ermordete.[21]
Im Verhältnis zwischen Ausländern und Deutschen aber hat die Asylkampagne zwischen 1988 und 1993 tiefe Spuren hinterlassen. Bei den Deutschen, auch bei vielen Politikern, die schaudernde Erkenntnis oder doch Vermutung, dass unter der mittlerweile für tragend gehaltenen Eisdecke von Zivilisation und Liberalisierung nach wie vor ein Abgrund der Xenophobie und Gewaltbereitschaft existierte und dass es bei entsprechenden Anlässen und bei Unterstützung von oben leicht möglich war, diese Eisdecke zu sprengen. Allerdings war das offenbar kein Privileg der Deutschen allein, denn die xenophoben Eruptionen etwa in Großbritannien zur gleichen Zeit waren nicht weniger heftig, und Ähnliches zeigte sich in Frankreich oder Italien.
Auf der anderen Seite realisierten in diesen Monaten und Jahren selbst alteingesessene „Gastarbeiter“-Familien, dass sie in diesem Land jedenfalls bei erheblichen Teilen der deutschen Gesellschaft auf Ablehnung stießen. Vor allem in der jungen Generation verstärkte sich nun die kulturelle Distanz gegenüber der Mehrheitsgesellschaft in raschem Tempo. Auch die Sozialstatistik zeigt dies an: Bei Türken und den klassischen Flüchtlingsgruppen – Libanesen, Kurden, Tamilen, Iranern – zeigen die Integrationsindikatoren seit Mitte der 1990er Jahre nach unten.
Die Fragen der Einwanderung, der Integration und der rechtlichen Gleichstellung der Ausländer blieben allerdings weiterhin umstritten und wurden regelmäßig etwa alle vier oder fünf Jahre durch ein Gesetz, ein Buch oder seit 2001 verstärkt durch das Aufkommen des islamischen Fundamentalismus ins Zentrum der öffentlichen, oft erbittert geführten Debatten gerückt. Pogrome der neunziger Jahre hingegen wurden in der deutschen Gesellschaft bald ebenso rasch wie nachhaltig vergessen. Im Jahre 2005 setzte in der Bundesrepublik eine Diskussion ein, die in zunehmender Empörung auf die Tendenzen ausländischer Jugendlicher, vor allem Türken und Araber, hinwies, sich nicht mehr integrieren zu wollen, die Traditionen ihrer Herkunftsländer zu propagieren und gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft ein feindseliges Verhalten an den Tag zu legen. Dass diese unbezweifelbaren Tendenzen allerdings etwas mit der Politik der Brandsätze in den frühen 1990er Jahren zu tun haben könnten, wurde nicht thematisiert. In der neueren deutschen Historiographie hingegen wurde, etwa bei Hans-Ulrich Wehler, der Rückzug „analphabetischer Anatolier“ in großstädtische Ghettos beklagt, die als Einfallstor des islamischen Fundamentalismus dienten. Zugleich werden die Ereignisse von Hoyerswerda, Hünxe und Solingen gar nicht mehr erwähnt oder wenn, dann als Beleg für die zunehmenden Integrationsprobleme der Ausländer in diesem Lande.
Globale Migration heute
Drei Entwicklungen sind hierbei für die vergangenen etwa zwanzig Jahre als kennzeichnend herauszuheben:
Zum einen die Globalisierung der Migrationsprozesse. Über Flugreisen, Touristenvisa und „Aufenthaltsnahme“ kommen Migranten aus beinahe der ganzen Welt in die industriellen Regionen und suchen hier nach Sicherheit und Arbeit. Daneben haben sich auch die Migrationsziele diversifiziert, und die neuen industriellen Zentren in Asien und im Nahen Osten, aber auch bestimmte Regionen in Afrika sind nun das Ziel von Migrationsströmen geworden. Die Probleme, die bislang nur in Europa und Nordamerika entstanden waren, haben sich auch in den arabischen Ländern, in Südafrika, Australien oder Indonesien oder einzelnen Ländern Lateinamerikas ausgebreitet.
Zweitens haben sich die Erscheinungsformen der Migration gewandelt. Neben die klassische Erwerbsmigration der Nachkriegsjahrzehnte sind neue Formen getreten. Die Gesamtzahl der Migranten, also derer, die sich legal oder illegal für längere Zeit in einem anderen als ihrem Geburtsland aufhalten, wird weltweit auf 175 bis 200 Millionen geschätzt. Etwa zehn Prozent – nach Schätzung der International Labor Organisation ILO aber fast die Hälfte – der Migranten sind illegal in das Einwanderungsland gekommen und leben dort unter den besonderen Bedingungen der Illegalität oder Halblegalität. Ihre Lage ist in jeder Hinsicht prekär, vor allem weil sie keine längerfristige Perspektive aufbauen und von den sie nur duldenden Behörden jederzeit zurück geschickt werden können. Die illegale Immigration nach Europa ist vor allem durch die spektakulären Bilder der über Schiffspassagen nach Europa kommenden Afrikaner bekannt geworden; mit allein im Jahr 2015 bereits mehreren tausend Toten, die bei den häufigen Schiffsunglücken ertranken. Mit den Flüchtlingsbooten gelangt nur ein Teil der illegalen Migranten nach Europa. Schließlich seit Mitte 2014 die massiven Fluchtbewegungen nach Westeuropa, vor allem nach Deutschland in bis dahin unbekannten Größenordnungen, überwiegend auf dem Landweg, vor allem infolge des Bürgerkriegs in Syrien und dem Irak sowie in Eritrea und Somalia.
