von Magdalena Saryusz-Wolska, Katrin Stoll, Andrzej Leder

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1. September 2016

Veröffentlicht am 1. September 2016

Der polnische Philosoph Andrzej Leder im Gespräch mit Magdalena Saryusz-Wolska und Katrin Stoll über Identität,  gesellschaftliche Verantwortung und die Folgen einer Hegemonie des Populismus 

Andrzej Leder ist Professor am Institut für Philosophie und Soziologie der polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN), Autor philosophischer Abhandlungen unter dem Titel Nieświadomość jako pustka. Wokół myśli Freuda i Husserla [Das Unbewusste als Leere. Über das Denken Freuds und Husserls] und Nauka Freuda w epoce ‘Sein und Zeit’ [Freuds Lehre in der ‚Sein und Zeit‘-Epoche], einer Arbeit zur Geschichte Polens Prześniona rewolucja, ćwiczenie z logiki historycznej [Die verschlafene Revolution. Eine Übung in historischer Logik] sowie des englischsprachigen Werks The Changing Guise of Myths. Philosophical Essays. Er lehrt an der Graduiertenschule für Sozialforschung am Institut für Philosophie und Geschichte der PAN (Szkoła Nauk Społecznych IFiS PAN) und am Collegium Civitas. Leder lebt in Warschau.

 

Magdalena Saryusz-Wolska (MSW):
Beginnen wir mit einer Anekdote. Meine Tochter ist in der dritten Klasse und hat vor kurzem in einer Klassenarbeit zum Thema „große Polen“ eine schlechte Note bekommen. Ich konnte ihr nicht erklären, wozu eine solche Klassenarbeit gut sein soll.

Andrzej Leder (AL): In Polen bildet sich eine politische Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der die Bürger und Bürgerinnen an der Schaffung einer politischen Gemeinschaft mitarbeiten, gerade erst heraus. Dieser Prozess erfordert Vorbilder, mit denen man sich identifizieren kann. Vorbildwirkung entsteht dadurch, dass man sich kollektiv die positiven Eigenschaften von Persönlichkeiten, die zu unserer Gemeinschaft gehören, zuschreibt. Nach dieser Logik sind sie eigentlich wie wir. Wenn ich also weiß, dass Nikolaus Kopernikus, Marie Curie-Skłodowska, Frédéric Chopin oder Adam Mickiewicz Polen waren, dann empfinde ich es so, als wäre ich als Pole so wie sie. Ich bilde eine starke, auf Zugehörigkeit beruhende Identität aus, und diese Identität ersetzt meine schwache individuelle politische Identität. Jede Gesellschaft, die irgendwann eine politische Gemeinschaft herausgebildet hat, hat diese Etappe durchlaufen.

MSW: In Anlehnung an bestimmte Vorbilder lassen sich doch viele unterschiedliche Identitäten herausbilden. Kopernikus, Curie-Skłodowska, Chopin und Mickiewicz könnten auch als Beispiele für „große Europäer“ dienen. Im Übrigen könnte man die Kinder ja auch nach „großen Warschauern“ oder „großen Lodschern“ fragen. Stattdessen gibt das Schulcurriculum das Thema „große Polen“ vor.

AL: Europa als politische Gemeinschaft ist sehr schwach, und als Vorstellung in den Köpfen der Menschen existiert Europa als Gemeinschaft leider überhaupt nicht. Nur eine sehr kleine Gruppe fühlt sich als Bürger und Bürgerinnen Europas. Für die große Mehrheit ist die nationale Identität entscheidend. Solche Menschen brauchen Objekte, über die sie sich mit der Gemeinschaft identifizieren können, die sie als ihre eigene betrachten. Die Europäische Union hat ihre wirtschaftliche Integration stark vorangetrieben, die symbolische Integration hingegen vernachlässigt. Meiner Meinung nach ist das ein riesiges Versäumnis, wie man übrigens an vielen Kleinigkeiten sehen kann. Zum Beispiel wird die Wettervorhersage im Fernsehen in keinem Land der EU anhand von Karten gezeigt, die ganz Europa zeigen würden. Paradoxerweise wird die gesamteuropäische Aufgabe bis zu einem gewissen Grad von Fußballklubs erfüllt. In Warschau etwa gibt es viele Kinder, die Fans des FC Barcelona sind. Aber das ist ein Randphänomen, und darum berufen sich Politiker, die sich die Herausbildung einer kollektiven Identität zum Ziel setzen, auf nationale Mythen. Hinzu kommt, dass die Mehrheit der polnischen Bürger und Bürgerinnen bis 1989 wenig Kontakt mit dem Ausland hatte. Die Gesellschaft war wirtschaftlich und kulturell weitgehend von der Außenwelt abgeschlossen und hierarchisch aufgebaut. Für viele Menschen bedeuteten der Zerfall dieser Ordnung und der Anschluss an die Globalisierung eine Erschütterung aller wesentlichen Orientierungspunkte. Daher suchen sie heute nach Mythen der Stärke, nach Gestalten, die es in der globalisierten Welt erlauben, nicht in ein Gefühl der Bedeutungslosigkeit zu verfallen.

