von Annette Schuhmann

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1. März 2013

Um es vorweg zu nehmen, der Film ist preisgekrönt und die Kritiken durchweg positiv. Nominiert für den Oscar des besten fremdsprachigen Filmes gilt er den Kritikern der New York Times als intellektuell mitreißend, Le Monde war elektrisiert und Sight and Sound schließlich findet ihn unwiderstehlich fröhlich.

NO! ist Pablo Larrains dritter Film in Folge, der sich, vor dem Hintergrund der chilenischen Diktatur unter Pinochet, mit einer Vergangenheit auseinandersetzt, die sich, so Larrain, aus dem zusammensetzt, was wir in unseren Erinnerungen für die „wahre“ Geschichte halten. Im Jahr 2008 kam Tony Manero in die Kinos, Post Mortem folgte 2010 und zuletzt NO! 2012.

Alle drei Filme erzählen vom Einbruch der Politik in den Alltag von Menschen, die darauf weder vorbereitet waren noch davor fliehen konnten. Einzig der Wunsch, sich wegducken zu können, die Hoffnung, dass alles so bleibt wie es war, nicht beteiligt sein zu müssen, eint ihre Protagonisten. Während sich die Geschichte des Disco-Tänzers und Killers Raúl Peralta in Tony Manero vor dem Hintergrund eines erneuten Gewaltexzesses der chilenischen Junta Ende der 1970er Jahre abspielt und die Hauptfigur des Pathologieassistenten Mario Corneja in Post Mortem in der Zeit des blutigen Militärputsches im September 1973 agiert, erzählt Larrain in NO! vom Referendum in Chile im Jahr 1988, in dem die Bevölkerung über eine weitere Verlängerung der Amtszeit Pinochets abstimmen sollte. Er erzählt also vom Anfang des Endes der Diktatur.

Die Entstehung einer, wenn auch losen Trilogie lag dabei nicht in der Absicht des Regisseurs. Larrains filmische Umsetzung seiner eigenen Definition von Geschichte erscheint aber konsequent und in allen drei Filmen zentral. „Alles was ein Film zeigen kann, ist die Reflektion der Vergangenheit. (…) Unsere Erinnerungen sind näher an der Fiktion als an den historischen Abläufen. So beobachten wir mit dem Film nicht den realen Verlauf historischer Ereignisse, vielmehr versuchen wir zu denken, was die Zeitgenossen dachten, zu träumen, was sie träumten, und zu fühlen, was sie fühlten.…“, so Larrain in einem Interview zum Thema „Geschichte“ im Januar 2013.[1]

 

Chile in den achtziger Jahren

Pinochets Junta beherrschte das Land, seitdem sie gegen den demokratisch gewählten Sozialisten Salvador Allende im September 1973 geputscht hatte. Die Bilanz der Militärdiktatur am Ende der 1980er Jahre: mehr als 4.000 ermordete Chilenen, tausende „Verschwundene“ und zeitweise bis zu 150.000 politische Gefangene, Todeskommandos, Folter und Mord und schließlich 100.000 Exilanten.

Auch in Brasilien (1964), Argentinien (1976) und Uruguay (1973) hatte das Militär geputscht beziehungsweise die Verfassungen außer Kraft gesetzt. Ebenso waren in all diesen Ländern hysterischer Kommunistenhass und eine verlässliche Unterstützung der Militärs durch die jeweilige US-Regierung wesentliche Momente der Umstürze. Der Fanatismus jedoch, mit dem Pinochet die Linke - gleich welcher Ausrichtung -  verabscheute und verfolgte, war von einer Intensität, die die Gewalt-Exzesse nach 1973 als antikommunistischen Kreuzzug erscheinen ließen.

Nach 1973 beherrschte Pinochet das Land mit seiner 97.000 Mann starken Armee, der Billigung und Unterstützung eines Teils der westeuropäischen Staaten und der USA. Sämtliche Schlüsselfunktionen innerhalb des Staates bis hinunter zur lokalen Ebene besetzte er mit Offizieren. Auch diese komplette militärische Durchdringung aller Schaltstellen der Macht war einzigartig im Reigen lateinamerikanischer Militärdiktaturen.

