Eine Zeitgeschichte der Medien- und Informationsgesellschaften wird sich vor allem mit der Dynamik der Debatten um den Zugang, die Kontrolle und die Verwendung von Daten auseinandersetzen müssen. Die Geschwindigkeit, mit der sich das Internet technisch und inhaltlich entwickelt hat, hinterlässt die politischen Eliten in der Regel hilflos.
Es folgen drei Diskurse, die ebenjene Hilflosigkeit auf der einen und die Dynamik des scheinbar immer noch „neuen“ Mediums auf der anderen Seite zeigen.
Vor wenigen Tagen äußerte sich der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, in einer für die politische Rhetorik in Deutschland ungewohnt kritischen und klaren Sprache zur Exekutive des Informationsfreiheitsgesetzes.
Das Gesetz über die Informationsfreiheit wurde auf Bundesebene im Jahr 2005 verabschiedet und garantiert den Bürger/innen des Landes einen voraussetzungslosen Rechtsanspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen: Unverzüglich sei den Antragsteller/innen eine Auskunftserteilung, Gewährung von Akteneinsicht, Recherche usw. zu ermöglichen. Dem von Ausnahmeregelungen fast erdrückten Gesetz folgte bereits 2006 eine Nachbesserung, die euphorisch als Paradigmenwechsel der Informationspolitik gefeiert wurde: Die Gewährung von Zugang zu behördlichen Informationen sollte fortan zur Regel werden, die Verwehrung die Ausnahme bilden.
Vier Jahre später äußert sich der Bundesbeauftragte für den Datenschutz in dieser Sache: In der Praxis habe man es mit überlangen Verfahren, erheblichen Gebühren und einem Mangel an Transparenz zu tun. In Finanzverwaltungen und Ministerien ist die Zugangsverweigerung die Regel.
Gesetze dieser Art existieren bereits in fünfzig Ländern dieser Welt, in Deutschland jedoch haben Behörden Schwierigkeiten mit der Akzeptanz dieser grunddemokratischen Einrichtung.
Von einer „Kultur der Offenheit“, so Peter Schaar, sei man hierzulande noch weit entfernt.
Auch die am 5. Mai 2010 eingesetzte Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestages will sich dem Thema „Informationsfreiheit“ - hier jedoch im Netz - widmen, denn schließlich sei das Internet „das freiheitlichste und effizienteste Informations- und Kommunikationsmedium der Welt“.
Angesichts der derzeitigen digitalen Weltlage mutet der bundespolitische Aktivismus ein wenig weltfremd an. Die Bemühungen um die Partizipation einer Generation mit größerer Medienkompetenz werden zwar deutlich, sieht man sich die Mitgliederliste der Enquete-Kommission an, dennoch fehlt die Einbindung von Akteuren, die längst mit dem „Netz“ groß geworden sind.
Derzeit prominentestes Beispiel für den globalen Diskurs um das Recht auf Informationen, um den Schutz der Privatsphäre, um Geheimnisverrat und Ausnahmeregelung bietet das Internetportal WikiLeaks. Das so genannte Whistleblowing-Portal WikiLeaks geriet erst vor kurzem in den Fokus einer breiten Öffentlichkeit in Europa: mit der Veröffentlichung eines geheimen Videos aus dem Jahr 2007, welches das Massaker von US-Soldaten an irakischen Zivilisten und Reuters-Journalisten zeigt, wobei das wirklich Erschütternde an diesem Video der hörbare Funkkontakt zwischen schießenden Soldaten und ihren Vorgesetzten ist.
Das, was wir über die Funktionsweise, die Strukturen, die Betreiber des Internetportals in Erfahrung bringen können, beschränkt sich indessen nur auf wenige ungesicherte Fakten – denn eines der wesentlichen Merkmale der WikiLeaks-Aktivisten ist Intransparenz.
So geben die beiden einzig bekannten Sprecher von Wikileaks (Daniel Schmitt und Julian Assange – beides Pseudonyme) die immer gleichen Informationen preis: Die Seite wurde 2006 von chinesischen Dissidenten, von Journalisten, Mathematikern und Technikern gegründet und hat bis heute ca. 1,5 Millionen Dokumente hochgeladen. Dazu gehören Statistiken und Berichte über die desolate und ineffiziente Absicherung und Versorgung Alter und Kranker im Rahmen der deutschen privaten Krankenversicherungen, Dokumente, die Korruptionsfälle in Afrika belegen, E-Mails von Sarah Palin, Richtlinien der US-Armee für das Gefangenenlager in Guantanamo, umstrittene E-Mails britischer Klimaforscher und schließlich ein Report des US-Geheimdienstes aus dem Jahr 2008, in dem über Strategien und Maßnahmen gegen WikiLeaks diskutiert wird.