Katrin Stoll (KS): Könnte man diese Reaktion Ihrer Meinung nach als „kollektiven Narzissmus“ bezeichnen?

AL: Bis zu einem gewissen Grade ja. Narzissmus ist die Reaktion eines Subjekts, das schwach ist, sich angegriffen fühlt und darum ständig probiert, sich – aus einer Abwehrhaltung heraus – selbst zu beweihräuchern und zu loben. Daher ruft jede starke Erschütterung des eigenen Identitätsgefühls narzisstische Reaktionen hervor. Ich denke, die aktuelle Verletzung verschiedener Dimensionen des Identitätsgefühls ist vor allem ein Ergebnis der mit der Globalisierung verbundenen Prozesse. Diese Prozesse bewirken u.a. eine Einschränkung der Souveränität von Staaten, und da Souveränität auf der Ebene der politischen Repräsentation einem Gefühl der Handlungsfähigkeit auf der individuellen Ebene entspricht, gerät das Gefühl der subjektiven Handlungsfähigkeit, das Bewusstsein, handelnder Akteur im Geschehen zu sein, ins Wanken, und es kommt zu Abwehrreaktionen, die dies kompensieren sollen. 

MSW: Wie ist vor diesem Hintergrund die Besessenheit vom eigenen Image zu erklären? In der polnischen Geschichtspolitik wird unerhört viel Wert darauf gelegt, dass das Ausland uns und unsere Geschichte in einem positiven Licht sieht.

AL: Das ist in Polen nichts Neues. Da er sich seiner Handlungsfähigkeit, dem eine Legitimation von außen fehlt, nicht allzu gewiss ist, ist der polnische Narzissmus ausgesprochen abhängig von der Fremdwahrnehmung, von der Wahrnehmung durch irgendeinen mutmaßlichen Beobachter. Dies ist das Ergebnis der Schwäche der politischen und kulturellen Hegemonie in Polen; unablässig braucht das Land eine äußere Bestätigung und empfindet tiefe Angst vor fehlender Anerkennung. 

Ich habe viele Texte über die Deutschen als „verspätetes Volk“ gelesen, im Sinne einer Verspätung gegenüber vermeintlich fortgeschrittenen Völkern wie den Franzosen oder Engländern. Norbert Elias beispielsweise vertritt diese Ansicht. Es werden die kulturelle Reaktivität und die vergleichsweise späte politische Integration Deutschlands betont. Die Abhängigkeit von der Wahrnehmung durch den Anderen ist also ein Phänomen, das in vielen Ländern zu beobachten ist.

KS: Die Besessenheit vom eigenen Image zeigt sich nicht nur in der Geschichtspolitik gegenüber dem Ausland, sondern auch im innerpolnischen Diskurs. Wir können zwar die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können auf die Art der historischen Narration Einfluss nehmen. Warum wird der Warschauer Aufstand von 1944, der in einer militärischen Niederlage endete, in Polen als moralischer Sieg dargestellt? Warum werden die sogenannten Verstoßenen Soldaten, also die Mitglieder des bewaffneten Untergrunds, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs weiterkämpften und dabei nicht selten auch Zivilisten und Angehörige von Minderheiten umbrachten, als Helden dargestellt? Warum sind wir nicht in der Lage, Niederlagen zu akzeptieren?

