von Alina Müller

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21. Juni 2022

‚Nelly & Nadine‘ ist der letzte Teil einer Doku-Trilogie von Regisseur Magnus Gertten, die den Film Vittnesbördet (Schweden, 1945)[1] als Ausgangspunkt nimmt. Der 22-minütige Streifen hält die im April 1945 geglückte Rettungsaktion der Weißen Busse des Schwedischen Roten Kreuzes und die Ankunft befreiter Häftlinge aus nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern im Hafen von Malmö audiovisuell fest. 2020 wurde der unter der Regie von Nils Jerring produzierte Film als Teil des nationalen Filmerbes vom Schwedischen Filminstitut und der Schwedischen Nationalbibliothek digital restauriert und online frei zur Verfügung gestellt. Die Aufnahmen halten die ersten Schritte der Häftlinge in Freiheit außerhalb der Lager fest. Der Archivfilm taucht in allen drei Filmen von Gertten in ähnlicher Art und Weise auf.

Rebecca Wegmann hat sich in ihrem Text „Rückkehr zur Ankunft“ bereits eingänglich mit den drei Filmen und ihrem filmästhetischen Spannungsverhältnis zwischen Zeitzeug:innen und dem Archivfilm beschäftigt. Das ursprüngliche Ziel des Regisseurs, der in der Trilogie eher am Rande als fragendes-Ich auftaucht, war es, auf Grundlage des Archivfilms am Hafen von Malmö möglichst vielen Gesichtern einen Namen und eine Identität zurückzugeben. In den beiden ersten Filmen lernen die Zuschauer*innen bereits mehrfach das Gesicht von Nadine Hwang kennen, eine Protagonistin des dritten Teils ‚Nelly & Nadine‘. Gertten ist schon früh fasziniert von der Ausdrucksstärke der Überlebenden. Im letzten Film ‚Nelly & Nadine‘ findet er die Gelegenheit, Nadine Hwangs Lebensgeschichte in Spielfilmlänge zu erzählen. Der ihr gewidmete Teil beginnt mit der Frage, welche Überlebensgeschichte sich hinter ihrem Gesicht verbirgt und was sie in diesem Moment der Befreiung am Hafen von Malmö denkt.

 

Reise in die Vergangenheit

Der Filmemacher Magnus Gertten begleitet die Enkelin von Nelly Mousset-Vos, Sylvie Bianchi, dabei, wie sie den Spuren der Vergangenheit ihrer 1987 verstorbenen Großmutter folgt. Diese ist mit einer ganzen Kiste von Überresten in Form von Tagebüchern, Super 8 Filmen und Fotos konfrontiert, die sie, wie sie sagt, lange nicht angerührt hat. Jetzt sei es allerdings ihre Aufgabe. Bei den Zuschauer*innen bleit den Film über der Eindruck bestehen, dass diese Aufgabe eine Bürde bleibt. Ob sie ihre Familiengeschichte auch ohne den Anstoß zur Dokumentation aufgearbeitet hätte, bleibt ungewiss. Im Nachlass der Großmutter findet Sylvie Tagebucheinträge aus der Zeit des Lagers und Briefwechsel aus der Zeit danach. Bruchstücke dieser Tagebucheinträge und Korrespondenzen werden aus dem Off von den Schauspielerinnen Anne Coesens (Nelly) und Bwanga Pilipili (Nadine) vorgelesen.

Die Großmutter von Sylvie, so erfahren die Zuschauer*innen nach und nach, war eine belgische Sängerin, die wegen Spionage als politischer Häftling ab 1944 erst in Ravensbrück inhaftiert war und später nach Mauthausen deportiert wurde. In Ravensbrück traf sie Nadine Hwang. Die Tochter eines chinesischen Diplomaten und einer belgischen Mutter, eine studierte Anwältin, war seit Mai 1944 in Ravensbrück inhaftiert. Höchstwahrscheinlich, weil sie während des Krieges Menschen zur Flucht über die Pyrenäen verholfen hatte. Nelly und Nadine bauten im Lager Ravensbrück eine romantische Beziehung zueinander auf, was aus den vorgelesenen prägnanten Passagen aus Tagebüchern und Briefen hervorgeht. Immer wieder werden in den genannten schriftlichen Überlieferungen die Gefühle zueinander ausgedrückt, besonders in dem Zeitraum, in dem die beiden getrennt voneinander sind, Nelly in Mauthausen, Nadine nach wie vor in Ravensbrück: „Nadine, will there be a life for us“?  Beide überleben und treffen sich Ende der 40er Jahre in Paris wieder und beschließen 1950 gemeinsam nach Caracas, Venezuela, zu ziehen. Dort leben bis zu Nadines Tod zusammen.

