von Jan C. Behrends

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1. Februar 2015

In diesen Tagen jährt sich der Sieg der ukrainischen Zivilgesellschaft gegen den Präsidenten Viktor Janukovič, der mit seiner Abkehr von Europa die Massenproteste gegen ein korruptes, autokratisches und kremltreues Regime herausgefordert hatte. Über mehrere Monate des Winters 2013/14 wurde der Maidan zum Ort, an dem sich die Zukunft des Landes entscheiden sollte. Nach der Flucht Janukovičs im Februar 2014 sah es allerdings nur für kurze Zeit so aus, als habe dieses ukrainische Drama ein gutes Ende genommen. Der Kampf auf dem Maidan war nur das Präludium zu einer größeren Auseinandersetzung: Nun trat der schwelende Konflikt zwischen Russland und dem Westen offen zu Tage. Die Ukraine ist dabei nur das erste Spielfeld, auf dem dieser Streit um eine neue europäische Ordnung ausgetragen wird: Schon morgen kann der Konflikt in andere Länder getragen werden.
Wo stehen wir ein Jahr nach dem Maidan?
Alle Konfliktparteien haben sich durch Gewalt und Krieg verändert. Verborgenes ist aus dem Schatten getreten, und alte Illusionen sind neuen Gewissheiten gewichen. Der Maidan ist eine europäische Zäsur.

Historisch steht der Maidan in einer Reihe mit den europäischen Freiheitskämpfen. Er ist die Bastille des postsowjetischen Raums – der Ort, an dem die Bürger das Ancien régime niederrangen. Hier hat sich für Kiev vollendet, was in Mitteleuropa im Herbst 1989 geschah. Wenn die Ukrainer von einer „Revolution der Würde“ sprechen, dann verdeutlicht schon die Wortwahl ihre Wahlverwandtschaft mit den Dissidenten der 1980er Jahre.
Ihr Sieg war hart erkämpft: Es zeigte sich, dass dort, wo kommunistische Staatlichkeit über sieben Jahrzehnte verwurzelt war, ihre Transformation zur Bürgergesellschaft mehr Zeit brauchte und braucht. Der erste Anlauf, die „orangene Revolution“ von 2004, scheiterte. Die Unterschiede zwischen den historischen Konstellationen wurden im vergangenen Jahr sichtbar: Der erschöpfte Hegemon des Jahres 1989 ist einem aggressiven Kreml gewichen, der nicht mehr bereit ist, angrenzende Staaten aus seiner Einflusssphäre zu entlassen.
Mitteleuropa erstritt 1989 seine Freiheit im Schatten des sowjetischen Gewaltverzichts. Die Ukraine hingegen hat es mit einem Gegner zu tun, der vor Subversion, Gewalt und Krieg nicht zurückschreckt. Der ukrainische Fall verdeutlicht - dass es auch im postsowjetischen Raum gelingen kann, sich vom totalitären Erbe und der autoritären Tradition zu emanzipieren - das ist die Botschaft des Maidan.

Zeitgleich mit dem Machtwechsel in Kiev begann im Februar 2014 der Moskauer Gegenschlag: Er fing mit dem handstreichartigen Überfall auf die Krim an, dann folgte der Versuch eines „Anti-Maidan“ im Osten und Süden der Ukraine. Doch zahlreiche westliche Experten und vermutlich selbst einige Ukrainer wurden durch die Reaktion ihres Landes überrascht: Nach einem kurzen Schock trat die ukrainische Gesellschaft der hybriden Kriegsführung Russlands entschieden entgegen. Der Zerfall des Staates fand nicht statt. Nur direkt an der Grenze, wo das russische Militär unmittelbar eingreifen konnte, gelang eine Machtübernahme der Insurgenten, die seitdem im Donbas ein Terrorregime in ihren „Volksrepubliken“ führen. In weiten Teilen des Landes blieben russischsprachige Ukrainer loyal zu Kiev – sie sind keine Russen im Sinne Moskaus. Es zeigte sich, dass der ukrainische Patriotismus keine Frage der Muttersprache ist. Die ukrainische Identität ist weit mehr als nur eine Konstruktion, und sie festigte sich im Konflikt.
Der Krieg hat vermutlich mehr zur Nationsbildung beigetragen als über zwei Jahrzehnte friedlicher Unabhängigkeit. Der Krieg ist der Baumeister einer neuen Ukraine. Unter dem Druck der Invasion müssen sich sowohl der ukrainische Staat als auch die Zivilgesellschaft beweisen. Der Westen sollte ihnen beistehen, primär beim Aufbau demokratischer Staatlichkeit, aber - wo nötig - auch militärisch. Vor allem aber müssen die Ukrainer beweisen, dass sie den eingeschlagenen Weg nach Westen zu Ende gehen.

