von Alexander Kraus, Christoph Lorke

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1. Juni 2015

Wohl nur wenige Zeitgenossen teilten im Jahr 1988 Helmut Kohls Optimismus, der ein baldiges Ende der Zweistaatlichkeit prophezeite. Im Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation im geteilten Deutschland betonte er am 1. Dezember im Deutschen Bundestag, sich mit der „Teilung unseres Vaterlandes“ mitnichten abfinden zu wollen: „Die Teilung zu überwinden und bis dahin den Zusammenhalt der Nation zu bewahren“,[1] formulierte er als die beiden wesentlichen Ziele einer „verantwortungsvollen“ Deutschlandpolitik. Der Schriftsteller Patrick Süskind, der nur wenige Jahre zuvor mit Das Parfum einen Weltbestseller veröffentlichte, sollte etwas später eine ganz anders klingende Diagnose der Zweistaatlichkeit formulieren. Sie könnte wohl stellvertretend für das Gros der Bundesdeutschen stehen, die es sich Ende der 1980er Jahre mit dem Rücken zur Mauer ganz behaglich eingerichtet hatten. Süskind zufolge sei 1988 die Welt doch „noch in Ordnung“ gewesen. Die Existenz zweier geteilter deutscher Staaten war gelebte Normalität, ja derart akzeptiert und schon trivialisiert, dass der Nationalfeiertag am 17. Juni – ursprünglich zum Gedenken an den ostdeutschen Arbeiteraufstand begangen – zu einem Segeltörn genutzt wurde.[2]

Östlich der Mauer, wo sich die politische Führung den sowjetischen Entwicklungen um Glasnost und Perestroika hartnäckig widersetzte und stattdessen einen „Sozialismus in den Farben der DDR“ propagierte, wurden die von Bundeskanzler Kohl formulierten Wünsche nach einer Vereinigung beider Deutschlands harsch zurückgewiesen: „Von einer ‚offenen deutschen Frage‘ könne gegenwärtig keine Rede mehr sein“, lautete die apodiktische Ablehnung derartiger Gedankenspiele in einer vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften herausgegebenen Publikation. Wer davon spreche, sei „entweder ein Ignorant oder träumt von der Revision der gegebenen Tatsachen“. Es sei vielmehr geboten, „auf dem Boden der Realitäten zu bleiben“.[3]

Kurz vor der „Implosion“ der zweiten deutschen Diktatur konnten wohl nur die kühnsten Träumer – oder, je nach Perspektive: Zweifler – unter den bundesdeutschen und DDR-Bürgern erahnen, was sich im kommenden Herbst ereignen würde. Wenig verwundert es deshalb, dass 1988 ebenso historiographisch wie auch in der öffentlichen Vergegenwärtigung ein vergessenes Jahr ist.[4] Dies hat nicht zuletzt der im Rahmen des 25-jährigen Jubiläums der „friedlichen Revolution“ initiierte Erinnerungsfuror aufs Neue gezeigt: Die großen Erzählungen laufen zielgerade auf den Fluchtpunkt 1989 hin. Doch spricht einiges dafür, kurz vor dem Zusammenbruch der alten Ordnung einmal Luft zu holen und innezuhalten: Denn 1988 verdichten sich zahlreiche, häufig banal erscheinende, oft unverbundene, jedenfalls heute noch kaum präsente Ereignisse, die jedoch in ihrer Alltäglichkeit für die Mehrheit der west- wie ostdeutschen Zeitgenossinnen und -genossen vermutlich bestimmender waren als beispielsweise Überlegungen zur deutschlandpolitischen Zukunft. Indem wir das Jahr 1988 in seiner Dichte und Ereignishaftigkeit vor Augen führen, wird es möglich, deutsch-deutsche Kontraste und Verflechtungen einmal aus einer ganz anderen Perspektive zu konturieren.