AL: Die Politik des „historischen Triumphes“ ist für die meisten europäischen Gesellschaften charakteristisch. Die realen historischen Bezugspunkte sind bei jeder Nation unterschiedlich. Nehmen wir noch einmal das Beispiel Deutschland, wo Mitte des 19. Jahrhunderts das „Hermannsdenkmal“ errichtet wurde, das an den Sieg im Teutoburger Wald erinnert. Das Ereignis liegt über 1.800 Jahre zurück, und dennoch diente es im 19. Jahrhundert der Identitätsbildung. Ein anderes Beispiel ist Jeanne d’Arc in Frankreich, die sich internationale nationalistische und ultrakatholische Organisationen zur Patronin erkoren, als ein Symbol des Triumphs des Geistes. In Polen ist im Verlauf des gesamten 19. Jahrhunderts hindurch zu beobachten, wie – trotz einer faktischen Niederlage – an der Position des moralischen Triumphs gezimmert wurde. Ein Großteil der kulturellen Tradition und insbesondere die nationale Literatur basieren auf dieser Position. Eine zeitgenössische nationale Mythologie darauf aufzubauen, ist nicht schwer. Zu jeder Zeit gab es dieses Phänomen: Geschichte wurde in mythische Narrative transformiert, die die emotionalen Bedürfnisse der betreffenden Gesellschaften befriedigten. Ungewöhnlich war hingegen, dass in den 1960er Jahren in einigen der politisch stärksten, westlichen Gesellschaften ein Prozess einsetzte, in dem die Formen der Erinnerung und der Bewertung von Geschichte umgekehrt wurden: Es wurden nun weniger die Triumphe akzentuiert als vielmehr Schuld und Schandtaten aufgearbeitet. Der Eichmann-Prozess und die Auschwitz-Prozesse in Deutschland, vor allem aber die Revolte Ende der 1960er Jahre spielten hierbei eine entscheidende Rolle. In England erwachte das Bedürfnis, sich mit dem Kolonialismus auseinanderzusetzen, in Frankreich kam die Aufarbeitung des Algerienkrieges hinzu. In den USA waren es emanzipatorische Bewegungen und der Versuch, die Geschichte der Sklaverei aufzuarbeiten. In diesen Ländern wurde der Diskurs über die politische Verantwortung verbunden mit dem Stolz, sich als fähig zu erweisen, die Bürde der Schuld auf sich zu nehmen. Dies ist eine in der Geschichte ziemlich einmalige Geste, die die Verhältnisse in vielen Politikbereichen veränderte.

Gleichzeitig jedoch – und dies ist aus postkolonialer Perspektive gut zu erkennen – sind die USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich Hegemonialstaaten. Der historische Verantwortungsdiskurs wurde schnell zum Kriterium für die Beurteilung von Staaten und Völkern. Gesellschaften, die sich zu einer solchen Art von Selbstreflexion unfähig zeigten, werden mit einer gewissen Distanz betrachtet. Dies scheint moralisch richtig zu sein. Gehen wir einmal weg von den Beispielen mit Bezug zu Polen und werfen einen Blick auf den Fall der Türkei und die Massaker an den Armeniern. Einerseits sollten die Türken diese Verbrechen an den Armeniern als Völkermord anerkennen. Andererseits war es der Bundestag, der vor kurzem eine entsprechende Resolution verabschiedete. Aus Sicht der Türken war dies symbolische Gewalt. Die Reaktion auf solche Signale ist immer Widerstand, in diesem konkreten Fall riefen sie eine noch entschiedenere Leugnung der Massaker an den Armeniern in der Türkei hervor. In Polen haben wir es mit ähnlichen Prozessen zu tun. Die Anerkennung der Beteiligung von Polen an der Ermordung der Juden ist ein riesiger moralischer Schritt, aber wenn er unter dem Druck internationaler Politik erfolgt, so ist die Gefahr groß, dass er scheitert. Daher müssen Diskurse über Schuld und Scham in der Politik sehr vorsichtig in die bestehenden Macht- und Hegemoniebeziehungen eingebunden werden. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die internationalen Beziehungen. Die Reaktion der Ostdeutschen auf die Flüchtlingskrise lässt sich auch als Ausdruck der Auflehnung gegen die Hegemonie der Westdeutschen interpretieren. Auch der an den Rand gedrängte Teil der französischen Gesellschaft, der nicht länger hinnehmen will, von Paris dominiert zu werden, lehnt den Fortschrittsdiskurs ab. Situationen, in denen moralische Fragen zu einem Werkzeug der Hegemonie werden, sind sehr gefährlich.

KS: Der moralische Druck kommt aber nicht nur von außen. Die Debatte über Jan Tomasz Gross’ 2000 erschienenes Buch „Nachbarn“[1] hatte – ungeachtet dessen, dass der Historiker im US-amerikanischen Princeton lehrt – internen Charakter. Polen diskutierten mit Polen.

