von Klaus Weinhauer

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12. September 2017

Der Linksterrorismus und damit auch die Rote Armee Fraktion (RAF) sind seit dem frühen 21. Jahrhundert Bestandteil der professionellen sozial- und kulturhistorischen Forschung. Durch das Ende des Kalten Kriegs sowie durch den Zerfall der Sowjetunion hatten die bis dahin prägenden Wissenssysteme mit ihren Deutungsmustern politischer Gewalt vor allem in Westeuropa und in den USA an Erklärungskraft verloren. Neue Fragen und Forschungsansätze wurden entwickelt.[1] Die so entstandene geschichtswissenschaftliche Terrorismusforschung bemüht sich um kritische Reflexion von Kernbegriffen, sucht nach angemessenen Untersuchungskonzepten, rückt aber vor allem das Verhältnis von Staat, Mediengesellschaft sowie militanten AkteurInnen ins Zentrum und historisiert den Linksterrorismus der 1970/80er Jahre.

Viele dieser geschichtswissenschaftlichen Studien nutzen, erstens, die Arbeitsdefinition von Terrorismus als „planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund. Sie sollen allgemeine Unsicherheit und Schrecken, daneben auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen“.[2] Gleichzeitig hat sich konzeptionell der Ansatz durchgesetzt, die politische Gewalt des Terrorismus vor allem als Kommunikationsakt zu verstehen, zu dem sich dann andere AkteurInnen positionieren und somit eine Anschlusskommunikation erfolgt. Dieser Ansatz ermöglicht die sozial- und kulturgeschichtliche Entschlüsselung der komplexen kommunikativen Anliegen und Verflechtungen terroristischer Anschläge.

Zweitens zeigen diese Forschungen, wie wichtig es ist, die Analyse nicht auf die Gewaltanschläge militanter Akteure zu reduzieren, sondern das Verhältnis von Staat, Mediengesellschaft und militanten AktivistInnen in den Blick zu nehmen. Zum einen besitzt der – wie auch immer definierte - Staat eine Schlüsselrolle unter den kommunikativen Adressaten eines terroristischen Anschlags.[3] Während andere Zielgruppen terroristischer Kommunikationsakte entscheiden können, ob sie aktiv werden, ist der Staat gleichsam gezwungen zu reagieren: Denn ein terroristischer Anschlag fordert das staatliche Gewaltmonopol (wenn es denn existiert) in so offener und provokanter Weise heraus, dass staatliche AkteurInnen reagieren müssen. Zum anderen liegt es in der Logik der Mediengesellschaft, dass dieses staatliche Handeln seinerseits in der Öffentlichkeit breit dargestellt und debattiert wird. Somit reicht das von einem terroristischen Anschlag ausgehende „agenda setting“ weit über die ersten Schlagzeilen und Bilder hinaus. Damit wird der Zusammenhang des Terrorismus nicht nur mit „den Medien“, sondern mit der Mediengesellschaft deutlich.[4] Eine Mediengesellschaft ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass mediale und gesellschaftliche Prozesse eng miteinander verwoben sind. Die Medien fungieren dabei nicht nur als Transmitter von Botschaften. Vielmehr werden in den Medien sowohl die terroristischen Gewaltakte als auch das Handeln des Staates dargestellt, interpretiert und diskutiert.

Drittens hat die historische Forschung den Linksterrorismus der 1970er bis 1980/90er Jahre inzwischen in ein Modell fünf überlappender Phasen politischer Gewalt seit dem 19. Jahrhundert eingeordnet. Diese Einteilung orientiert sich vor allem an den Aktivitäten von Staat, Mediengesellschaft und militanten AktivistInnen sowie an deren Verflechtungen.[5]