Methodisch knüpfen wir damit an verschiedene theoretische Überlegungen zur deutsch-deutschen Geschichtsschreibung an, sind doch in den letzten Jahrzehnten wiederholt Versuche unternommen worden, dieses Spannungsgefüge historisch zu fassen. Die nunmehr vor über 20 Jahren von Christoph Kleßmann zum methodischen Ziel erhobene „asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte“[5] ist in der Zwischenzeit mannigfach diskutiert und erweitert worden. Als größte Herausforderung wurde dabei immer wieder die „fundamentale Gegensätzlichkeit“ zwischen Demokratie und Diktatur ausgemacht. Diese Problematik könne Horst Möller zufolge allenfalls durch „phasenbeschränkte Themen“ mit „relativer Systemunabhängigkeit“ umgangen werden.[6] Vergleichbar argumentierte auch Konrad H. Jarausch, der für eine solche „themenbezogene Parallelgeschichte“ den Aspekt der Kontrastierung als entscheidenden Vorteil hervorhob sowie die Möglichkeit, insbesondere die letzten Jahre der Teilung eben nicht-teleologisch zu fassen, sondern sie stattdessen in ihrer gesamten Offenheit betrachten zu können.[7] Für Andreas Wirsching wiederum könne eine gemeinsame, wenn auch weiterhin asymmetrische deutsche Nachkriegsgeschichte nur dann gelingen, wenn eine „größtmögliche Vielzahl von Einsichten“ dargeboten werde.[8]

Auch Vorbilder, ein einziges Jahr facettenreich zu erzählen, liegen vor: Hans Ulrich Gumbrecht hatte bereits kurz vor der Jahrtausendwende als Antwort auf das vermeintliche Verblassen der großen Erzählungen den Versuch unternommen, seinen Leserinnen und Lesern anhand 34 nicht-hierarchisierter „Dispositive“ wie beispielsweise „Fahrstuhl“, „Grammophon“, „Ozeandampfer“ oder „Sechstagerennen“ das Gefühl zu vermitteln, sich direkt im Jahr 1926: Ein Jahr am Rand der Zeit zu bewegen. Sein Buch stellte explizit keinen Interpretationsversuch der Welten des Jahres 1926 dar. Vielmehr sollte über eine „größtmögliche Unmittelbarkeit“ allein die „historische Umwelt präsent gemacht werden“.[9] Sein Ansatz einer alternativen, synchronen Geschichtsschreibung wurde seinerzeit als ein ebenso atmosphärisches wie innovatives Experiment gefeiert.[10] Jünger noch ist das semi-fiktive, stärker auf individuelle, ja sehr intime Perspektiven ausgerichtete 1913 von Florian Illies,[11] der sich mit seinem „Teaser“[12] dem Jahr vor dem eigentlichen Epochenjahr widmet. Die Ruhe vor dem Sturm vermittels belangloser Alltäglichkeiten einzufangen, das Unwissen ob des Kommenden aus Sicht bekannter Zeitgenossen und ihrer meist kleineren Probleme zu schildern und damit ein Jahr, das eben „nicht zu den großen, bekannten, abfragbaren gehört, sondern zu den versteckten, zurückgezogenen“,[13] für ein größeres Publikum zu popularisieren – durch diesen innovativen Kniff avancierte 1913 zu einem der größten kommerziellen Bucherfolge des Jahres 2012.