Die Annexion der Krim und der Einmarsch in den Osten der Ukraine haben das westliche Russlandbild verändert. Mit seinen absurden Beteuerungen hat der Kreml Vertrauen und Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die Illusion, dass Russland ein Partner sei, ist der Erkenntnis gewichen, dass Moskau bereit ist, die europäische Ordnung mit Gewalt zu verändern. Doch auch das Regime selbst und die russische Gesellschaft haben sich im vergangenen Jahr verändert. Zwar gab es bereits seit den 1990er Jahren die autokratischen Strukturen, die Massengewalt in Tschetschenien, die Schauprozesse und die Repressionen gegen eine kritische Öffentlichkeit. Freie und faire Wahlen gehören schon seit 1996 der Vergangenheit an. Im vergangenen Jahrzehnt hatte der Kreml beharrlich und nicht ohne Erfolg versucht, nach außen ein moderates Bild abzugeben. Der Konflikt mit Kiev, Brüssel und Washington hat diese Fassade jedoch einstürzen lassen. Die Masken sind gefallen: Repression und Mobilisierung – zwei Kennzeichen sowjetischer Herrschaft – sind unverkennbar wieder die zentralen Grundfeste russischer Staatsmacht. Diejenigen, die den Kurs des Machthabers nicht mittragen, werden denunziert, bedroht und verfolgt. In Moskau herrscht ein erzwungener Schulterschluss: Propaganda, Angst und Unterdrückung bringen die Gesellschaft auf Linie. Der Krieg selbst, die Gewalt im Donbas sowie die Auseinandersetzung mit dem inneren und äußeren Feind legitimieren das Regime.
Der Krieg ist die Droge des Kremls, er zeigt die Macht eines eigentlich ohnmächtigen Staates. In Moskau folgte in den letzten zwei Jahrzehnten ein dysfunktionales System auf das andere. Da das eigene Versagen offensichtlich wird, sucht die russische Elite als letzten Ausweg den Kampf gegen den Westen. Die EU und die USA haben sich lange geweigert, diese Wirklichkeit anzuerkennen. Nach der Krim, MH 17, dem Terror im Donbas sowie Minsk I und II gilt: Russland ist ein rogue state.

Der Westen ist durch den unerwarteten Konflikt mit Moskau verunsichert. Er hat lange Zeit weggesehen. Nun blicken westliche Regierungen hinter die liberale Fassade. Deutschland musste sich von seiner Ostpolitik verabschieden. Vergeblich hatte Berlin auch dann noch auf „Wandel durch Annäherung“ gesetzt, als die Radikalisierung im Kreml schon unübersehbar war. Brüssel sollte lernen damit umzugehen, dass es in Europa eine Macht gibt, die bereit ist, die Europäische Union zu destabilisieren, um sie zu zerstören. Doch auch der Kreml hat sich bisher verkalkuliert: Es ist Moskau nicht gelungen, die westliche Allianz zu spalten. Mit wirtschaftlichen Sanktionen und diplomatischer Isolation hat der Westen eine adäquate Antwort auf die Aggression gefunden. Aber die wirklich schweren Entscheidungen stehen in Berlin, Brüssel und Washington erst noch bevor.
Bisher wurde stets situativ auf die russische Herausforderung reagiert. Nun gilt es, eine langfristige Strategie zur Stabilisierung Europas und zur Eindämmung Russlands zu formulieren. Es sind harte Debatten zu erwarten. Der Abschied von den alten Konzepten fällt, gerade in Berlin, schwer. Nur langsam verbreitet sich die Erkenntnis, dass wir nicht in den Kalten Krieg zurückgekehrt sind, sondern im heißen Frieden leben.

Der Maidan ist ein Ort im Herzen Kievs. Auf den Trümmern der postsowjetischen Tyrannei stritten die Protestierenden hier für eine andere Gesellschaft. Die Aktivisten forderten von der politischen Führung, dass sie der Bevölkerung ihre Würde zurückgeben sollte. Sie waren bereit, für ihre Freiheit zu kämpfen. Europa hat im vergangenen Jahr – teils mit Sympathie, teils besorgt, teils feindselig – auf den Maidan geschaut. Heute erkennen wir, dass der Maidan ein europäischer Ort ist. Hier wurden nicht nur die Prinzipien Europas verteidigt – hier begann der Konflikt um die Zukunft des Kontinents. Moskau hat als Reaktion den „Anti-Maidan“ geschaffen, der nichts anderes als ein „Anti-Europa“ ist. Zwei Jahrzehnte nach dem Kalten Krieg hat die Revolution auf dem Maidan die Konfliktlinien in Europa offengelegt. Die Illusion, dass auf Diktaturen mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit liberale Ordnungen folgen, ist seit dem letzten Jahr verflogen. Der Kampf zwischen Freiheit und Gewaltherrschaft ist nach Europa zurückgekehrt. Heute wird er in der Ukraine ausgefochten, morgen vielleicht in Georgien oder im Baltikum. Trotz dieser schmerzhaften Erkenntnis gilt es, den Maidan als Ort des Aufbruchs und der Hoffnung zu begreifen. Und dies, obwohl hier kein so friedfertiger und reibungsloser Umbruch möglich war wie 1989 in Warschau, Leipzig oder Prag. Für ihren Mut, ihre Entschlossenheit und ihr Bekenntnis zur Freiheit haben die Aktivisten des Maidan und mit ihnen die Bürger der Ukraine europäische Solidarität verdient.

 

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