von René Schlott

  |  

1. Dezember 2014

Der junge österreichische Dichter Georg Trakl erlebte Anfang September 1914 nahe der galizischen Stadt Grodek (heute: Horodok, Ukraine) seine erste Kriegsschlacht. Hilflos und ohnmächtig sah sich der k.u.k.-Sanitätssoldat in einem Feldlazarett den zahllosen Schwerverletzten gegenüber. Am 3. November 1914, nur drei Monate nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges, nahm sich der 27-jährige Trakl in Krakau das Leben. Zuvor hatte er in einem Gedicht, das den Namen des Schlachtortes im Titel trägt, seiner Hoffnungslosigkeit Ausdruck gegeben: „Alle Straßen münden in schwarze Verwesung“[1]. Dieser Satz könnte wie das Motto eines Theaterabends in Hamburg an einem nebelkalten Novemberabend stehen. Auf der Bühne: Der Erste Weltkrieg. Und zwar so, wie er in der eher schwachen deutschen Erinnerung an den „Großen Krieg“ präsent ist, als Stellungs- und Grabenkrieg an der Westfront. Die Dominanz der Kriegsschauplätze in Belgien und Nordfrankreich im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ist auch auf einen Longseller aus dem Jahr 1928/29 zurückzuführen: „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, der im Sommer 1917 an der Flandernfront eingesetzt war.[2] Allein in seinem Erscheinungsjahr wurden mehr als eine Millionen Exemplare des Romans verkauft.

„Im Westen nichts Neues“ dient, ebenso wie der Roman „Le Feu“ des französischen Kriegsfreiwilligen Henri Barbusse aus dem Jahr 1916, als Textgrundlage für das Bühnenstück „FRONT“ des Thalia Theaters. Im Mittelpunkt des Stückes steht nicht die Reinszenierung des Krieges, die zwangsläufig in einer lächerlichen Imitation enden würde, sondern allein die Wirkung des geschriebenen Wortes über den Krieg. So fließen hier neben den beiden Epochenromanen originale Feldpostbriefe ein, verlesen in Flämisch, Französisch, Englisch oder Deutsch, die für das Publikum übersetzt werden. Eine „Polyphonie“ und ein „multilinguales Stimmorchester“ nannte der Regisseur Luk Perceval deshalb die Produktion. Zudem wirken Schauspieler des Stadttheaters Gent mit, wenngleich das Wort „Front“ in allen vier Sprachen dieselbe Bedeutung hat.[3] Das Stück macht deutlich, dass Leid und Logik des Krieges nicht an Sprach- und Nationalitätsgrenzen halt machen, sondern übergreifende Phänomene sind, die keine unterschiedlichen Uniformen kennen. Die Schauspieler, darunter ein überragender Burghart Klaußner als Lehrer und Landwehrmann, erscheinen folgerichtig nicht in ihrer jeweiligen Militärkleidung als deutsche oder belgische Soldaten, sondern sämtlich in schwarzen Anzugjacken auf der Bühne.

Die Akteure dieses Abends gehen an ihre Grenzen und führen die Zuschauerinnen und Zuschauer in den dichten 150 Minuten ohne Pause an die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit. Ganz in Schwarz erscheinen auch zwei Schauspielerinnen, die die zurückgebliebenen Soldatenmütter und die Krankenschwestern der Feldlazarette verkörpern. Ort der Handlung sind die Schlachtfelder in der Nähe des belgischen Ypern.[4]
Schon zu Beginn des Abends ertönt eine schiefe Trompetenfanfare und das Volkslied „Kein schöner Land in dieser Zeit“. Immer wieder werden die anschließenden Mono- und Dialoge von minutenlangem, ohrenbetäubendem Lärm unterbrochen, den die Schauspieler mit Hilfe des Bühnenbildes (Annette Kurz) erzeugen, das aus einer riesigen Wand einzelner Metall-und Stahlplatten besteht. Spricht anfangs aus den Texten noch eine gewisse Kriegsmotivation, überwiegen bald Schmutz, Verzweiflung und Tod in den Worten der Soldaten. Wahnsinn macht sich breit, angesichts der unmenschlichen Zustände in den Schützengräben, symbolisiert durch das eindrucksvolle Bild von neun sich scheinbar endlos um sich selbst drehenden Soldaten. Besonders beklemmend wirkt auch die Thematisierung des ersten Giftgasangriffs in Flandern 1915, zu dessen Inszenierung Regisseur und Schauspieler nicht mehr als Stimme und Mikrofon einsetzen.