Sie verdeutlichen aber die Stärke des Einwanderungsdrucks, der infolge der Weltwirtschaftskrise nach 2008 und der anwachsenden Zahl von kriegerischen Konflikten insbesondere im Nahen Osten in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat. Nach Informationen der Europäischen Kommission befinden sich allein in Libyen als dem bevorzugten Transitland etwa eine Millionen emigrationswillige Menschen aus dem subsaharischen Afrika.
Drittens die zunehmenden Probleme der Aufnahme und Integration der bereits in den Industrieländern lebenden ausländischen Migranten, und zwar vornehmlich jener, die nach den 1970er Jahren gekommen sind. Anders als vielfach wahrgenommen, hat nicht die „Gastarbeiter“-Generation die meisten Schwierigkeiten, sondern die Gruppen der Nachgezogenen, der Bürgerkriegsflüchtlinge, der Illegalen, der Asylbewerber, die Gruppe der „Geduldeten“ etc.
Fazit
Weltweit nimmt die Zahl der Migranten zu, und zwar einerseits als armutsmotivierte Massenwanderung in die reicheren Länder der Welt; vor allem aber als Flüchtlingsmigration innerhalb der Armutsregionen, insbesondere im Nahen Osten, in Mittel- und Ostasien, in Afrika, zum Teil auch in Lateinamerika. Massenmigrationsprozesse werden daher in Zukunft in steigendem Maße zu den wichtigsten Konfliktherden in der Welt gehören. In den Ländern der Europäischen Union – in Deutschland noch mehr als in anderen Mitgliedsstaaten – gehören die mit Einwanderung, Integration, Ausländerpolitik verbundenen Fragen heute zu den großen ungelösten Problemen, und es ist absehbar, dass sich dies in der nahen Zukunft nicht verändern, sondern eher noch verschärfen wird. Dabei wird der Politik der Einwanderungsländer eine gewisse regulierende, womöglich abmildernde Bedeutung zukommen, aber sie wird nichts an den grundlegenden Entwicklungen selbst ändern. Sowohl Befürworter einer radikalen Zuwanderungssperre als auch Verfechter einer weiteren Öffnung der Grenzen für Zuwanderer suggerieren, auf diese Weise seien bestehende Konflikte und Probleme (womöglich schnell) lösbar. Dass es in der Praxis vielmehr um Abmilderung und Steuerung, um pragmatische und mittelfristige Korrekturversuche der Auswirkungen einer globalen und die Einwirkungsmöglichkeiten eines Einzelstaates bei weitem übersteigenden Entwicklung geht, wird übersehen oder unterschlagen.
Massenmigration, das hat dieser Überblick gezeigt, ist keine vorübergehende Ausnahme, deren Ende man erwarten kann, sondern in seiner modernen Form seit etwa einhundert Jahren feststellbar und sich stetig ausweitend. Außer in den Fällen der Vertreibung ethnischer Minderheiten ist sie in der Regel die Folge wirtschaftlicher Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten, oft im Kontext von bewaffneten Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen, und zwar im regionalen und nationalen Raum ebenso wie im kontinentalen oder globalen Rahmen. Sie entzieht sich als solche wertender Betrachtung – Migration an sich ist weder gut noch schlecht. Kulturelle Begegnung, Vermischung, Kommunikation ist der eine Teil davon; Sklaverei, Ausbeutung, Zwangsarbeit, Entwurzelung, Xenophobie der andere. Dabei zeigt der Blick in die Geschichte der Wanderungsbewegungen zum einen etwas von der Langfristigkeit, der Diversität, der räumlichen und zeitlichen Dimension dieser Prozesse und von den relativ begrenzten Möglichkeiten, sie außer mit kriegerischer Gewalt zu steuern. Das behütet einen vor allzu großem Optimismus, was die politische Einflussnahme angeht. Es zeigt zum anderen aber auch, dass es richtig ist, Migration und die davon ausgehenden Auswirkungen nicht als den Sonderfall, sondern als das Normale zu betrachten, das uns lange, immer erhalten bleiben wird. Und die Vorstellung, es gebe eine „Lösung“ der Migrationsproblematik, ist ein gewichtiger Teil der Problematik selbst.
