von Felix Ackermann

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1. Oktober 2013

Aus Anlass der Verleihung des Literaturnobelpreises an Swetlana Alexijewitsch am 8. Oktober 2015

 

Die belarussische Autorin Swetlana Alexijewitsch erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (erstmals veröffentlicht im Okotber 2013)

Auf dem Cover des neuen Buches von Swetlana Alexijewitsch ist eine ältere Frau zu sehen, die mit Begeisterung eine sowjetische Flagge über den Minsker Oktoberplatz trägt. In „Secondhand-Zeit“ liefert die belarussische Autorin nun die kollektive Biographie derjenigen, die mit der sowjetischen Utopie aufgewachsen sind und deren Lebenswege noch heute von ihrem plötzlichen Untergang geprägt werden. Das Buch skizziert die Euphorie der Perestroika und ihren Höhepunkt, die Verteidigung des Moskauer Weißen Hauses gegen den Putsch im August 1991, ebenso wie die folgende Spaltung der post-sowjetischen Gesellschaft in diejenigen, die die Sowjetunion um jeden Preis und diejenigen, die sie um keinen Preis zurückhaben wollten. Sie zeigt anhand einzelner Biographien, wie der Zusammenbruch der Sowjetunion das Lebenswerk Einzelner zerstörte, aber auch den Lebensstil und die Gewissheiten einer ganzen Gesellschaft grundlegend veränderte. Der in den 1990er Jahren erfolgte wirtschaftliche Niedergang und die Marginalisierung der an den sowjetischen Küchentischen sozialisierten Intelligenzija beschreibt die Autorin besonders prägnant. In der Einleitung schreibt sie, dass der sowjetische Mensch keine Utopie gewesen sei, sondern über Generationen hinweg ganz real im sowjetischen Alltag existiert habe. Während sie in den folgenden Kapiteln stets ihre Interviewpartner zu Wort kommen lässt, erfahren wir am Anfang kurz, dass die Autorin sich selbst auch zum Kreise dieses sowjetischen Menschen zählt. Es  handelt sich bei „Secondhand-Zeit“ um eine Meditation des „Abschieds von der kommunistischen Zeit“. Alexijewitsch konzipierte das Buch als individuelle und kollektive Therapie gegen den post-sowjetischen Phantomschmerz, der nicht mit Nostalgie zu verwechseln ist.

 

Chronistin der Sowjetischen Utopie und ihres Untergangs

Swetlana Alexijewitsch schließt mit „Secondhand-Zeit“ einen Zyklus von fünf Werken über den „Roten Menschen“ ab, mit dem sie sowjetische Kulturgeschichte schrieb. Nach dem Studium in Minsk arbeitete sie in den 1970er Jahren als Journalistin an verschiedenen Orten der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Ohne staatliche Unterstützung begann sie in der gesamten Sowjetunion Frauen zu interviewen, die als Soldatinnen am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatten. Die daraus entstandene literarisch-dokumentarische Collage „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ konnte erst 1985 als Gesamtausgabe erscheinen, weil die Autorin durch die Auswahl, Verdichtung und Montage von Zitaten zentralen Vorstellungen über den Zweiten Weltkrieg widersprach, der unter Leonid Brezhnev als Großer Vaterländischer Krieg zum Fundament sowjetischer Identitätsstiftung geworden war. Die von einer neuen Form kritischer Öffentlichkeit geprägte Glasnost prägte sie mit diesem Band ebenso wie mit dem folgenden Werk „Die letzten Zeugen“, in dem sie die individuellen und kollektiven Folgen von Gewalt in der sowjetischen Gesellschaft nachzeichnet. Bereits 1990 erschienen erste Texte über die sowjetische Intervention in Afghanistan in Moskauer Zeitschriften. Auch hier stellte sie das Leid der einzelnen Soldaten, ihrer Mütter und Geschwister durch ihre Montagetechnik in einen größeren Zusammenhang. 1992 erschienen diese Texte als „Zinksoldaten“ auf Russisch.

 

Die künstlerische Herstellung kollektiver Authentizität

Die einzelnen Interviewsequenzen verdichtet Swetlana Alexijewitsch durch eine starke Fokussierung auf  einzelne Schicksale und deren gezielte Montage. Sie versieht diese nur mit wenigen zusätzlichen Informationen – der Leser erfährt Alter, Beruf, seltener auch den Namen und den Ort. So verbleiben die als „authentisch“ markierten Zitate oft ohne Informationen über den Kontext der Auswahl, über die Bedingungen der Interviews. Doch nach längeren Passagen, in denen Swetlana Alexijewitsch ihre Protagonistinnen und Protagonisten zitiert, beschreibt sie ihren eigenen Gedankenfluss oder die Situation, in der ein Interview entstanden ist. In „Secondhand-Zeit“ wird ihr gezieltes Ineinanderschieben unterschiedlicher Biographien durch die konsequente Verwendung des Plurals verstärkt. Alexijewitsch notiert zwar das Leid des Einzelnen, doch verwendet sie dieses allein als Versatzstück eines gedachten Kollektivs – des sowjetischen Volkes, das seine Heimat verloren hat.