Schauspielerischer Höhepunkt ist das Schreiben eines Briefes, den der belgische Leutnant Leon De Wit (Steven van Watermeulen) dem jungen Kriegsfreiwilligen Emiel Seghers (Oscar van Rompay) diktiert. Darin teilt er den Eltern eines Soldaten, den Tod ihres Sohnes mit: „Zu leiden hat er nicht gehabt, der Schuss durch die Stirn ist sofort tödlich gewesen.“ Zunächst in gesetzten Worten, steigert sich die Stimme des Leutnants mehr und mehr, bevor er seine eigene Ohnmacht herausbrüllt. Jedes seiner „virgules“ und jeder „point“ geht durch Mark und Bein, weil sie Sätze bekräftigen oder beenden, die nur einer Logik gehorchen: der des Krieges. So führt das Stück dem Zuschauer eine Welt vor Augen, in denen die Legenden vom heldenhaften und schnellen Tod als beruhigende Botschaft für die Angehörigen dienen sollten und in denen das ganz und gar Unmenschliche und Abgründige des Krieges keinen Platz mehr hat. Immer wieder begegnet man in den Feldpostbriefen von der Front der doppelten „Versicherung“, dass der Tod des Soldaten N. nicht sinnlos gewesen und ohne langes Leiden eingetreten sei.

Oft war allerdings das Gegenteil der Fall. Im Stück selbst hören die Soldaten auf beiden Seiten der Front einen Verwundeten, der seit Tagen im Niemandsland zwischen den Schützengräben liegt. Die deutschen Soldaten können ihn trotz intensiver Suche nicht finden und bergen, zu unübersichtlich ist das Gelände. Außerdem wird die Stimme von Tag zu Tag schwächer, und man vermutet, dass der Soldat mit dem Gesicht zum Boden liegt und seinen Kopf nicht mehr bewegen kann. Zunächst ruft er um Hilfe, dann im Fieberdelirium den Namen seiner Geliebten. Auch auf belgischer Seite ist das monotone und schmerzverzerrte Rufen zu vernehmen und belastet die Soldaten, die erwägen, ihm einen „Gnadenschuss“ zu geben.
Der Regisseur Perceval vermittelt dieses Geschehen nur mittelbar über die Gespräche der Soldaten in den Schützengräben. Die Schreie des Verwundeten selbst werden nur über eine dissonante Percussion-Akustik symbolisiert. Perceval gelingt es, überzeugend den „Moment des gemeinsamen Schmerzes“ zu inszenieren. Damit will er Sprachgrenzen überwinden, denn, so der Regisseur: „Das große Problem Europas ist, dass wir keine gemeinsame Sprache haben, das einzige, was wir alle teilen, sind die Emotionen.“[5]

Die „FRONT“ war als einziges derart „europäisch“ angelegtes Theaterstück zum Ersten Weltkrieg in den Gedenkmarathon des Jahres 2014 eingebunden. Die Schauspieler gastierten in Schottland, Belgien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, den Niederlanden, Tschechien, Österreich und beim Sommerfest des Bundespräsidenten im Juni 2014 in Berlin. Die Produktion griff mit ihrem sprach- und kulturraumübergreifenden Zuschnitt, der nicht zwischen den Soldaten von vermeintlichen Gewinner- oder Verliererseiten unterscheidet, einen aktuellen Trend im Gedenken an den Ersten Weltkrieg auf, der sich zuletzt in neuen Erinnerungsorten manifestierte. In der Nähe der nordfranzösischen Industriestadt Arras wurde im November mit dem „Ring des Erinnerns“ das erste Weltkriegsdenkmal eingeweiht, das die Namen der toten Soldaten in alphabetischer Reihenfolge nennt, ohne dabei nach deren Nationalität zu unterscheiden. Zudem verzichtet das eindrucksvolle Mahnmal auch auf die bislang üblichen patriotischen Widmungen, die einer nachträglichen Sinngebung für das eigentlich Sinnlose gleichen.[6]