AL: Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheinen mag, so hat sich in Polen doch ein tiefgreifender Wandel vollzogen. Eine große Gruppe von Menschen ist bereit, über die Beziehung der Polen zu den Juden auch unter anderen Aspekten als dem ihrer [der Juden] eventuellen Zusammenarbeit mit den Kommunisten zu diskutieren. Vor der Debatte über Jedwabne war es so, dass sofort, wenn das Gespräch auf die polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs kam, sogleich auf die Begrüßung der Roten Armee durch die jüdische Bevölkerung verwiesen wurde. Das war eine Art automatischer Abwehrmechanismus. Heute ist das anders. In den großen Städten und in akademischen Kreisen ist der Impuls, der von der Jedwabne-Debatte und später auch von Filmen ausging, die von ähnlichen Verbrechen erzählen (z.B. Ida oder Pokłosie),[2] aufgenommen worden. Die polnische Gesellschaft ist in dieser Hinsicht übrigens tief gespalten. Eine bestimmte, zwar immer noch die Minderheit bildende, aber doch recht bedeutende Gruppe hat für sich – hervorgehend aus ihrer Beschäftigung mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges – den Schluss gezogen, dass die Polen teilweise auch keine rühmliche Rolle spielten und dass wir dies anerkennen müssen. Es gibt aber auch die Gruppe derjenigen – und diese Gruppe bildet sicherlich die Mehrheit –, die der Überzeugung ist, dass eine Kritik an der Haltung der Polen während des Krieges eine von außen oktroyierte Politik der Scham sei und dass wir uns „von den Knien erheben” müssten. Die Spaltung der polnischen Gesellschaft ist wirklich tief, daher kann man nicht von einer eindeutigen Haltung der Polen zur Judenvernichtung sprechen.

MSW: Ehrlich gesagt, überzeugt mich die These, dass die Jedwabne-Debatte viel verändert habe, nicht recht. Im April 2016 hat das polnische Meinungsforschungsinstitut CBOS die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage veröffentlicht, die ergeben hat, dass nur zwei Prozent der Befragten den Holocaust für ein wichtiges Ereignis in der neuesten Geschichte Polens hält.

AL: Die Frage ist, woran man diesen Wandel misst. In den 1930er Jahren war Polen ein Land, in dem Juden gezwungen wurden, in den Hörsälen auf Sitzbänken getrennt von nicht-jüdischen Studenten zu sitzen[3], und die Universitätsbehörden akzeptierten dies.  Im Jahr 1968, als in Polen antisemitische Hetze verbreitet war, wurden Juden nach ethnischen Kriterien kategorisiert und zur Ausreise gezwungen. Heute hingegen ist der Antisemitismus in der gesellschaftlichen Praxis wenig verbreitet, auch wenn es gelegentlich zu solchen Vorfällen kommt wie dem in Wrocław im November 2015, wo eine Puppe, die einen Juden darstellte, öffentlich verbrannt wurde. Keine Bildungs- oder öffentliche Institution betreibt offen antisemitische Praktiken. Obwohl der Antisemitismus in der kollektiven Vorstellung sicherlich nach wie vor existiert. 

MSW: Antisemitismus wird allerdings von keiner Institution kritisiert.

AL: Und genau hier stellt sich eben die Frage, woran sich der angesprochene Wandel bemessen lässt. In der Generation, die in den 1960er Jahren in Polen erzogen wurde, war der Antisemitismus die Sprache des Alltags. Anders als in vielen westlichen Ländern war er nicht etwas, was man im Stillen dachte, aber nicht laut aussprach, weil es politisch nicht korrekt war. Noch in den 1990er Jahren war der Antisemitismus in Polen weit verbreitet. Heute dagegen ist die Sprache des Antisemitismus, wenngleich es radikale antisemitische Bewegungen gibt, paradoxerweise weniger präsent.

KS: In Deutschland gibt es einen eher verdeckten Antisemitismus, während er sich in Polen offen zeigt. Kann man ihm dadurch besser entgegentreten? Wie kann man Antisemitismus bekämpfen?

AL: Man muss so weitermachen, wie es Gross vorgemacht hat. Den Wandel, den er bewirkt hat, sieht man gut, wenn man den Vergleich zu Völkern wie den Letten, Litauern, Slowaken oder Ungarn zieht. In Polen ist das Bewusstsein, dass sich auch Polen an der Judenvernichtung beteiligt haben, erheblich stärker ausgeprägt. Auf der anderen Seite ruft diese Position heftige Reaktionen hervor, was daran liegt, dass die Rechte heute für die Polen den Status einer Gruppe erkämpfen will, die ausschließlich Juden gerettet hat.