Nadine Hwang (links) und Nelly Mousset-Vos (rechts) mit Champagner in Caracas, Photographer: Unknown, Archive image: The Mousset-Vos Family Archive, © Auto Images

Dass die beiden ein Paar waren, ist der Enkelin vielleicht im Unterbewusstsein schon immer klar gewesen. Dennoch ist der Weg ihres Realisationsprozesses grundlegender Handlungsstrang des Films. Die Amateurfilme, die Nadine von Nelly in Caracas aufnahm, und auf die Sylvie vor Gerttens laufender Kamera reagiert (hier finden sich Parallelen zur visuellen Gestaltung der anderen Filme Gerttens), zeigen ihr bisher unbeachtete Inneneinsichten in die Beziehung ihrer Großmutter und deren Lebensgefährtin. Die privaten Filme ihrer Großmutter verbergen in sich die Liebesbeziehung der beiden Frauen. Visuell ist die Liebesbeziehung weniger evident. Vielmehr sind es kleine subtile Gesten, die Hand auf der Schulter der anderen, die den ahnenden Zuschauer*innen die innige Zuneigung zueinander andeuten. Die Zuschauer*innen blicken in einem Moment wie mit Nadines Augen auf Nelly und können die zwischenmenschliche Beziehung nur dann erkennen, wenn sie auf kleine Details, Gesten und Mimik genau achten. Kein Kuss, keine innige Umarmung, aber liebevoller Körperkontakt sind zu sehen. Für das, wofür es in der Familie nie Worte gab, gibt es zumindest bewegte Bilder. Insbesondere die Filme, die in der Wohnung der beiden in Caracas aufgenommen wurden, zeigen Einblicke ins Private. Sylvie erzählt in diesem Zusammenhang, dass das Paar immer wieder Besuch hatte und ihre Freundschaften pflegte. Zwei Freunde, die auf den Filmen zu sehen sind, haben eine ähnliche Intimität wie Nelly und Nadine. Auch hier können Zuschauer*innen Zuneigung erahnen, welche die Tochter des einen Freundes Sylvie kurz darauf im Filmgespräch bestätigt. Der Vater führte ein Doppelleben und fühlte sich wohl in der Wohnung in Caracas, in Gesellschaft von Nadine und Nelly sicher genug, versteckte Zärtlichkeiten vor der Kamera zu zeigen. Für alle vier blieb der Rückzug ins Private oder gar ins Geheime die einzige Option, die eigene Sexualität auszuleben.

Im Filmgespräch mit Wissenschaftlerin Joan Schenker über das Vorkriegsleben Nadines, in dem die Expertin eindringlich nachfragt, warum die Beziehung zwischen Nelly & Nadine erst jetzt ans Licht komme bzw. warum in der Familie nie darüber gesprochen wurde, wird Sylvie final mit ihrer Blindheit und dem weißen Fleck ihrer Familiengeschichte konfrontiert. In diesem für Sylvie sichtbar emotionalen Moment wird deutlich, wie schambehaftet die gleichgeschlechtliche Beziehung der beiden innerhalb der eigenen Familie war und immer noch ist. Erschwerend kam hinzu, dass die Tochter von Nelly, Sylvies Mutter, Nadine nie akzeptierte, was die Möglichkeit für eine offene Umgangsweise sicher hinderte. Gleichzeitig macht die Wissenschaftlerin der Enkelin und den Zuschauer*innen klar, dass die Scham und Stigmatisierung, die sich im (Ver-)Schweigen ausdrücken und somit queere Geschichte unsichtbar machen, in der Gesellschaft immer noch vorherrschend sind und das Verhalten der Familie struktureller Natur ist. Schenker bringt dieses Problem mit dem treffenden Satz auf den Punkt: „Nothing is real, socially, until it’s expressed.“ Der Salon, dem Nadine Hwang beispielsweise vor dem Krieg in Paris angehörte, weil sie für dessen Gründerin Natalie Barney arbeitete und darüber hinaus deren Geliebte war, ist im Pariser Stadtbild in keiner Weise markiert. In den letzten Jahren ist in Bezug auf queere Perspektiven in den Geschichtswissenschaften einiges in Bewegung geraten, die sich daraus ergebenden Fragestellungen halten, wenn überhaupt jedoch nur langsam Einzug in die Universitäten.[2] Gemeinnützige und außeruniversitäre Projekte, wie etwa der Queer History Month oder auch Der Spinnboden Lesbenarchiv & Bibliothek e.V. in Berlin, die von öffentlichen Geldern finanziert werden und dabei immer wieder die Vermittlung von Wissenschaft mitdenken, kämpfen jedes Jahr aufs Neue um verlängerte Förderungen.