Noch immer gibt es viel versprechende Forschungsfelder und methodische Erweiterungsmöglichkeiten. Vor allem fehlen (geschichtswissenschaftliche) Studien, die unter Genderaspekten die Interaktion von Staat, Mediengesellschaft und militanten AktivistInnen untersuchen.[6] Auch die Erklärungskraft der Frage nach performativen Aspekten von Terrorismus[7] und von dessen Bekämpfung sowie das Potential des Milieukonzepts[8] sind noch lange nicht ausgeschöpft. Vergleichende und transnationale Publikationen zum Terrorismus liegen inzwischen zwar vor, jedoch besteht vor allem unter transnationaler Perspektive noch großer Forschungsbedarf.[9] Ähnliches gilt für Studien über die Wandlungen des erinnerungskulturellen Umgangs mit dem Linksterrorismus und mit dessen Bekämpfung.[10] Genauer zu untersuchen bleibt vor allem die Erosion politisch polarisierter dichotomischer Erinnerungsmuster (Gesellschaft vs. Staat) an den Terrorismus und dessen Bekämpfung. Diese Veränderung kündigte sich Ende des 20. Jahrhunderts an und war – national wie international - eng verknüpft mit der Stärkung der Stimme der Opfer politischer Gewalt.[11] Zudem sollte zukünftig konzeptionell stärker berücksichtigt werden, dass terroristische Anschläge überwiegend in urbanen Settings verübt werden. Was heißt dies für die kommunikativen Interaktionen, welche Rolle spielen räumliche Aspekte? Die Untersuchung rechtsradikaler Gewalt, ihrer Subkulturen und Milieus sowie das Verhältnis rechter AkteurInnen zum Kommunikationsaspekt ihrer Anschläge bildet ein weiteres lohnendes Forschungsfeld. Zudem wird die zukünftige Forschung zeigen müssen, ob bzw. inwieweit der doch vage und prinzipiell abwertende Begriff Terrorismus, der zudem Staatsterrorismus ausklammert, weiterhin verwendet oder mit dem Terminus politische Gewalt gearbeitet werden sollte.[12]

Zwar sind inzwischen sowohl die bundesdeutsche Geschichte der 1970er und 1980er Jahre als auch einige außerparlamentarische Politikmilieus/Organisationen und soziale Bewegungen recht gut untersucht.[13] Nach wie vor fehlt aber eine all dies integrierende Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit (als Teil der Geschichte der Bundesrepublik).


[1] Überblicke bieten Hürter (2015); Schraut/Weinhauer (2014); Weinhauer/Requate (2012); Hikel/Schraut (2012); Malthaner/Waldmann (2012); Jackson et al. (2010).
[2] Peter Waldmann, Terrorismus. Provokationen der Macht, München 1998, S. 10.
[3] Siehe zu Staat, Antiterrorismus und Justiz die Beiträge von Gisela Diewald-Kerkmann, Johannes Hürter, sowie: Hof (2011).
[4] Siehe den Beitrag von Hanno Balz, sowie: Locher (2013).
[5] Schraut/Weinhauer (2012), Einleitung; Weinhauer/Requate, Gewalt (2012), Einleitung.
[6] Melzer (2015); Schraut/Weinhauer (2014); Bandhauer-Schöffmann/van Laak (2013); Hikel/Schraut (2012); Bielby (2012); Grisard (2011).
[7] de Graaf (2011); Passmore (2011).
[8] Malthaner/Waldmann (2012); Pekelder (2012).
[9] Hürter (2015); Terhoeven (2014); Metzler (2012); Dahlke (2011); de Graaf (2011); Hürter/Rusconi (2010).
[10] Richter (2014); Baumann (2012).
[11] Schraut/Weinhauer (2014), Einleitung.
[12] Breen-Smyth (2012); Bloxham/Gerwarth (2011).
[13] Friedrichs (2015); Weinhauer (2015); Reichardt (2014); Diewald-Kerkmann/Gilcher-Holtey (2013); Kraushaar (2013); Rigoll (2013); Archiv für Sozialgeschichte (2012); Balz/Friedrichs (2012); Hanshew (2012); März (2012); Rübner (2012); Schiller/Young (2012); Baumann u.a. (2011); Vowinckel (2011); Reichardt/Siegfried (2010); Scheiper (2010).

 

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Wichtige Studien seit 2010:

Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012): Wandel des Politischen. Die Bundesrepublik Deutschland während der 1980er Jahre.

Hanno Balz/Jan-Henrik Friedrichs (Hg.), „All We Ever Wanted…“. Eine Kulturgeschichte europäischer Protestbewegungen der 1980er Jahre, Berlin 2012.

Irene Bandhauer-Schöffmann/Dirk van Laak (Hg.), Der Linksterrorismus der 1970er-Jahre und die Ordnung der Geschlechter, Trier 2013.

Cordia Baumann, Mythos RAF. Literarische und filmische Mythentradierung von Bölls „Katharina Blum“ bis zum „Baader Meinhof Komplex“, Paderborn u.a. 2012.

Imanuel Baumann u.a., Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründergeneration in der frühen Bundesrepublik, Köln 2011.

Claire Bielby, Violent Women. Representations in the West German print media of the 1960s and 1970s, Rochester 2012.