Das Weltkriegsgedenkjahr 2014 neigt sich dem Ende. Die populären und vieldiskutierten Werke zum Ersten Weltkrieg von Clark, Münkler und Leonhard sind von den Bestsellerlisten verschwunden. Erste, zum Teil ernüchterte Bilanzen werden in Fachzeitschriften gezogen.[7] Die gerade erscheinenden populären Jahresrückblicke geben noch einmal der Überraschung Ausdruck, wie sehr der Erste Weltkrieg die deutsche Öffentlichkeit in den letzten Monaten erneut beschäftigt hat.[8]
Allerdings ist zu erwarten oder zu befürchten, dass 2014 lediglich der Auftakt zu einem noch gewaltigeren Gedenkmarathon im kommenden Jahr war, wenn sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum siebzigsten Mal jährt: Nach dem Gedenken ist vor dem Gedenken.

 

FRONT, Regie: Luk Perceval, Premiere und Uraufführung: 22. März 2014 am Hamburger Thalia Theater.

Weiter Aufführungstermine und Informationen unter: http://www.thalia-theater.de/de/spielplan/repertoire/front/




[1] Grodek (1914), in: Georg Trakl, Die Dichtungen, Salzburg 12. Aufl. 1938, S. 193.
[2] Ausführlicher zu anderen Gründen der Erinnerungsdominanz der Westfront: Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 2013, S. 753-758.
[3] Siehe das Programmheft der Produktion, S. 4, 27.
[4] Zuletzt erinnerte eine große Seite 3-Reportage in der FAZ an den Schlacht- und Gedenkort Ypern, der in der Erinnerungsgeschichte der Deutschen faktisch nicht existiert: Rainer Burger, Auf Flanderns Todesfeldern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.11.2014, S. 3. Online unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/der-erste-weltkrieg/ypern-gedenken-an... [01.12.2014]. Das hat auch der Besuch von Angela Merkel in Ypern im Oktober 2014 nicht ändern können. Die Kanzlerinnenvisite geriet zu einer Randnotiz im an Gedenkfeiern übervollen Jubiläumsjahr. Siehe dazu: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Reiseberichte/2014-10-28-merkel... [01.12.2014]. (Auf der Website der Bundesregierung ist inzwischen eine eigene Rubrik „Erinnern und Gedenken“ eingerichtet, die die zahlreichen Aktivitäten zu den Geschichtsjubiläen 1914, 1939 und 1989 bündelt.) Allenfalls der propagandagenährte Mythos des nahe Ypern gelegenen „Langemarck“ (richtig: Langemark) hat verfälscht Eingang in das kollektive Gedächtnis der Deutschen gefunden. Dazu: Arnold Wande, Langemarck. der verschleierte Irrsinn, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 11.11.2014:  http://www.faz.net/aktuell/politik/der-erste-weltkrieg/der-mythos-von-la... [01.12.0214].
[5] Siehe das Programmheft der Produktion, S. 27.
[6] Michael Wiegel, Freund und Feind vereint. Frankreich weiht eine erste internationale Gedenkstätte des Ersten Weltkriegs ein – die versöhnt statt zu spalten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.11.2014, S. 3. Online unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/der-erste-weltkrieg/gedenken-an-erste... [01.12.2014].
[7] Ulrich Wyrwa, Zum Hundertsten nichts Neues. Deutschsprachige Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg (Teil I), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 62 (2014), H. 11, S. 921-940. Etwas optimistischer: Friedrich Kießling, Vergesst die Schulddebatte! Die Forschung zum Ersten Weltkrieg überwindet liebgewonnene Denkblockaden, in: Mittelweg 36 23 (2014), H. 4, S. 4-15.
[8] Antony Beevor, Geschichtsstunden, in: Jahresrückblick 2014, Hg. von Süddeutsche Zeitung München, S. 126-129.