In Deutschland ist WikiLeaks vor allem durch das bereits genannte, erst kürzlich veröffentlichte Video „Collateral Murder – Iraq“ bekannt geworden. Dem Video vorangestellt wird eine sehr knapp gehaltene Kontextualisierung des Ereignisses. Zwei der ermordeten Zivilisten waren Reuters-Journalisten und werden auf WikiLeaks auch identifiziert. Die Nachrichtenagentur hatte das US-Militär um nähere Angaben zu den Umständen des Todes ihrer Mitarbeiter ersucht. Die Informationen wurden zurückgehalten. Seit der Ausstrahlung des Videos gibt es, zumindest was diesen Fall betrifft, nur noch wenige offene Fragen.
WikiLeaks hat den Anspruch, nicht nur Dokumente ins Netz zu stellen, sondern sie außerdem journalistisch einzuordnen und zudem die Echtheit der Dokumente zu garantieren. Wenn dem Portal ein Dokument zugespielt wird, überprüfen es zunächst so genannte forensische Mitarbeiter auf seine Echtheit und suchen nach möglichen Manipulationen. Danach werden sämtliche Spuren, die auf die Quelle verweisen können, verschleiert. Und schließlich wird das Dokument an ein Team von Spezialisten gegeben (Journalisten, Anwälte, Menschenrechts- und Finanzexperten), die das Dokument inhaltlich prüfen. Im Zweifelsfall werden Nachforschungen angestrengt. So wurden etwa im Zusammenhang mit den Recherchen zum Irak-Video Augenzeugen befragt.
WikiLeaks verfügt über ein großes Netz an Aktivisten: Informatiker, Kryptographieexperten, Fälschungsfachleute, Anwälte. Rechtlichen Beistand erhält das Portal von großen Medienunternehmen, wie Hearst oder Associated Press.
Das Material wird schließlich über Server in mehreren Dutzend Ländern ins Netz gestellt, das heißt, Wikileaks unterliegt weder einem nationalen Pressekodex noch Mediengesetzen eines Landes. Das Portal gilt derzeit als unzensierbar, sowohl technisch als auch juristisch.
Die größten Probleme sehen die Betreiber von Wikileaks jedoch weder in der rechtlichen Absicherung ihrer Inhalte noch in technischen Detailfragen, sondern in ihrer Finanzierung. Allein 200.000 Dollar pro Jahr werden benötigt, um die Server in Gang zu halten, die Bearbeitung beziehungsweise Überprüfung eines Videos wie etwa des Irak-Videos kostete 50.000 Dollar. Für eine Professionalisierung der recht simpel gestalteten Seite benötigte WikiLeaks zusätzlich 400.000 Dollar. Ende 2009 verschwand die Seite für ein paar Monate aus dem Netz – aus Geldmangel.
Daniel Schmitt, einer der Sprecher von WikiLeaks hat sich auf der im April in Berlin veranstalteten Bloggerkonferenz re:publica vorgestellt. Hier wurden die radikaldemokratischen Ideen und Praxen der WikiLeaks-Aktivisten zwar gefeiert, aber auch distanziert und kritisch diskutiert.
Netzrealität und politischer Alltag deuten darauf hin, dass die technische Entwicklung geradezu dazu auffordert, erstens zu evaluieren, wer die derzeitigen Kompetenzträger im Bereich der neuen Medien sind, und diese zweitens in die Politik mit einzubinden. Ein Besuch der re:publica im Berliner Friedrichstadtpalast wäre hier hilfreich gewesen.
Links zum Thema:
Tätigkeitsbericht zur Informationsfreiheit für die Jahre 2008 und 2009 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit
http://www.informationsfreiheitsgesetz.net/blog/wp-content/uploads/2010/05/2TB08_09.pdf
Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Internet und digitale Gesellschaft“
http://www.bundestag.de/internetenquete/index.jsp
Whistleblower Netzwerk e.V.
http://www.whistleblower-netzwerk.de/blog/
re:publica 2010 vom 14. – 16. April in Berlin
http://re-publica.de/10/konferenz/
Wikileaks
http://wikileaks.org/
Transparancy International. Deutschland e.V.
http://www.transparency.de/UEber-uns.44.0.html
International Chamber of Commerce
ICC Guidelines on Whistleblowing
Prepared by the ICC Commission on Anti-Corruption:
http://www.icc-deutschland.de/fileadmin/ICC_Dokumente/GuideICCWhistleblowing.pdf