KS: Der öffentliche Diskurs in Polen über die Gerechten unter den Völkern war immer von Antisemitismus begleitet, sei es nach dem Pogrom in Kielce am 7. Juli 1946, sei es während der antisemitischen Kampagne von 1968.

AL: Natürlich, denn es ist im Grunde genommen ein antisemitischer Diskurs, der die Angelegenheit auf einen Konflikt zwischen nationalen oder ethnischen Erinnerungskulturen reduziert. Aber allein die Tatsache, dass die Frage der „Gerechten” ernst genommen wird und die „Politik der Scham” im Sejm diskutiert wurde, zeigt, dass es sich um eine schmerzhafte Angelegenheit handelt. Dieser Prozess dauert immer noch an und nimmt unterschiedliche Formen an. Wenn es Jarosław Kaczyński[4] gelingt, einen autoritären Staat mit einer autoritären Erziehung zu errichten, dann wird sich in zwei Generationen niemand mehr an Gross erinnern. Gelingt ihm dies aber nicht, so wird der Prozess der Aufarbeitung der Geschichte mit Sicherheit weitergehen. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird.

KS: Und wie erklären Sie sich, dass die Regierung solche Gruppierungen wie das Nationalradikale Lager[5] akzeptiert, das die faschistischen Vorkriegstraditionen fortsetzt?

AL: Es gibt eine politische Erklärung dafür: Kaczyński will keine Partei rechts von sich, die ihn von dort aus angreifen könnte. Aber das Ganze hat noch tiefere Ursachen. Das ONR ist – leider – eine Jugendbewegung, die sich gegen das Establishment, genauer gesagt gegen das liberale Establishment richtet. Und das war sie bereits in der Zwischenkriegszeit. In meinen Augen war es für solche Länder wie Deutschland oder Frankreich ein glücklicher Umstand, dass die Revolte der späten 1960er Jahre einen linken Charakter hatte und den konservativen Diskurs ablehnte. In gewissem Sinne war das ein zufälliges Zusammentreffen historischer Umstände, denn in denselben Ländern hatte die Jugendrevolte nach dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise einen rechten Charakter. In Deutschland war der Nationalismus der Zwischenkriegszeit auch, wenngleich nicht nur, eine Bewegung der Jungen gegen die von ihrem Wesen her liberale Elite, die mit der Bourgeoisie gleichgesetzt wurde. Ähnlich war es in Frankreich. Es gibt unterschiedliche Gründe für den Protest bestimmter Gruppen gegen andere. Ich habe den Eindruck, dass wir uns aktuell in einer Phase des Protestes eines Teils der Gesellschaft gegen die liberale Politik und Wirtschaft befinden, aber dieser Protest findet im Namen rechter Werte statt, die man anführt, um seiner Ablehnung gegen die Globalisierungsprozesse Ausdruck zu verleihen. Die Rechte hat es vermocht, ihren Protest gegen die Konkurrenz billiger Arbeitskräfte von außerhalb Europas und den USA mit dem Protest gegen den Zustrom von Flüchtlingen und Immigranten zu verbinden. Sie verspricht größere Sicherheit in allen Bereichen, die dadurch erreicht werden soll, dass man sich innerhalb der Nationalstaaten abschottet und die Souveränität der einzelnen Staaten stärkt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Polen nicht von anderen Ländern. Deutschland hat die AfD, Frankreich den Front National, die USA haben Trump. Das, was gerade vor sich geht, ähnelt tatsächlich eher dem, was in den 1930er Jahren ablief, als dem, was in den 1960er Jahren passierte. Man darf auch nicht vergessen, dass in Polen die Faschisten nie an der Regierung waren oder daran beteiligt waren. Das ONR wurde für seine Handlungen nie zur Verantwortung gezogen. Daher fehlt das Bewusstsein, dass der Faschismus kompromittiert ist.

KS: Aber nach dem Holocaust hätte doch ein solches Bewusstsein entstehen müssen.