Auf längere Sicht sollte sich jedoch vor allem das „Paradies der Marktwirtschaft“, das Pinochet in seinem Land errichten wollte, als verhängnisvoll für die Existenz der Diktatur erweisen. Die Wirtschaftspolitik des Landes wurde fortan bestimmt von den sogenannten „Chicago Boys“. Die Schüler des US-amerikanischen Ökonomen und Nobelpreisträgers Milton Friedman, der an der University of Chicago lehrte, nutzten das Land in den 1970er und 1980er Jahren als Experimentierfeld für dessen neoliberales Projekt. Daraus folgte ein nahezu vollständiger Rückzug des Staates aus der Wirtschaft. Die Einfuhrzölle wurden radikal gesenkt und ausländischen Investoren eine fast grenzenlose Freizügigkeit gewährt, Staatsbetriebe wurden verkauft, oft zu Schleuderpreisen, die Steuern wurden gesenkt und die Staatsausgaben für die Renten- und Arbeitslosenversicherung, für Schulen, Universitäten und den Gesundheitsdienst auf ein Minimum reduziert. Selbst die Kupferminen, Chiles größter Wirtschaftsfaktor und bereits vor der Amtszeit Allendes verstaatlicht, wurden privatisiert. Chiles Wirtschaftssystem wurde passgenau auf die Diktatur zugeschnitten. Gewerkschaften wurden verboten und das Streikrecht abgeschafft, in den Industriebetrieben und Unternehmen nur noch Niedriglöhne gezahlt.

Fünfzehn Jahre nach dem Putsch war Chiles Wirtschaft ruiniert. Knapp ein Viertel der Chilenen war arbeitslos, das soziale Netz war fast vollständig weggebrochen, das Land war im Ausland hoch verschuldet, und das Militär galt als extrem korrupt. Der Mittelstand konnte sich in der Mitte kaum mehr halten. Der schmutzige Krieg der Junta gegen die eigene Bevölkerung war zwar aus dem Alltagsbild verschwunden und im Ausland verpönt, dennoch wurde jede Demonstration niedergeknüppelt, wurden Gefangene gefoltert und ermordet, verschwanden Menschen spurlos.

Neben der desolaten Wirtschaftslage waren es nicht zuletzt die Zerrissenheit der Opposition und eine die Gesellschaft lähmende Agonie, die ein breites politisches Engagement verhinderten. Die zeitgleich einsetzenden Liberalisierungstendenzen, die Pinochet in einzelnen Bereichen zuließ, zeigen indes keine Umkehr des Diktators – vielmehr machen sie sein wachsendes Vertrauen in die Macht der Junta deutlich. Das Kriegsrecht schwebte allzeit wie ein Damoklesschwert über dem Land.

 

Fünfzehn Minuten für die Opposition

Für den 5. Oktober 1988 plante die Junta ein Referendum. Dabei ging es darum, für oder gegen die Verlängerung der Amtszeit Pinochets zu entscheiden. Es ging darum, ob Pinochet mit seiner für ihn maßgeschneiderten Verfassung ab März 1990 noch weitere sieben Jahre im Amt bleiben oder ob ihm das chilenische Volk diese Verlängerung verweigern würde. Alle Prognosen sagten den Sieg Pinochets voraus. Hier setzt Larrains Film ein.

Basierend auf dem Theaterstück „Referendum“ von Antonio Skármeta schildert Larraín die Produktion der Kampagne für das NO!-Bündnis. Wichtigster Teil der Kampagne waren 15-minütige TV-Spots. Erstmals seit dem Putsch wurde der Opposition ein Sendeplatz im Fernsehen zugewiesen, wenn auch spätnachts, wenn auch nur für jeweils 15 Minuten, dies galt es zu nutzen.

