von Claudia Bade

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1. Januar 2016

„Ein Denkmal für die mutigsten Feiglinge der deutschen Geschichte – die Deserteure aus dem Zweiten Weltkrieg“ – mit diesen scheinbar widersprüchlichen Worten umschreibt ein Bericht des „Hamburg-Journals“ im NDR-Fernsehen die Personengruppe, der in Hamburg ein neues Denkmal gewidmet ist.[1] Widersprüchlich deshalb, weil die Deserteure der Wehrmacht tatsächlich jahrzehntelang von der deutschen Gesellschaft als „Feiglinge“ und „Verräter“ wahrgenommen und häufig konkret beschimpft wurden. Im gleichen Atemzug werden diese Deserteure nunmehr als „mutig“ bezeichnet. Die Widersprüchlichkeit der Begriffswahl verdeutlicht also auch den Wandel in der Wahrnehmung der Wehrmachtsdeserteure.

Zum Umgang mit Deserteuren

Nach dem Zweiten Weltkrieg begegnete den Deserteuren Ablehnung und Hass; sie galten als jene, die ihre Kameraden im Stich gelassen hatten. Zudem blieben sie von jeder „Wiedergutmachung“ ausgeschlossen und galten weiterhin als vorbestraft. Die Überlebenden und Angehörigen der Verurteilten kämpften lange vergebens für die Aufhebung der Urteile und für Entschädigungen. Hingegen wurden die für die Urteile verantwortlichen Militärjuristen nicht belangt und setzten ihre Karrieren nach Kriegsende in der Regel fort. Auch die politischen Eliten der Bundesrepublik Deutschland verwehrten jahrzehntelang die Anerkennung des an Deserteuren und anderen Opfern der NS-Militärjustiz begangenen Unrechts: Erst zwischen 1998 und 2009 erkannte der Deutsche Bundestag Deserteure, sogenannte „Wehrkraftzersetzer“ und „Kriegsverräter“ als Opfer nationalsozialistischer Unrechtsjustiz an. Die entsprechenden Urteile der Wehrmachtjustiz wurden zunächst nach Einzelfallprüfungen, dann pauschal aufgehoben.

In den 1980er-Jahren wandelte sich indes die gesellschaftliche Wahrnehmung von Deserteuren; sie wurden nun nicht mehr von allen als „Defätisten“ oder „Verräter“ gesehen. Kriegsdienstverweigerer und Friedensgruppen begannen, sich für das Thema zu engagieren. Das erste Mahnmal für Deserteure mit dem Titel „Dem unbekannten Deserteur“ entstand in Bremen. Bei den Initiatoren und Gestaltern des Mahnmals handelte es sich um eine Reservistengruppe („Reservisten verweigern sich“), die nachträglich aus Protest gegen den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen den Kriegsdienst verweigerten und nach historischen Bezügen zum Phänomen der Desertion suchten.
Das Denkmal konnte im Herbst 1986 – nach einer ersten, provisorischen Aufstellung in der Bremer Innenstadt – im Gustav-Heinemann-Bürgerhaus in Bremen-Vegesack untergebracht werden, wo es noch heute steht. Allerdings kam es ein Jahr darauf zu heftigen Diskussionen in der Bremischen Bürgerschaft, in der die CDU-Fraktion die Entfernung des Denkmals aus dem Bürgerhaus forderte. Der damalige Fraktionsvorsitzende Bernd Neumann, später Staatsminister für Kultur und Medien, nannte die Aufstellung des Denkmals „skandalös“.[2]

Ähnlich wie in Bremen entstanden auch in anderen Städten Initiativen zu Deserteurs-Denkmälern, beispielsweise in Kassel. Hier entbrannte die Debatte sogar schon Jahre vor der Aufstellung des Bremer Denkmals. Bereits im Jahr 1981 brachte die Fraktion der Grünen einen Antrag in den Stadtrat ein, die Geschichte der Kasseler Deserteure zu untersuchen und am örtlichen Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus eine zusätzliche Tafel zum Gedenken an die Deserteure anbringen zu lassen. Die Empörung, etwa aus den Reihen der CDU, war groß: Die Tafel sei „eine Provokation und Beleidigung für Millionen von Soldaten, die sich aus Pflichterfüllung und Verantwortungsbewußtsein für ihr Vaterland Deutschland in diesem Krieg bewährt haben“. Zugleich lehnte man eine „Verherrlichung von zweifelhaften Deserteuren“ ab, weil dadurch die „ehrbaren und geradlinigen Deutschen“ beschmutzt würden.[3] Die FDP hingegen unterschied zwischen „guten“ und „schlechten“ Deserteuren, also jenen, deren Fahnenflucht aus Widerstandsmotiven erfolgte und jenen, die bloß „feige“ gewesen seien. Im Jahr 1985 beschloss die Kasseler Stadtversammlung trotz all dieser Proteste die Anbringung einer Gedenktafel, die schließlich im Jahr 1987 enthüllt wurde.