AL: Das ist eine Aufgabe, die, wie der griechisch-französische Sozialist Cornelius Castoriadis so schön sagt, kein fait, sondern ein à faire ist, also etwas, das nicht erledigt, sondern noch zu tun ist. Der Faschismus war, insbesondere in katholischen Ländern, auch eine soziale Bewegung, die einen speziellen gesellschaftlichen Paternalismus beförderte. Die PiS verfolgt ein solches paternalistisches Konzept der Problemlösung. 500 Złoty pro Kind [d.h. das von der PiS-Regierung eingeführte Kindergeld – Anm. d. Red.] an Menschen zu verteilen, die zuvor 27 Jahre lang nie etwas für ihren harten Job der Kindererziehung erhalten haben. Das ist eine paternalistische, aber reale Art und Weise, sich um die Menschen zu kümmern. Damit löst man kein einziges wichtiges Problem, aber man bewirkt, dass diese Leute sich umsorgt fühlen. Das ist die andere Seite der Sprache des Hasses, mit der die PiS operiert. Ohne diese würde sie nicht viel erreichen, denn allein mit einer Hass-Rhetorik kann man die Menschen nicht für sich gewinnen.

KS: Ich würde die These wagen, dass Kaczyński die Wahlen gewonnen hat, weil er sich beim Thema Flüchtlinge einer rassistischen Sprache bedient hat. Er hat die Angst vor einer vermeintlichen Islamisierung Europas ausgenutzt.

AL: Die Fähigkeit, Zorn und Hass auszunutzen, ist ein Charakteristikum rechter Bewegungen. Aber Zorn und Hass entstehen nicht aus dem Nichts. Bei den letzten Wahlen haben kaum mehr Menschen für die PiS gestimmt als 2007. Der klare Sieg der PiS ist vor allem ein Ergebnis der Demobilisierung der politischen Mitte und der Linken.

KS: Meinen Sie, dass dieses Phänomen eine Folge eines schwach ausgeprägten politischen Bewusstseins der polnischen Gesellschaft ist?

AL: Zum Teil ja, aber ein weiterer Grund ist, dass die Demokratie in Polen nie auf gerechte Weise verwirklicht wurde. Gleichheits- und emanzipatorische Ansprüche wurden nicht berücksichtigt. Das führte dazu, dass sich viele Menschen von der Demokratie abgewandt haben. Keine staatliche Institution hat sich für sie eingesetzt, und so konnte ihr Zorn Nahrung in dem Diskurs finden, den Kaczyński angeboten hat. Darum müssen wir eine Sprache entwickeln, die auf die Quellen solcher Frustrationen in Polen reagiert und mit deren Hilfe man den fremdenfeindlichen Diskursen ihre Attraktivität nehmen kann. Ich glaube allerdings nicht, dass das schnell gehen wird. Starke Identifikationsmuster lassen sich nicht so einfach ändern. Die jungen Leute, die sich mit der extremen Rechten identifizieren, werden bei ihrer Haltung bleiben. Nicht ohne Grund ist in Deutschland die Studentenrevolte erst in den 1960er Jahren, nach einem Generationenwechsel, ausgebrochen.

KS: Im polnischen Diskurs ist nicht nur der Liberalismus, sondern auch der Antikommunismus eine starke Stimme.

AL: Und zwar gerade auch der Antisowjetismus, bedingt durch die jahrzehntelange Abhängigkeit von der Sowjetunion. Aber die historischen Quellen der Schwäche der Linken in Polen liegen in den 1970er Jahren. Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PZPR) entwickelte sich damals zu einer nationalistischen Partei der Macht, obwohl sie die ganze Zeit vorgab, eine linke Partei zu sein. In den 1960er Jahren hatte es noch eine authentische linke Opposition gegeben. Hier ließe sich z.B. der offene Brief anführen, den Jacek Kuroń[6] und Karol Modzelewski[7] 1964 an die Partei schrieben und für den beide im Gefängnis landeten. Dieser Brief war in einem linksrevolutionären Ton verfasst. In den 1970er Jahren änderte sich die Situation, und der linke Diskurs verschwand. Dies kann man gut nachvollziehen in Adam Michniks[8] Buch Die Kirche und die polnische Linke (Kościół, lewica, dialog) aus dem Jahr 1974. Michnik wandte sich darin an die katholische Kirche in Polen und schlug eine Art „Deal“ vor: Wenn die Kirche der Opposition helfe, eine liberale Bürgergesellschaft zu schaffen, so werde sie im Gegenzug die Kontrolle über die moralische Sphäre erhalten. Bald darauf, am Ende des Jahrzehnts, initiierte die Kirche einen Anti-Abtreibungsdiskurs. Keiner protestierte, keiner argumentierte, dass ein Embryo noch kein Kind sei. Ich bringe dieses Beispiel, weil es die politischen Folgen der Entscheidung veranschaulicht, moralische Angelegenheiten der Kirche zu überlassen. In der „Solidarność“, zu Beginn der 1980er Jahre, gab es zwar noch linke Forderungen, aber sie nahmen nie die Form eines festen Programms an, wurden nie Teil der Sprache der Opposition. Und das Kriegsrecht 1981–1983 hat solche Versuche dann endgültig erstickt. Vor der Militärdiktatur flüchteten sich die Polen in den Schoß der Kirche. Und darum muss man heute in Polen, wenn es darum geht, wieder eine linke Sprache der Gleichheit zu schaffen, bei Null anfangen.