Aus Anlass des Referendums, unter der Bezeichnung Kommando für das Nein! (Comando para el No!), fand sich die bis dahin heillos zerstrittene Opposition in nie gekannter Einigkeit zusammen. Einmalig in der Geschichte der Diktatur war die Entstehung eines Parteienbündnisses aller Kräfte von der Rechten über die Christdemokraten bis hin zu den Sozialisten. Zum ersten Mal seit 15 Jahren sandten die Kräfte der Opposition eine gemeinsame Botschaft ins Land: Großzügigkeit und Versöhnung statt Parteiengeplänkel, ideologische Grundsatzdebatten und Zersplitterung. Freiheit und Freude für alle lautete die Wahlparole des Parteienbündnisses in Vorbereitung auf das Plebiszit. Die Freude kommt schon wurde die Hymne zur Wahl. Dabei war das Plebiszit weder die erste Volksabstimmung seit dem Putsch noch ging es in Wahrheit um die Wiedereinführung einer demokratischen Verfassung.

In Larrains Film gewann die Opposition für ihre Kampagne den Marketingberater René Saavedra (Gael Garcia Bernal). Saavedra, smart, schön und erfolgreich beginnt zunächst distanziert, dann mit wachsendem Interesse die Arbeit an der Kampagne. Seine Stärken lagen allerdings bisher in der Vermarktung von Kosmetika und Erfrischungsgetränken. Die Differenz zwischen dem Kampagnenspot der Opposition und der Werbung für Limonade wird am Ende minimal sein.

Gael Garcia Bernal in NO!
Beschreibung: 

Bildquelle: Höhne Presse und Öffentlichkeit, Lizenz: Pressebild.

Gael García Bernal in NO! Bildquelle: Höhne Presse und Öffentlichkeit, Lizenz: Pressebild.

Der Werbefachmann Saavedra hört sich die Ideen der einzelnen Gruppierungen der Opposition an und schaut sich deren bisherige Arbeit an. In seiner auf Verkauf getrimmten Werbelogik erkennt er schnell, dass mit Bildern eines traditionellen Trauertanzes der Mütter und Frauen Verschwundener, mit Statistiken über Folter und Gefangenschaft oder mit langen Reden kaum ein Chilene zu überzeugen sein wird, galt es doch alle Gruppen zu gewinnen, um den momentan sicheren Sieg Pinochets zu verhindern. Zudem hatte die Regierung bereits einen TV-Spot der Opposition, in dem einzelne Fälle von Folter angeprangert wurden, verboten.

Entscheidendes Moment in der Realität wie im Film war die Gewinnung der Unentschlossenen,  der Ängstlichen, derjenigen, die aufgrund ihrer Erfahrungen dachten, das Referendum sei nur eine Farce der Junta, das längst entschieden sei. Es mussten jene gewonnen werden, die sich weigerten am Referendum teilzunehmen, weil sie glaubten, damit letztlich die Junta zu unterstützen, und auch diejenigen, die begründete Angst hatten vor weiteren Ausschreitungen des Militärs aus Anlass des Referendums.
Larrain schildert mit einer Mischung aus Tragik und Witz die Konflikte zwischen einer geschlagenen und gedemütigten, von Verlusten gekennzeichneten Opposition, die mit ihren politischen Argumenten, mit Warnungen und Mahnungen operieren will, und der Generation, die Saavedra vertritt und der Larrain selbst angehört – einer Generation von Mittelstandssöhnen, die den Gewaltfuror der siebziger Jahre nicht miterlebt, die sich arrangiert hat, die vom wirtschaftlichen Niedergang des Landes kaum berührt war. Die Vertreter der Opposition ahnen, dass sie mit politischen Forderungen und moralischen Appellen kaum eine Chance haben würden, und lassen sich darauf ein, ihre Kampagne in die Hände eines völlig unpolitischen Werbefachmanns zu übergeben. Was folgt, ist ein ständiger Dialog zwischen Auftraggebern und Machern und schließlich TV-Spots, die nach jeweils kurzen Kommentaren der Opposition in wirklich witziger Weise den Überdruss eines Volkes an der Diktatur zeigen.

 

Die Freude kommt schon

Filmstill NO! Teatro Huelen

Teatro Huelen in NO! Bildquelle: Höhne Presse und Öffentlichkeit, Lizenz: Pressebild.