Materialanhang
Tab. 1: Ostflüchtlinge/ Vertriebene und DDR-Flüchtlinge in der Bundesrepublik, 1950-1960, in 1.000
Tab. 2: Ausländerbeschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland, 1945-1980, in 1.000
Tab. 3: Ausländische Wohnbevölkerung und Beschäftigte, 1967-1989
Tab. 5: Einwanderung von Aussiedlern pro Jahr, 1986-2006
Tab. 6: Einwanderung von Aussiedlern und Asylbewerbern pro Jahr, 1986-2006
Tab. 7: Herkunftsland der Asylbewerber, 1985-1988
Tab. 8: Anzahl und Anteil der aus Osteuropa stammenden Asylbewerber, 1970-1992
Tab. 9: Flüchtlingsgruppen in Deutschland, 1992-1998
Tab. 10: Fremdenfeindliche Straftaten, 1991–1998
Tab. 12: Ranking der zehn Länder, aus denen die meisten Flüchtlinge stammen (Stand Ende 2014)
Tab. 13: Ranking der zehn Länder mit den meisten aufgenommenen Flüchtlingen (Stand: Ende 2014)
Tab. 14: Anzahl der Asylanträge (Erstanträge) in Deutschland,1991-2015
Tab. 15: Hauptherkunftsländer von Asylbewerbern in Deutschland im Jahr 2015
[1] Vgl. zum Folgenden ausführlich: Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001.
[2] Dazu auch: Ulrich Herbert: Krisenzeichen. Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer/innen 1973, in: Zeitgeschichte-online, November 2013.
[3] Susanne Worbs: (Spät-)Aussiedler in Deutschland. Eine Analyse aktueller Daten und Forschungsergebnisse , hg. v. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Stand: November 2013 , Nürnberg 2013; Christoph Bergner (Hg.): Aussiedler- und Minderheitenpolitik in Deutschland. Bilanz und Perspektiven, Berlin 2009; Klaus J. Bade (Hg.): Aussiedler. Deutsche Einwanderer aus Osteuropa, Göttingen 2003.
[4] Nach Bade, Ausländer - Aussiedler – Asyl, S. 148 f.
[5] Zit. n. Rainer Münz, Wolfgang Seifert, Ralf Ulrich: Zuwanderung nach Deutschland. Strukturen, Wirkungen, Perspektiven, Frankfurt a. M. 1997, S. 23.
[6] Herbert, Ausländerpolitik, S. 286–334; ders./ Karin Hunn: Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hg. v. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Baden-Baden 2001-2008, Bd. 9, S. 781–810.
[7] Wanderungssaldo (netto); Zuwanderung von Ausländern insgesamt 5,5 Millionen, Abwanderung 3,3 Millionen; s. Herbert, Ausländerpolitik, S. 286–334; Münz u.a., Zuwanderung nach Deutschland, S. 47.
[8] Ulrich Reitz: „Versagen beim Asylproblem“, in: Die Welt, 6.7.1990; Arnulf Baring: „Ein offenes Wort zum Thema Asylanten“, in: Bild-Zeitung, 13.10.1990; „Wettrennen in Schäbigkeit. Burkhard Hirsch (FDP) und Edmund Stoiber (CSU) über das Asylrecht“, in: Der Spiegel 45/1990, 05.11.1990.
[9] Andreas Müggenburg: Die ausländischen Vertragsarbeitnehmer. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer, Berlin 1997, S. 139 ff.; Bade: Ausländer – Aussiedler – Asyl, S. 178 ff.
[10] „Schon nahe am Pogrom“, in: Der Spiegel 14/1990, 02.04.1990.
[11] Zit. n. Heribert Prantl: „Asylpolitik zwischen Hysterie und Hilflosigkeit“, in: SZ, 3.8.1991.
[12] „Angst unter Dresdens Ausländern“, in: taz, 10.4.1991.
[13] Dieter Roth: Was bewegt die Wähler?, in: APuZ 11/1994, S. 3–13.
[14] „Soldaten an die Grenzen“, in: Der Spiegel 37/1991, 9.9.1991.
[15] Der Stern, 2.10.1991; Heribert Prantl: „Parteitaktisches Lavieren im Rauch der Brandsätze“, in: SZ, 10.11.1991; „Alle drei Wochen ein Toter“, in: Der Spiegel 36/1992, 31.8.1992.
[16] Nach Ulrich Beck, „Biedermänner und Brandstifter“, in: Der Spiegel 46/1992, 9.11.1992.
[17] Vgl. Lars-Christian Cords: Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht Schleswig über die Anschläge in Mölln im November 1992, Kiel 1994.
[18] Ha’aretz, zit. n. „Pöbel auf den Straßen“, in: SZ, 26.11.1992.
[19] Gemeinsamer Gesetzentwurf von Union, SPD und SPD v. 19.1.1993 (Deutscher Bundestag, Drs. 12/4152); Gesetz zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften, 30.6.1993, BGBl. I S. 1062; „Der neue Überfall auf Polen“, in: SZ, 1.3.1993.
[20] Andrea Röpke: Blut und Ehre. Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland, Bonn 2013.
[21] Siehe: Patrick Gensing: Terror von rechts. Die Nazi-Morde und das Versagen der Politik, Berlin 2012.