In den öffentlichen Auseinandersetzungen der 1980er-Jahre ging es einerseits um die Frage der Bewertung der Desertion in der Zeit des Nationalsozialismus, andererseits aber auch um die Verknüpfung mit der damals aktuellen Verteidigungspolitik der Bundesrepublik. Diese wurde von den unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Initiativen zumeist abgelehnt. Die Verknüpfung der Debatte um die Deserteure mit der Ablehnung von Bundeswehr und NATO war einer der Hauptgründe dafür, dass die Auseinandersetzungen zu einer sehr emotionalisierten, zudem ideologisierten Debatte führten.

Heute gibt es in Deutschland rund dreißig Denkmäler für Deserteure. Inzwischen entstehen bei Neusetzungen kaum noch Kontroversen. Ein Denkmal für Deserteure scheint niemanden mehr zu provozieren. In Hamburg steht nun das jüngste Mahnmal dieser Art und ist beispielhaft für die relativ neue Form des Konsenses in der Bewertung von Desertion.

Die Realisierung des Hamburger Gedenkortes                                                                         

Im Sommer 2009 präsentierte die Hamburger Justizbehörde die von der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ konzipierte Wanderausstellung „‚Was damals Recht war…‘ – Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht“, die seit 2007 bereits in zahlreichen deutschen und österreichischen Städten gezeigt worden war.[4] Somit war das Thema in der Hansestadt präsent, als mit der Aufhebung der wehrmachtsgerichtlichen Urteile gegen die sogenannten „Kriegsverräter“ die langjährigen Bemühungen um eine Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz abgeschlossen wurden. Im Jahr darauf schlossen sich zahlreiche Gruppen und engagierte Einzelpersonen zum „Bündnis für ein Hamburger Deserteursdenkmal“[5] zusammen, das in den folgenden Jahren mit Aktionen auf sich aufmerksam machte.[6] Schließlich veranstaltete die KZ-Gedenkstätte Neuengamme im Herbst 2011 in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte, dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und weiteren Institutionen eine wissenschaftliche Tagung zur Geschichte der Wehrmachtjustiz in Hamburg. Das bürgerschaftliche Engagement und die neu initiierten wissenschaftlichen Recherchen erzeugten eine Dynamik in der Hamburger Politik: Im April 2012 fand im Kulturausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft eine Anhörung zum Thema Deserteure im Zweiten Weltkrieg und NS-Militärjustiz statt. Die geladenen Sachverständigen machten deutlich, wie wichtig auch weiterhin die politische Aufarbeitung dieses Themas sei. Als Ergebnis dieser Anhörung entstand ein überfraktioneller Antrag der Bürgerschaft, mit dem der Hamburger Senat um die Realisierung eines Denkmals für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz ersucht wurde (Drucksache 20/4467).[7] In der Sitzung vom 14. Juni 2012 wurde dieser Antrag einstimmig angenommen, was auch den gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit Deserteuren verdeutlicht.[8]

In Umsetzung des Bürgerschafts-Beschlusses wurde im August 2012 ein Beirat gegründet, der Sachverstand aus Wissenschaft, Kunst, Architektur und Politik bündelte und sowohl den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge als auch die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz einbezog. Mit Unterstützung der Bürgerschaft zeigte die KZ-Gedenkstätte Neuengamme zudem im Januar und Februar 2013 im Hamburger Rathaus eine weitere Ausstellung zum Thema, basierend auf dem aktuellen Forschungsstand und neuen Forschungsergebnissen zur Wehrmachtgerichtsbarkeit in Hamburg. Der Senat beschloss schließlich am 30. April 2013, einen internationalen Wettbewerb auszuloben und somit das Denkmal zu realisieren.[9] Die Gestaltung wurde durch einen nichtoffenen, anonymen Wettbewerb ermittelt, zu dem 14 internationale Künstler und Künstlerinnen eingeladen wurden. Die elfköpfige Jury vergab am 5. Juni 2014 den ersten Preis an den Hamburger Bildhauer Volker Lang.