Deswegen denke ich, dass für die polnische Politik das Verhältnis zur Kirche sehr wichtig ist. Alle Parteien mit Ausnahme von Razem[9] zeigen sich gegenüber der Kirche unterwürfig. Die Einstellung der Bürger und Bürgerinnen dagegen ist gespalten. Die Mittelklasse in den großen Städten distanziert sich von der Kirche.

MSW: Verlieren wir hier, die wir im Zentrum von Warschau sitzen, nicht die Mehrheit der polnischen Gesellschaft aus den Augen?

AL: Etwa ein Fünftel der Gesellschaft lebt in Großstädten, also nehmen wir an, 20–25 Prozent, das wären ungefähr acht Millionen Bürger und Bürgerinnen. Unabhängig davon, dass die beiden größten Parteien, die PO und die PiS, in den Punkten Antikommunismus und Anerkennung der politischen Rolle der Kirche auf einer Linie liegen, würde ich nicht die Unterschiede innerhalb der polnischen Gesellschaft und die wachsende Abneigung gegen die politische Einflussnahme der Kirche unterschätzen. Aber es wird noch einige Zeit dauern, bis eine Sprache ausgearbeitet ist, die diese Sensibilitäten in politische Forderungen umsetzen würde.

MSW: Wir sind also quasi zu einem liberalen und nationalen Diskurs verurteilt.

AL: Wir sind wohl zu einem langen Marsch und zum Aufbau eines neuen politischen Bewusstseins und auch einer, wie es Janusz Palikot[10] ausgedrückt hat, neuen polnischen Kultur verurteilt.

KS: Warum versagen die Eliten in diesem Prozess? Nehmen wir das Beispiel des Rektors der Technischen Hochschule Białystok, der seinen ausländischen Studenten riet, während des Marsches des Nationalradikalen Lagers (ONR) in den Wohnheimen zu bleiben.

AL: In Polen haben viele Personen, die wichtige Funktionen ausüben, ein schwach ausgeprägtes politisches Bewusstsein. Eine Situation, in der der postpolitische liberale Diskurs der – um mit Antonio Gramsci zu sprechen – grundlegende hegemoniale Diskurs war, hat(te) zur Folge, dass sie die politische Wirklichkeit nur eingeschränkt durchschauen. Der Rektor handelte meiner Einschätzung nach nicht in böser Absicht. Er dachte wohl, dass er angesichts dessen, dass rassistische Hooligans durch die Straßen zogen, diejenigen Studenten warnen sollte, die zum Ziel von Angriffen werden könnten. Das ist der Diskurs, der in Polen trainiert wird. Gross spricht nicht zufällig davon, dass das Problem, das man in Polen mit Flüchtlingen hat, seine Ursache in der versäumten Aufarbeitung der Judenvernichtung hat.[11] Ich würde aber sagen, dass es nicht nur um den Holocaust ging, sondern auch um die nicht aufgearbeitete Tatsache, dass der Staat keine Verantwortung für den polnischen Antisemitismus übernommen hat. Wenn in der Zwischenkriegszeit Soldaten aus den Kasernen gingen oder ein katholischer Feiertag begangen und dabei verkündigt wurde, dass die Juden Christus gekreuzigt hätten, dann empfahl man den Juden, nicht aus dem Haus zu gehen. In Polen ist das ein Diskurs des guten Willens, des „Schutzes“ der Minderheit vor dem Terror der Mehrheit. Natürlich ist das absurd, aber um die Absurdität dieses Diskurses zu erkennen, bedarf es eines stärkeren politischen Bewusstseins. Währenddessen ist das polnische politische Subjekt schwach.

KS: Aber wir haben doch das Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD), an dessen Protestzügen Zehntausende Bürger und Bürgerinnen teilnehmen. Und wir haben die „Solidarność“-Tradition.