Ganz ähnlich ist auch unser Projekt für das Jahr 1988 konzipiert. Die Texte des Themenschwerpunktes Unbekanntes 1988. Deutsch-deutsche Perspektiven auf das „Jahr davor“ sind im Rahmen einer Übung des "Schreiblabors Geschichte" entstanden. Die Übung fand im Wintersemester 2013/14 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster statt und wollte dieses Jahr in den Fokus nehmen. Für die Zusammenschau deutscher Doppelgeschichte war es wichtig, möglichst unbekannte, von Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit kaum berücksichtigte Themenfelder zu beleuchten, um dadurch den Versuchungen teleologischer Narrative zu widerstehen. Wir versprechen uns davon ein differenzierteres Hervortreten der Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider deutscher Staaten:

1989 wurde der „Eiserne Vorhang“ zunächst an ersten Stellen durchbrochen, ehe er sich kontinuierlich und in immer schnellerem Tempo aufzulösen begann. 1988 war davon noch wenig zu bemerken – im Gegenteil. Sowohl der Konflikt im Nahen Osten als auch der Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan veranschaulichen die weltpolitische Dimension des Jahres, die auf eine der letzten heißen Phasen des Kalten Krieges verweist.[14] Von weltpolitischer Bedeutung waren zudem die Proklamation der Unabhängigkeit Palästinas sowie die ihr vorausgehende erste Intifada, die in beiden deutschen Staaten zwar unterschiedlich, doch hier wie dort rege kommentiert wurden. Die Entwicklungen dienten nicht zuletzt auch dazu, das schwierige Verhältnis zur eigenen Vergangenheit zu illustrieren.[15] Doch sahen sich Bundesrepublik und DDR 1988 darüber hinaus noch mit ganz anderen Problemen konfrontiert, wenn auch nicht auf politisch-diplomatischer Ebene, sondern auf dem Feld der Gesundheitsfürsorge beziehungsweise der Suchtprävention: Erlebte Westdeutschland einen vorläufigen Höhepunkt des Missbrauchs illegaler Drogen[16], so war das Problem der Alkoholsucht in der DDR schwer zu tabuisieren.[17] Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Medien suchten hüben wie drüben nach Lösungsstrategien, dieser Entwicklungen Herr zu werden.

1988 war mit den Olympischen Spielen in Calgary und Seoul sowie der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland unzweifelhaft auch ein wichtiges Sportjahr. Neben diesen Großveranstaltungen brachte das Jahr auch den sportlichen Durchbruch zweier Boxer, die gegensätzlicher nicht hätten sein können und deren Wege sich immer wieder kreuzen sollten: Der „Gentleman“ Henry Maske errang Olympia-Gold[18]; der West-Berliner Graciano Roccigiani, dessen „Rüpel“-Image von ihm selbst gepflegt und in den bundesdeutschen Medien regelrecht kultiviert wurde, wurde Weltmeister.[19]

Rockmusik erreichte in beiden deutschen Staaten im Sommer des Jahres ‘88 einen vorläufigen Höhepunkt. Ohnehin nicht den besten Ruf genießend, bestätigten die Ausschreitungen im Rahmen des „Monsters of Rock“ in Schweinfurt das negative Image der Rock- beziehungsweise Metal-Szene.[20] Weitaus friedlicher – nicht zuletzt, da propagandistisch geschickt inszeniert und akribisch vorbereitet – geriet das größte Rockkonzert der DDR-Geschichte, bei dem Bruce Springsteen in Berlin-Weißensee geschätzte 200.000 DDR-Bürger begeisterte – was ganz nebenbei den größten Stau der DDR-Geschichte verursachte.[21] Doch auch andere Formen der Kunst errangen große Aufmerksamkeit: Siegfried Lenz, Christa Wolf, die Leipziger und Frankfurter Buchmessen, nicht zuletzt der Start einer epochemachenden Literatursendung im TV – die Literatur des Jahres zeigt, dass deutsch-deutsche Verflechtungen auf ganz verschiedenen Ebenen zustande kamen und bis zum Ende der Zweistaatlichkeit stets präsent waren.[22] Die hier vorgestellte Umschau zeigt: Wer 1989/90 nur als politik- und wirtschaftsgeschichtliche Zäsur begreift, vermag die vielen fließenden Übergänge ebenso wenig zu verstehen, wie die Prozesse der Nähe und Entfremdung in den Jahren davor.