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Denkmal-Ensemble: Das Deserteursdenkmal steht zwischen dem 76er Kriegerdenkmal (Hintergrund) von Richard Kuöhl (1936) und dem Gegendenkmal von Alfred Hrdlicka (1985/86). © Claudia Bade, 2015Denkmal-Ensemble: Das Deserteursdenkmal steht zwischen dem 76er Kriegerdenkmal (Hintergrund) von Richard Kuöhl (1936) und dem Gegendenkmal von Alfred Hrdlicka (1985/86). © Claudia Bade, 2015

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Vorgegeben war den Künstlerinnen und Künstlern vor allem der Ort, an dem das Gedenkzeichen platziert werden sollte. Dabei handelt es sich um ein in Hamburg seit Jahrzehnten umstrittenes Areal am Stephansplatz nahe dem Bahnhof Dammtor. Das neue Denkmal sollte zwischen zwei anderen gewichtigen Monumenten stehen: Da ist auf der einen Seite das kriegsverherrlichende 76er-Kriegerdenkmal von Richard Kuöhl aus dem Jahr 1936, errichtet auf Initiative des Traditionsvereins des Infanterieregiments Nr. 76. Es sollte an die Gefallenen des Regiments im Ersten Weltkrieg erinnern, doch durch die Inschrift „Deutschland muss leben / und wenn wir sterben müssen“ wurde bereits auf den kommenden Krieg eingestimmt. Auf der anderen Seite steht das in den Jahren zwischen 1983 und 1986 geschaffene, aber unvollendet gebliebene Gegendenkmal des österreichischen Bildhauers Alfred Hrdlicka. Nachdem sich seit den 1960er-Jahren die Proteste gegen den sogenannten „Kriegsklotz“ mehrten, wurde Ende der 1970er-Jahre erstmals die Idee eines Gegendenkmals entwickelt, sodass schließlich 1982 die Hamburger Kulturbehörde einen Wettbewerb ausschrieb. Zur Ausführung gelangte jedoch keiner der eingereichten Entwürfe, sondern ein neuer Entwurf Alfred Hrdlickas, der ursprünglich vier Skulpturengruppen umfasste. Da der vereinbarte Kostenrahmen schnell überschritten war und Hrdlicka sich mit der Stadt nach der Aufstellung der ersten beiden Teile „Hamburger Feuersturm“ und „Fluchtgruppe Cap Arcona“ überwarf, kam es nie zur Ausführung weiterer Figurengruppen.

Das Denkmal von Volker Lang, das nun gebaut und am 24. November 2015 eingeweiht wurde, bildet einen Baukörper in der Form eines gleichseitigen Dreiecks. Eine Wand des Dreiecks besteht aus einer gefalteten Betonwand, die anderen beiden aus bronzenen Schriftgittern. Auf diesen ist der Beginn einer Zitatcollage des Schriftstellers Helmut Heißenbüttel mit dem Titel „Deutschland 1944“ zu lesen. Im Innern des Dreiecks kann man den Text von Heißenbüttel auch in einer Audio-Einspielung hören. Außerdem werden durch eine zweite Audio-Einspielung die Namen der 227 bislang bekannten, in Hamburg hingerichteten Opfer der Wehrmachtjustiz mit kurzen Informationen zu den Urteilsgründen und dem jeweiligen Hinrichtungsort verlesen.

Über die Legitimität eines solchen Denkmals gibt es heute kaum noch Dissens. Verglichen mit den Debatten der 1980er-Jahre verliefen die Planungen nahezu im Konsens.

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76er Kriegerdenkmal (1936) und Deserteursdenkmal (2015) © Claudia Bade, 201576er Kriegerdenkmal (1936) und Deserteursdenkmal (2015) © Claudia Bade, 2015