AL: Die „Solidarność“ war ein Fest, ein Karneval. In gewissem Sinne ist dies bislang auch das KOD. Aber ein starkes politisches Subjekt erfordert feste Institutionen, die Tag für Tag handeln, die Tag für Tag am Aufbau eines „institutionalisierten Gedächtnisses“ in Bezug auf Konflikte und deren Lösung, auf Verantwortlichkeit des Staates und Bürgerrechte arbeiten. In Gesellschaften ohne solide institutionelle Ordnung und ohne eine starke Bürgeridentität, die auch Krisen standhält, reicht ein „Karneval“ nicht aus. Es werden zwar Legenden und Symbole bereitgestellt, aber sie haben keinen Rückhalt in der täglichen politischen Praxis. Auch nicht in der Praxis des Übernehmens von Verantwortung für die eigene Schuld. Die Deutschen sind in einer etwas anderen Situation, denn sie haben große Erfahrung in der Aufarbeitung von Schuld.

KS: ...nur auf offizieller Ebene...

AL: In der Gesellschaft gibt es da natürlich Unterschiede. Ein offen fremden- und globalisierungsfeindlicher Diskurs ist heute etwa in Frankreich, England und Holland zu beobachten. Noch wissen wir nicht, ob in den nächsten oder übernächsten Wahlen in Frankreich nicht Marie Le Pen gewinnt.

KS: Bei den Bundespräsidentenwahlen in Österreich stand das Ergebnis schon diesmal auf Messers Schneide...

MSW: … und in Deutschland könnte die AfD schon bald im Bundestag sitzen.

AL: Nach Ansicht des Historikers Timothy Snyder hat Europa das große Glück, dass Deutschlands politische Elite proeuropäisch ist. [12] Aber das muss nicht immer so bleiben. In diesem Sinne ist das heutige Polen eher ein Labor, in dem sich aktuelle politische Prozesse beobachten lassen, als ein exotischer Fall. In unserem Land kann man sehen, was passiert, wenn der Populismus die gesellschaftliche Hegemonie erlangt, ein Populismus, der Abschottung propagiert und sich gegen verschiedene Ausprägungen der Globalisierung wendet, nicht nur gegen die wirtschaftliche, neoliberale, symbolische Globalisierung, wie wir sie heute durch TTIP verkörpert sehen, sondern vor allem auch gegen die „Globalisierung“ der menschlichen Solidarität und die Universalität der Menschenrechte.

MSW, KS: Wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

 

[1] In „Nachbarn“ beschreibt der Autor die Verbrechen der polnischen Bevölkerung des Ortes Jedwabne an ihren jüdischen Nachbarn im Juli 1941.
[2] „Ida“ (2013, PL/DK, R: Paweł Pawlikowski); „Pokłosie” (dt. Nachlese, 2012, PL, R: Władysław Pasikowski). Siehe dazu: Geschichtspolitik in Polen. Die Debatten um den preisgekrönten Film „Ida von Pawel Pawlikowski.
[3] Die Technische Universität in Lemberg war die erste Universität in Polen, welche die Segregation von Juden und Nicht-Juden per Sitzordnung einführte. 1937 galt das sog. Sitzbankghettosystem (getto ławkowe) an allen polnischen Universitäten. 
[4] Jarosław Kaczyński ist Vorsitzender der Regierungspartei PiS
[5] Obóz Narodowy Radikalny, ONR
[6] Kuroń war Oppositioneller und Mitbegründer des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter KOR in den 1970er Jahren.
[7] Modzelewski war ein Oppositioneller und ist Geschichtsprofessor, Mediävist.
[8] Michnik war ebenfalls Oppositioneller und hatte zunächst derselben Strömung wie Kuroń und Modzelewski angehört; nach 1989 war er Chefredakteur der Gazeta Wyborcza, der größten liberalen Tageszeitung in Polen.
[9] Razem ist eine neue linke Partei, die bei den Wahlen 2015, 3,5 Prozent der Stimmen erhielt.
[10] Palikot ist ein polnischer Politiker des linken Spektrums.
[11] Leder bezieht sich hier auf den Artikel von Gross in „Die Welt“ vom 13.9.2015. Jan T. Gross, Die Osteuropäer haben kein Schamgefühl, (Aufruf am 7.7.2016).
[12] Maciej Stasinski, Timothy Snyder: Samie nie rozumiecie, co tracicie, in: wyborza.pl/magazyn, vom 14.5.2016 

 

Das Interview führten Magdalena Saryusz-Wolska und Katrin Stoll im Juni 2016 in Warschau, übersetzt wurde es aus dem Polnischen von Andrea Huterer