Der japanische Automobilkonzern Toyota geriet aufgrund einer gefährlichen Pannenserie in den letzten Wochen in die Schlagzeilen der Tagespresse.
Nun sind Pannenserien und Rückrufaktionen von Automobilherstellern keine Seltenheit, erinnert sei an den Mercedes der A-Klasse, der bei Ausweichmanövern leicht ins Kippen geriet (1997), oder an die 870.000 VW Passat und Audi-Modelle, die der VW-Konzern im Jahr 2004 aufgrund von Airbag-Defekten u.a. „zurückrief“.
Die Pannen der Toyota-Modelle werden gegenwärtig jedoch anders verhandelt. Der Fall des Mythos Toyota scheint tiefer zu gehen als in der Branche üblich – die Dramaturgie der Presseberichterstattung spannender.
Der Mythos Toyota entwickelte sich, seitdem das Unternehmen Ende der 1960er Jahre begann, den Weltmarkt zu erobern. In den 1970er Jahren gehörte der Konzern zu den globalen Marktführern der Automobilbranche. Dahinter stand die Produktion wenig aufregender, dafür jedoch grundsolider und sicherer Autos, die mittels neuer, in den USA und Westeuropa unbekannter Produktionsweisen hergestellt wurden. Parallel zur steigenden Erfolgskurve Toyotas begannen amerikanische und europäische Wissenschaftler, nach den Gründen für den Erfolg der japanischen Automobilindustrie zu suchen.
Eine der häufigsten Ergebnisvarianten dieser Forschungen beschränkte sich bis in die 1980er Jahre hinein auf eine These mit geringer analytischer Schärfe: Der Erfolg der japanischen Automobilindustrie beruhe in erster Linie auf unfairen Wettbewerbsbedingungen (diktiert von den Japanern) und auf kulturellen Unterschieden (militärische Disziplin der Produzenten) – kurz: auf der Andersartigkeit der asiatischen Ökonomie und Gesellschaft.
Das renommierte Massachusetts Institute of Technology (MIT) veröffentlichte 1990/91 eine erste wirklich bahnbrechende Studie zum Produktionsmodell Toyotas: The Machine that changed the World. Der Toyotismus, wie die japanische Produktionsweise fortan genannt wurde, galt von nun an als die industriegeschichtliche Ablösung des Fordismus. Der Toyotismus war mithin aber nicht in Referenz zum fordistischen Produktionsmodell entstanden, sondern baute vielmehr auf den Strukturen des Fordismus auf. Das hieß konkret: geringe Lagerbestände (alles fließt), multipel qualifizierte Arbeiter, eine in kleinste Schritte durchgliederte Arbeitsorganisation, begleitet von permanenten Qualitätskontrollen, die eine schnelle Behebung auftretender Mängel aufgrund der Zergliederung des Produktionsprozesses möglich machen.
Hinzu kommen die relative Autonomie einzelner Arbeitsgruppen und hohe Anreize für die Belegschaften, wie gesicherte Arbeitsplätze, Aufstiegsmöglichkeiten, hohe Löhne, allerdings bei gleichzeitig geforderter ungeheurer Arbeitsintensität.
Die Studie des MIT entwickelte zudem den Begriff der Lean Production - eine sparsamere, schnellere und variablere Produktionsweise, als es die fordistische je war. Aus all diesen vor allem arbeitsorganisatorischen Innovationen ergibt sich eine „schlanke“ Produktionsweise: weniger menschliche Arbeitskraft, weniger Fabrikfläche, geringere Werkzeugkosten, geringerer Zeitaufwand, weniger Lagerfläche, weniger Defekte und Mängel. Laut Volker Elis, Wirtschaftswissenschaftler am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokio, bündelt die Lean Production die zentralen Elemente des toyotistischen Produktionsmodells und überformte schließlich in den 1970er Jahren die bis dahin auch in Japan vorherrschende fordistische Massenproduktion.
Die MIT-Studie macht zudem deutlich, dass der Erfolg der japanischen Automobilindustrie eben nicht auf kulturellen Besonderheiten beruhte, sondern vielmehr Ergebnis des industriellen Evolutionsprozesses sei. Die inzwischen weltweite Verbreitung japanischer Fertigungsprozesse, der so genannten transplants, beweist dies.
Erst der zeithistorische Blick, in Distanz zu den faszinierenden Kanban-, Kaizen- oder just-in-time-Produktionssystemen, macht deutlich, dass Toyota heute das Ergebnis einer Anpassungsleistung industrieller Entwicklung ist, ähnlich dem Übergang vom Handwerksbetrieb des 19. Jahrhunderts zum fordistischen System des frühen 20. Jahrhunderts.
So beeindruckend auch die Idee der fließenden, sehr variablen und kleinschrittigen Produktion aus wirtschaftshistorischer Perspektive ist – für die sozialgeschichtliche Forschung ist am Phänomen Toyota vor allem eines interessant: die Tatsache, dass es ca. 150 Jahre industriegeschichtlicher Entwicklung bedurfte, ehe das Wissen und die Erfahrung von Produktionsarbeitern in einem Maße nutzbar gemacht wurden, wie dies der japanischen Automobilindustrie gelang.
Links zum Thema:
Womack, James P. u.a., The Machine that changed the World, New York 1991.
Berndt, Enno, Toyotismus: Hyper-, Post- oder Hybrid-Fordismus? Versuch einer Revision, in: The Ritsumeikan Business Review, May 2009, Vol. XLVIII, Nr.1
MIT news: 3 Questions: Steven Spear on Toyota’s troubles
Jürgens, Ulrich, Die japanische Produktionsweise und Arbeitsorganisation als Leitbild der Produktionsmodernisierung in der Weltautomobilindustrie, in Soziale Welt – Sonderband 8 – 1992: Zwischen Kulturen? – Die Sozialwissenschaft vor dem Problem des Kulturvergleichs, herausgegeben von Joachim Matthes, S. 305-322
Forschungsvorhaben „Anticipation of Change in the Automotive Industry