Donald Bloxham/Robert Gerwarth (Hg.), Political Violence in Twentieth-Century Europe, Cambridge u.a. 2011.

Marie Breen-Smyth (Hg.), The Ashgate Research Companion to Political Violence, Farnham u.a. 2012.

Matthias Dahlke, Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus. Drei Wege zur Unnachgiebigkeit in Westeuropa 1972-1975, München 2011.

Gisela Diewald-Kerkmann/Ingrid Gilcher Holtey (Hg.), Zwischen den Fronten. Verteidiger, Richter und Bundesanwälte im Spannungsfeld von Justiz, Politik, APO und RAF, Berlin 2013.

Beatrice de Graaf, Evaluating Counterrorism Performance. A comparative study, Hoboken 2011.

Jan-Henrik Friedrichs, Urban Spaces of Deviance and Rebellion. Youth, squatted houses and the heroin scene in West-Germany and Switzerland in the 1970s and 1980s, erscheint Berghahn Books 2015.

Dominique Grisard, Gendering Terror. Eine Geschlechtergeschichte des Linksterrorismus in der Schweiz, Frankfurt/M. 2011.

Karren Hanshew, Terror and Democracy in West Germany, Cambridge u.a. 2012.

Christine Hikel/Sylvia Schraut (Hg.), Terrorismus und Geschlecht. Politische Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2012.

Tobias Hof, Staat und Terrorismus in Italien 1969-1982, München 2011.

Johannes Hürter (Hg.), Terrorismusbekämpfung in Westeuropa. Demokratie und Sicherheit in den 1970er und 1980er Jahren, München 2015.

Johannes Hürter/Gian Enrico Rusconi (Hg.), Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien 1969-1982, München 2010.

Richard Jackson/Marie Breen-Smyth/Jeroen Gunning (Hg.), Critical Terrorism Studies. A research agenda, London 2010.

Wolfgang Kraushaar, “Wann endlich beginnt bei euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“. München 1970: Über die antisemtischen Wurzeln des deutschen Terrorismus, Reinbek 2013.

Alexandra Locher, Bleierne Jahre. Linksterrorismus in medialen Aushandlungsprozessen in Italien 1970 – 1982, Zürich u.a. 2013.

Stefan Malthaner/Peter Waldmann (Hg.), Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen, Frankfurt/M. 2012.

Michael März, Linker Protest nach dem Deutschen Herbst. Eine Geschichte des linken Spektrums im Schatten des ‚starken Staates‘, 1977-1979, Bielefeld 2012.

Patricia Melzer, Death in the Shape of a Young Girl. Women’s Political Violence in the Red Army Faction, erscheint New York University Press 2015.

Gabriele Metzler, Konfrontation und Kommunikation. Demokratischer Staat und linke Gewalt in der Bundesrepublik und den USA in den 1970er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), 249-278.

Leith Passmore, Ulrike Meinhof and the Red Army Faction. Performing terrorism, New York 2011.

Jacco Pekelder, The RAF and the Left in West Germany: Communication processes between terrorists and their constituency in the early 1970s, in: Weinhauer/Requate 2012, 203-222.

Sven Reichardt; Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014.

Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2010.

Maren Richter, Leben im Ausnahmezustand. Terrorismus und Personenschutz in der Bundesrepublik Deutschland (1970-1993), Frankfurt/M. 2014.

Dominik Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland: Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Göttingen 2013.

Hartmut Rübner, „Die Solidarität organisieren“. Konzepte, Praxis und Resonanz linker Bewegung in Westdeutschland nach 1968, Berlin 2012.

Scheiper, Stephan, Innere Sicherheit. Politische Anti-Terror-Konzepte in der Bundesrepublik Deutschland der 1970er Jahre, Paderborn u.a. 2010.

Kay Schiller/Christopher Young, München 1972. Olympische Spiele im Zeichen des modernen Deutschland, Göttingen 2012.

Sylvia Schraut/Klaus Weinhauer (Hg.), Terrorism, Gender, and History (Special Issue: Historical Social Research 39, 2014, H. 3).

Petra Terhoeven, Deutscher Herbst in Europa. Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales Phänomen. München 2014.

Annette Vowinckel, Flugzeugentführungen. Eine  Kulturgeschichte, Göttingen 2011.

Klaus Weinhauer/Jörg Requate (Hg.), Gewalt ohne Ausweg? Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2012.

Klaus Weinhauer, Terrorism between social movements, the state and media societies, in: Stefan Berger u.a. (Hg.), Global Studies on Social Movements, erscheint Palgrave McMillan 2015.