In „Zinksoldaten“ beschreibt die Autorin ihre eigene Methode: „Wieder mein Weg – von Mensch zu Mensch, von Dokument zu Dokument. Jede Beichte – wie ein Portrait in der Malerei: Niemand würde „Dokument“ dazu sagen, man sagt „Bild“. Man spricht vom Phantasiegehalt der Realität.“[1] Demnach interessiere sich die Autorin für die Gedanken, Wünsche und Ängste des einzelnen Menschen. Durch den starken Auswahl- und Montageprozess verstärkt sie die Stimmen ihrer Interviewpartner. Selbst verstummte Stimmen der „sowjetischen Zivilisation“ werden durch ihre Technik zu einer Quelle. Besonders stark wirkt dies im Falle ihrer intensiven Recherchen zu (post)sowjetischen Selbstmördern wie Timerian Zinatov, einem Verteidiger der Festung Brest, der im Alter von 77 Jahren dorthin zurückkehrte, um sich das Leben zu nehmen.[2] Dieser Prozess der Überführung eines Interviews in einen als künstlerisch markierten Text ist verbunden mit einer starken symbolischen Aufladung, die auch mit dem Mittel des Pathos arbeitet. Dieser Effekt wird verstärkt durch den gezielten Einsatz von Zitaten russischer und sowjetischer Literaturklassiker, die aber in der Regel als solche markiert sind.

Durch ihre betont dokumentarisch-künstlerische Arbeitsweise gelingt Alexijewitsch etwas, was Historikern nur selten gelingt: Sie schafft durch Verdichtung einen Text, den man als Leser wie ein Epochengemälde auf sich wirken lassen kann. Dass die Texte nicht als historische Quellen codiert sind, liegt auf der Hand. Der Hauptunterschied zu einer historiographischen Arbeitsweise, die stark mit Dokumenten und Zitaten arbeitet, liegt darin, dass die Autorin ihre eigene Sicht oft nur indirekt über die Auswahl der Zitate und ihr Arrangement versteckt.

 

Ihre Rezeption in Belarus, Russland und Deutschland

In Belarus, wo Swetlana Alexijewitsch in einer belarussisch-ukrainischen Familie aufwuchs, werden ihre Werke heute nicht gedruckt. Staatliche Stellen können mit ihrer Dokumentarprosa ebenso wenig anfangen wie die national argumentierenden Akteure der Opposition. Während die einen das Erbe der Sowjetunion beschmutzt sehen, ist den anderen Alexijewitschs Werk nicht stark genug auf Belarus fokussiert. Die Autorin schreibt aber, wie in „Secondhand-Zeit“ durch das konsequent verwendete wir klar wird, bewusst nicht für einen national definierten Leser etwa in Minsk oder Kiew, sondern eben für jenen einstigen sowjetischen Menschen, dessen Sprache Russisch ist, der Dostojewski, Tolstoi, aber auch Solschenizyn und Schalamow gelesen hat. Ihre in Moskau verlegten russischsprachigen Bücher werden in der gesamten ehemaligen Sowjetunion und durch diverse Emigrationswellen auch im westlichen Europa und Nordamerika im Original gelesen. Sie wurden in über 30 Sprachen übersetzt. Und in Deutschland wurde die Autorin nach der Tschernobyl-Katastrophe besonders stark wahrgenommen, weil sie in ihrem Buch „Tschernobyl. Chronik der Zukunft“ eine neue Dimension menschlichen Lebens und Sterbens nach der Reaktorkatastrophe erfahrbar machte. 2013 erhält sie nach vielen anderen internationalen Ehrungen den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der erklärte, dass Swetlana Alexijewitsch „die Lebenswelten ihrer Mitmenschen aus Weißrussland, Russland und der Ukraine nachzeichnet und in Demut und Großzügigkeit deren Leid und deren Leidenschaften Ausdruck verleiht.“[3]

Gänzlich ausgeblendet wird bei der Rezeption von Swetlana Alexijewitsch, dass sie über zehn Jahre selbst als Emigrantin mit Stipendien in Deutschland und Italien gelebt hat und sich dadurch selbst von ihrem Gegenstand und ihren Interviewpartnern räumlich und sozial weit entfernt hat. Sie kehrte für die Interviews immer wieder zurück – in die post-sowjetische Vergangenheit. Dass in der Gegenwart Russlands, aber auch in Belarus neue kulturelle Formen entstanden sind, die jenseits der Utopie und ihres Endes funktionieren, ist für das Projekt der Autorin nicht relevant. Sie hat zuletzt unter der belarussischsprachigen neuen kulturellen Elite in Belarus für einen Skandal gesorgt, indem sie einem alten sowjetischen Argumentationsmuster über die Kulturen der nichtrussischen „Titularnationen“ in der Sowjetunion folgte und behauptete, Belarussisch würde sich nicht als Literatursprache eignen, weil es eben doch eine Bauernsprache sei. Doch Swetlana Alexijewitsch kehrte 2011 offiziell nach Minsk zurück und lebt dort wieder gegenüber dem Denkmal für die belarussischen Opfer des sowjetisch-afghanischen Kriegs, das im Volksmund „Insel der Tränen“ heißt. Nicht weit von dort liegt der Oktoberplatz, der auf dem Cover ihres neuesten Werkes zu sehen ist.




[1] Svetlana Alexievich, Cinkovye malchiki, Moskva 2001, S. 13.

[2] Svetlana Alexievich, Vremya Second Hand, Moskva 2013, Kindle-Edition, Position 4045.