So witzig und schließlich effektiv wünschen wir uns den Kampf gegen Diktaturen. Und damit das Ganze auch wirklich ein Feelgood wird, finden wir auf der einen Seite alte Militärs, die sich kaum im Sessel halten können vor lauter Zorn auf die Produzenten der NO!-Kampagne und die natürlich eine schnelle und saubere Lösung gemäß ihrer Kompetenz im Angstmachen und Verschwindenlassen bevorzugen. Zurückgehalten wurden sie 1988, jedenfalls vorübergehend, vom starken internationalen Interesse am Referendum, vom Wissen um die Anwesenheit insgesamt 800 ausländischer Beobachter im Land, darunter auch zehn Bundestagsabgeordneter.

Auf der anderen Seite stehen die Jungen, die Schnellen und die Witzigen, deren Angst sich in Grenzen hält. In der Realität gingen die Verfolgungen und Verhaftungen im Vorfeld der Kampagne weiter und trafen vor allem jene, die die NO!-Kampagne begleiteten. Larrain deutet dies an: nächtliche Drohanrufe, fiese Gestalten in Autos ohne Nummernschilder vor der Tür Saavedras und Lastwagen besetzt mit schwerbewaffneten Soldaten, ein ungewohntes Bild im bürgerlichen Vorort.

Larrains Film erscheint wie der Versuch, Geschichte geschmeidig zu machen. Er setzt sein eigenes Konzept von Geschichtsbewusstsein konsequent um und scheut dabei in materieller Hinsicht keine Mühe. Dreißig Prozent des Films bestehen aus Archivmaterial. Larrain ließ die Umatic-Kameras der achtziger Jahre nachbauen und drehte ausschließlich analog im 4:3 Format. Das hat zur Folge, dass der Zuschauer ständig ins Gegenlicht schaut, dass die Farben einer anderen, vergangenen Welt entstammen, wie überhaupt die Ausstattung der achtziger Jahre in jedem Winkel des Films perfekt in grau-gelb-braun-orange präsent ist. Hinzu kommt eine Schnitttechnik, die, so Larrain, das Gefühl der damaligen Protagonisten widerspiegelt, schnelle Wechsel von Ort und Zeit, Gespräche, die im Büro beginnen und am Strand oder im Restaurant fortgeführt werden. Es war Larrains Absicht, durch den Rückgriff auf das quadratische 4:3 Format und die Nutzung analoger Videokameras das Archivmaterial mit seinem Film verschmelzen zu lassen. Der Zuschauer wird kaum in der Lage sein, die einzelnen Sequenzen zuzuordnen. Hinzu kommt eine Reihe von Cameo-Auftritten von Politikern und Künstlern, die 1988 an der Kampagne mitwirkten.

So viel Wille zur Authentizität ist anstrengend. Selbstverständlich ist das permanent genutzte Gegenlicht ein wesentliches Gestaltungselement und die Verwendung analoger Kameras ein Statement gegen die HD-Ästhetik. Und vielleicht ist es einfach Pech, dass sich die Retro-Optik des Films mit dem hippen aktuellen 80er-Jahre-Revival deckt.
Der Eindruck, dass Larrain sich selbst und seine Ideen von Geschichte und Erinnerung zu ernst nimmt, überwiegt. Nur in wenigen Momenten scheint eine Distanz auf zwischen Regisseur und Film: So wird der Marketingmann Saavedra in einer Szene von seiner Freundin beschimpft, der er gerade stolz seinen eben fertig gestellten TV-Spot für die NO!-Kampagne zeigt: „Was für eine langweilige Scheiße“, erklärt sie, „das ist die Kopie der Kopie der Kopie.“
Larrain kopiert ebenfalls, was an sich kein Problem darstellt. Problematisch ist lediglich seine Verliebtheit in das, was er als authentisch bezeichnet: „Wir erinnern uns nicht an das, was wir taten, sondern an das, was wir tun wollten....“ – und auch, wie wir dabei aussehen wollten.