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Im Begleitheft der Hamburger Kulturbehörde zum neuen Gedenkort findet sich der Hinweis, das Denkmal setze „ein wichtiges politisches Zeichen gegen Kriegsverherrlichung und für Zivilcourage“, womit schließlich ein Bezug zur Gegenwart eröffnet wird.[10] Sowohl durch die offizielle Verlautbarung als auch durch die starke Abstraktion des Denkmals wird jedem Betrachter und jeder Betrachterin die Möglichkeit gegeben, sich tatsächlich mit der durchaus zeitlosen Dimension des Themas auseinanderzusetzen. Provokant erscheint hier lediglich noch die Wahl des Standortes. Im Gegensatz zu vielen der älteren Gedenkorte für Deserteure entsteht der politische Gehalt des neuen Denkmals weniger durch einen Bezug zur Bundeswehr als vielmehr durch die Konfrontation mit dem kriegsverherrlichenden 76er-Denkmal. Durch den gleichsam erzwungenen Dialog mit den beiden vorhandenen Monumenten ist man eingeladen, über den jahrzehntelang schwierigen Umgang mit der Geschichte des „Dritten Reiches“ zu reflektieren. Zugleich ist man aber auch aufgefordert, allgemeiner über Krieg und Gewalt und nicht zuletzt über „Gehorsam“ und „Heldentum“ nachzudenken. Der Künstler Volker Lang erhofft sich von dem Denkmal eine doppelte Wirkung: Es ist ein Gedenkort für Wehrmachtsdeserteure und vermittelt gleichzeitig zwischen zwei diametral entgegengesetzten Erinnerungskulturen. Der wuchtigen Präsenz der beiden älteren Denkmäler wurde ein fast filigraner Bau gegenübergestellt, der auf die Kraft der Sprache und der Reflexion vertraut.
Ob es gelingt, eine Debatte über das Denkmalsensemble und die mit ihm verbundenen Erinnerungskulturen in Gang zu halten, bleibt abzuwarten.

 


[1] Ein Denkmal für Deserteure, in: NDR, Hamburg Journal vom 24.11.2015, um 19:30 Uhr.
[2] Vgl. Burkhard Kieker, Ehrlos immer noch. Der Streit um ein Denkmal für den unbekannten Deserteur, in: Die ZEIT Nr. 19 vom 1. Mai 1987.
[3] Alles zitiert nach: Claus Leggewie, Geistige Abrüstung, in: Die ZEIT Nr. 50 vom 4. Dezember 1981.
[4] Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Ausstellungen: »Was damals Recht war ...« – Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, 2008.
[5] Website des „Bündnis Hamburger Deserteursdenkmal".
[6] Zu diesem bürgerschaftlichen Engagement ist auch die Initiative der Ida-Ehre-Schule zu rechnen, die zahlreiche SchülerInnen-Projekte zum Thema initiierte und deren Schülerinnen und Schüler sich mit Briefen an den Ersten Bürgermeister Hamburgs wandten. Vgl. auch: Arbeitskreis Erinnerungsarbeit an der Ida Ehre Schule, Dokumentation: SchülerInnen der Ida Ehre Schule begleiten Überlebende, Angehörige und das Hamburger Deserteur-Bündnis auf dem langen Weg zu einem Denkmal zur Erinnerung an die Opfer der Hamburger NS-Militärjustiz, 2013.
[7] Antrag: „Deserteursdenkmal – Opfer der nationalsozialistischen Militärjustiz in Hamburg – Neue Formen des Gedenkens, vernachlässigte Aspekte, Fortentwicklung des Gesamtkonzeptes für Orte des Gedenkens an die Zeit des Nationalsozialismus 1933 – 1945 in Hamburg“, in: Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, 20. Wahlperiode, Drucksache 20/4467, Neufassung vom 13.06.2012.
[8] Die zu diesem Zeitpunkt in der Hamburgischen Bürgerschaft vertretenen Fraktionen waren SPD, CDU, Grüne/GAL, FDP, Die Linke (aufgezählt nach Fraktionsstärke).
[9] Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft: „Stellungnahme des Senats zu dem Ersuchen der Bürgerschaft vom 14. Juni 2012 „Deserteursdenkmal – Opfer der nationalsozialistischen Militärjustiz in Hamburg – Neue Formen des Gedenkens, vernachlässigte Aspekte, Fortentwicklung des Gesamtkonzeptes für Orte des Gedenkens an die Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945 in Hamburg“ (Drucksache 20/4467) sowie Nachbewilligung von Haushaltsmitteln im Einzelplan 03.3 – Kulturbehörde“, in: Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, 20. Wahlperiode, Drucksache 20/7833, Neufassung vom 30.04.2013.
[10] Kulturbehörde Hamburg/ Landeszentrale für politische Bildung Hamburg: Gedenkort für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz. Zwischen Stephansplatz und Dammtor, Hamburg 2015; Hier ist auch der Text von Helmut Heißenbüttel: Deutschland 1944 (in: Textbuch 6, Neuwied/Berlin 1971, S. 29, 33) nachzulesen.