 

Homosexualität und Holocaust – Forschung & Gedenken

Dass Geschichten von lesbischen Frauen, insbesondere aus Konzentrationslagern, gefunden und erzählt werden, ist nicht selbstverständlich, es sind oft Zufallsfunde. Wie in Nelly und Nadines Geschichte klar wird, hängt dies mit der fortlaufenden gesellschaftlichen Diskriminierung von (weiblicher) Homosexualität(en) zusammen, von denen auch die Geschichtswissenschaften nicht verschont bleibt. Anna Hájková, die selbst sehr viel zum Thema queere Geschichte im Holocaust forscht, stellt beispielsweise in Bezug auf Oral History Interviews mit Holocaustüberlebenden fest, dass ihrer Kenntnis nach „keine Interviews [erhalten sind], in denen die Überlebenden über eigenes queeres Begehren oder Identität berichten. Dabei wurden auch queere Menschen interviewt, aber ich gehe davon aus, dass die etablierten homophoben Rahmenmuster die Formulierung der eigenen queeren Erfahrung unmöglich machten.“[3] Da zur Zeit des Nationalsozialismus weibliche Homosexualität nicht strafrechtlich verfolgt wurde, im Unterschied zu homosexuellen Männern, und es dafür keine eigene Häftlingskategorie gab, gibt es heute wenig bis keine überlieferten Quellen. Nicht alle Diskriminierungsformen brachten archivalische Quellen hervor. Diese Kombination aus fehlenden Überlieferungen und der fortlaufenden Diskriminierung in der Nachkriegsgesellschaft macht die Suche nach lesbischen Überlebensgeschichten oder auch die von trans*Personen umso schwerer. Diese Situation erfordert zunächst einmal, die Intersektionalität von Verfolgungskontexten anzuerkennen. Und wie im Fall von Nelly und Nadine, das Hinterfragen und genaue detaillierte Hinsehen, um zu „durchschauen“.

Zu diesem Umstand gehört, dass vieles von dem, was wir über weibliche Homosexualität in Konzentrationslagern wissen, bisher aus Überlebendenberichten heterosexueller Frauen stammt.[4] Hierfür stellt die ehemalige Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück, Insa Eschebach, jedoch fest, dass die Realgeschichte weiblicher Homosexualität im Lager dabei auf der Strecke bleibt. In den Erinnerungen kommen fast ausschließlich homophobe Konstruktionen zur Sprache, die, wie Eschebach zeigt, etwa dazu verwendet wurden, um soziale Unterschiede und moralische Überlegenheit anzudeuten.[5]