 

[1]     „1. Dezember 1988: Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation im geteilten Deutschland in der 113. Sitzung des Deutschen Bundestages“, in: Internetpräsenz von Helmut Kohl (Konrad Adenauer Stiftung).
[2]     Patrick Süskind, „Deutschland, eine Midlife-Crisis“, in: Ulrich Wickert (Hg.), Angst vor Deutschland. Hamburg 1990, S. 111–122.
[3]     Joachim Heise/Jürgen Hofmann, Fragen an die Geschichte der DDR. 2. Aufl. Berlin 1988, S. 167–169.
[4]     Alexander Kraus/Christoph Lorke, „Vor dem Aufbruch. 1988 als vergessenes Jahr“, in: APuZ, Jg. 64 (2014), H. 24–26, S. 40–46.
[5]     Christoph Kleßmann, „Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte“, in: APuZ, Jg. 43 (1993), H. 29–30, S. 30–41.
[6]     Horst Möller, „Demokratie und Diktatur“, APuZ, Jg. 57 (2007), H. 3, S. 3–7.
[7]    Konrad H. Jarausch, „,Die Teile als Ganzes erkennen.‘ Zur Integration der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, Jg. 1 (2004), H. 1.
[8]     Andreas Wirsching, „Für eine pragmatische Zeitgeschichtsforschung“, in: APuZ, Jg. 57 (2007), H. 3, S. 13–18.
[9]     Hans Ulrich Gumbrecht, 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit. Frankfurt am Main 2003 [engl. Original 1997], S. 8f.
[10]    Beispielsweise Thomas Wirz, „Schwermut war es, nicht die scharfglänzende Schminke“, in: FAZ, vom 20. März 2001. Fritz Göttler feierte es in der Süddeutschen Zeitung als einen „intellektuellen Erlebnispark“. Fritz Göttler, „Drinsein ist alles. In Geschichte schwelgen – Hans Ulrich Gumbrecht und 1926“, in: Süddeutsche Zeitung, vom 7. April 2001, S. 6.
[11]    Florian Illies, 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2012.
[12]    Gustav Seibt, „Am Vorabend der Katastrophe“, in: SZ, vom 25. Oktober 2012.
[13]    Mara Delius, „Florian Illies reist ins Jahr 1913 zurück“, in: Die Welt, vom 22. Juni 2012. Beispiele für geschichtswissenschaftliche Annäherungen an einzelne Jahre sind etwa Frank Bösch, „Umbrüche in die Gegenwart. Globale Ereignisse und Krisenreaktionen um 1979“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, Jg. 9 (2012), H. 1; Georg Schild, 1983. Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges. Paderborn 2013; Robert Lorenz/Franz Walter (Hg.), 1964? Das Jahr, mit dem „68“ begann. Bielefeld 2014; Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München 2014, S. 1091–1136.
[14] Siehe dazu den Text von: Henning Bovenkerk/Felix Gräfenberg: Der Anfang vom Ende des Kalten Krieges. Die UdSSR in Afghanistan und die USA am Golf auf Zeitgeschichte-Online.
[15] Dazu die beiden „Palästina“-Texte von Fabian Köster und Dennis Krause.
[16] Zum Drogenmißbrauch in Westdeutschland: Axel Timmermann.
[17] Anne Kluger, Vom „Teufel Alkohol“ in der DDR.
[18] Jan Wille, Boxen im geteilten Deutschland – 1988
[19] Lukas Lischeid, Weltmeistertitel 1988 für den Boxer mit dem Rabauken-Image.
[20] Tano Gerke, Popularisierung von Hard-Rock-Musik in der Bundesrepublik – Monsters of Rock.
[21] Christian Bornemann, Radau im Plattenbau – Bruce Springsteen in Ost-Berlin.
[22] Simon Krause, Das Literaturjahr 1988 in der Bundesrepublik und Jan Philipp Engelmann, Das Literaturjahr 1988 in der DDR.