von Jan C. Behrends

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2. März 2017

*Zum oben stehenden Foto bietet folgender Beitrag weitere Informationen: Klaus Waschik, Virtual Reality. Sowjetische Bild- und Zensurpolitik als Erinnerungskontrolle in den 1930er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010), H. 1, Druckausgabe: S. 30-54.

Vor hundert Jahren endete die Monarchie in Russland.
Zar Nikolai II., der letzte Herrscher aus dem Hause Romanov, wurde von den russischen Eliten zur Abdankung bewogen. Mitten in einem Weltkrieg, in dem für die russische Seite militärische Erfolge zunehmend ausblieben, wurde er nur noch als Hypothek wahrgenommen und seiner Machtposition enthoben.
Der Zar und seine Familie hatten sich in den vergangenen Jahren, vor allem aber seit Kriegsausbruch, durch zahlreiche Affären, ihre deutsche Verwandtschaft und durch die engen Kontakte zum skandalumwitterten Rasputin diskreditiert. Selbst das engste Umfeld des Zaren plädierte für den Rückzug.
Während die liberalen Eliten der Duma an die Macht drängten, fürchteten sie gleichzeitig die in den Sowjets organisierten radikalen Arbeiter und Soldaten. Und schließlich verspielte das liberale Russland im Februar 1917 seine historische Chance. Das Scheitern der liberalen Eliten führte dazu, dass die großen Fragen, die von der Russischen Revolution aufgeworfen wurden, bis heute nicht beantwortet sind.
Die schwierige Lage, die der Verlauf des Weltkriegs verursachte, brachte vor hundert Jahren die entscheidenden Fragen des modernen Russland auf die Tagesordnung: Was war die angemessene staatliche, politische und soziale Ordnung für das Reich?

Russland führte seit 1914 Krieg, in erster Linie um seine jahrhundertelange imperiale Expansion fortzusetzen: Galizien, Kleinasien und vor allem der Bosporus zählten zu den strategisch wichtigen Kriegszielen. Zur gleichen Zeit litt das Imperium jedoch unter dem anwachsenden Selbstbewusstsein zahlreicher Minderheiten: Polen, Finnen und Ukrainer sahen ihre Zukunft zunehmend in nationaler Selbstbestimmung. Dies warf Fragen danach auf, ob Russland zukünftig Imperium bleiben oder Nation werden konnte, wo die legitimen Grenzen des Reiches lagen und was die verschiedenen Länder und Regionen, die von St. Petersburg aus verwaltet wurden, zusammenhielt.
Mit dem Ende der zaristischen Herrschaft musste das Imperium auf eine neue staatliche Grundlage gestellt werden. Doch schon bald zeigte sich, dass die Autokratie jenes Bindeglied war, das das Reich zusammenhielt. Ohne die Zwänge und Symbole der Herrschaft des Zaren entstand ein Vakuum. Die Legitimität der Herrschaft schwand, und der Staat selbst begann zu zerfallen. Dies warf die Fragen auf, was Russland zukünftig sein sollte, wo seine Grenzen verliefen und welche Gebiete ihre Unabhängigkeit durchsetzen konnten. Kurzum: Es begann ein Prozess (post-) imperialer Desintegration, der den Bürgerkrieg und die sowjetische Epoche über andauerte und der bis heute nicht beendet ist.

Seit der Revolution von 1905 gingen die russischen Liberalen davon aus, dass der Prozess der Konstitutionalisierung weiter voranschreiten würde. Auch in Russland sollte eine moderne Verfassung den Staat zähmen und die Rechte der Bürgerschaft stärken. Noch 1917 war die Wahl der constituante die Forderung, auf die sich das Gros der politischen Kräfte verständigen konnte. Doch schon kurz nach dem Sturz des Zaren wurde offensichtlich, dass es sich um ein Elitenprojekt handelte.
Soldaten, Arbeiter und Bauern hingegen wollten Frieden und Land – sie sahen nun den Moment gekommen, in dem sie ihre Vorstellung von Gerechtigkeit durchsetzen konnten. Dabei richteten sie sich gegen die Säulen des alten Regimes – Adel, Offiziere, Geistlichkeit – und gegen ihre liberalen Kritiker aus den bürgerlichen Professionen, deren Traum einer Verrechtlichung der Macht sie nicht teilten.
Sie wollten ohne jegliche Rücksichtnahmen ihre Rechte gegenüber den Eliten durchsetzen. Im Jahr 1917 zeigte sich schließlich, wie unzureichend die Voraussetzungen für eine Liberalisierung der russischen Gesellschaft waren. Es fehlte an einem Wertehorizont, auf den sich große Teile der Bevölkerung einigen konnten, und es stellte sich bald heraus, wie groß die Unkenntnis der verschiedenen Fraktionen voneinander war.

Zudem blieb im Frühjahr 1917 unklar, welche politische Ordnung auf die Selbstherrschaft der Zaren folgen sollte. Der Verzicht des Großfürsten Michail verhinderte eine konstitutionelle Monarchie. Nun konkurrierten die provisorische Regierung und der Petrograder Sowjet um die legitime Macht. Letztendlich konnten sich beide Institutionen nicht durchsetzen, und unter Lenins Bolschewiki kehrte die Autokratie in kommunistischer Form zurück.
An dieser Kontinuität konnten selbst die Reformen Michail Gorbatschows und der Zusammenbruch der Sowjetunion nichts ändern. Hundert Jahre nach der Februarrevolution von 1917 könnten die Petersburger Bürger mit demselben Recht „Nieder mit der Autokratie“ rufen wie ihre Vorfahren. Noch heute hängt das Schicksal des Landes an einem Machthaber und seiner Kamarilla, und noch immer kennt Russland keinen politischen Mechanismus zur friedlichen Übergabe der Macht.

Schließlich gingen die revolutionären Massen im Winter 1917 auch für eine gerechtere soziale Ordnung auf die Straßen. Die Revolution versprach ihnen die Teilhabe am Wohlstand des großen Landes. Tatsächlich wurden im Laufe des Umbruchs die alten Eliten komplett enteignet. Millionen verloren ihren Status und oft auch ihre Freiheit, die Heimat oder das Leben. Doch auch hinsichtlich der sozialen Frage gilt, dass die Revolution hinter ihren Versprechungen zurückblieb. Auf Jahrzehnte kollektiver Armut folgte die Entstehung einer sozialistischen Dienstklasse, die sich nach 1991 die Reichtümer des Landes aneignete.
In der Gegenwart ist Russland eine sozial gespaltene Gesellschaft: Während eine kleine Kaste in großem Wohlstand lebt, ist die Mehrheit dazu verdammt, von den Almosen zu leben, die der postsozialistische Petrostaat ihnen zugesteht. Von einer sozial gestalteten Gesellschaft ist Russland mindestens so weit entfernt wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hinzu kommt, dass privates Eigentum durch den Staat nicht wirksam geschützt ist, so dass der Status jedes Vermögens weiterhin prekär bleibt.

Der Blick zurück auf die nationalen, politischen und sozialen Fragen, die Russland vor hundert Jahren erschüttert haben, zeigt, wie aktuell sie noch heute sind. Die Problemlagen haben an Brisanz kaum eingebüßt. Deshalb ist die Russische Revolution mehr als nur ein historisches Ereignis, über das es sich nachzudenken lohnt.
Keiner der konkurrierenden Ordnungsentwürfe hat Russland bisher eine stabile Ordnung gebracht. Somit bleibt Russland auch nach hundert Jahren ein Land im Umbruch.