Sylvie Bianchi, Photographer: Caroline Troedsson, © Auto Images

Ganz am Ende der Doku ‚Nelly & Nadine‘ gibt es eine Art Wendepunkt, die die vorangegangene Erzählung eigentlich quellenkritisch auf den Prüfstand stellt. Der Enkelin Sylvie fällt bei der Durchsicht der Dokumente nach einiger Zeit auf, dass noch handgeschriebene Notizen aus dem Lager existieren. Bisher hatte sie eine auf Schreibmaschine getippte Version des Tagebuchs zur Hand. Die Zuschauer*innen erfahren, dass Nelly und Nadine ungefähr in den 1950er Jahren beschlossen, ihre Notizen und Aufzeichnungen gemeinsam publikationsreif zu bearbeiten. Sie wollten ihre Liebes- und Überlebensgeschichte aus Ravensbrück der (Welt-)Öffentlichkeit erzählen. Zeitlich hätte das mit den Anfängen internationaler Publikationen von Überlebendenberichten und Selbstzeugnissen korreliert. Das Manuskript wurde jedoch abgelehnt. Dies gibt dem Film gegen Ende eine Art zusätzliche Legitimation und Dramatik, die dieser eigentlich nicht nötig hat. Dennoch ist die Einordnung wichtig und interessant denn sie hat das Potential, die bisher bekannten Berichte über (weibliche) Homosexualität, Liebe und Zuneigung aus den Lagern, um wichtige Perspektiven zu ergänzen, von denen wir in Zukunft noch viel mehr brauchen.

 

Ungefähr 40 Jahre sind seit der ersten Spurensuche nach lesbischen Frauen im KZ Ravensbrück vergangen. Erst kürzlich, im Mai 2022, wurde im Rahmen einer Feierstunde ein Gedenkzeichen für die lesbischen Frauen in der KZ-Gedenkstätte eingeweiht.[6] Diese Meldung liest sich wie eine von vielen über neue Gedenksteine, begangene Jahrestage und Gedenkfeiern im Zeichen der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Vorausgegangen sind der Veranstaltung jedoch eine Reihe von langjährigen Diskussionen und Kämpfen um die Anerkennung von Lesben als Verfolgte des NS-Regimes.[7] Die Meldung ist also, wie die fortwährende Stigmatisierung lesbischer Lebensgeschichten im Film ‚Nelly & Nadine‘ gezeigt hat, durchaus ein besonderes Zeichen.

 

 

Nelly & Nadine, Magnus Gertten mit Nelly Mousset-Vos, Nadine Hwang, Sylvie Bianchi, Anne Coesens, Bwanga Pilipi, Schweden/Belgien/Norwegen 2022, 92'

Kinostart am 24. November 2022

 


[1] Nils Jerring: Vittnesbördet (Schweden, 1945), vom Schwedischen Filminstitut 2020 digital restaurierte Fassung. 
[2] Als Beispiel: Kooperationsprojekt zwischen Prof. Dr. Patzel-Mattern (Universität Heidelberg, Historisches Seminar), Prof. Dr. Karen Nolte (Universität Heidelberg, Medizingeschichte) und  Prof. Dr. Sylvia Paletschek (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Historisches Seminar): „Alleinstehende Frauen“, „Freundinnen“, „Frauenliebende Frauen“ – Lesbische Lebenswelten im deutschen Südwesten (ca. 1920er-1970er Jahre).
[3] Anna Hájková: Queere Geschichte und der Holocaust, in: Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb, 14.09.2018 [17.06.2022].
[4] Siehe die Studien von Kerstin Meier: ‚Es war verpönt, aber das gab’s‘. Die Darstellung weiblicher Homosexualität in Autobiographien von weiblichen Überlebenden aus Ravensbrück und Auschwitz; Claudia Schoppmann: Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität, Pfaffenweiler 1991 (u.a.); Ulrike Janz: Zeugnisse überlebender Frauen. Die Wahrnehmung von Lesben/lesbischem Verhalten in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, in: FRAZ 2 (1994), S. 21-25, 48-50 sowie FRAZ 3 (1994), S. 20-23, 40-41 sowie FRAZ 1 (1995), S. 48-51.
[5] Vgl. Insa Eschebach: Homophobie, Devianz und weibliche Homosexualität im Konzentrationslager Ravensbrück, in: Dies. (Hrsg.): Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Berlin 2012, S. 65-77.
[6] Anna Hájková: Langer Kampf um Anerkennung. Das verspätete Gedenken an lesbische NS Opfer, in: Der Tagesspiegel 30.04.2022 [17.06.2022].
[7] Siehe dazu die Masterarbeit von Ina Glaremin: ‘Mindere Vergangenheit‘? Die Debatte um die Gedenkkugel für lesbische Frauen* in der Gedenkstätte Ravensbrück, TU Berlin 2021.