Spiele – so stellte der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga bereits 1938 fest – sind Ausdruck der menschlichen Fähigkeit, die Wirklichkeit spielerisch nachzubilden und kritisch zu reflektieren. Sie sind somit integrale Bestandteile gesellschaftlicher Sinnsuche.[1] Es überrascht daher, dass die (akademische) Geschichtswissenschaft sich Jahrzehnte nach dem Cultural Turn Spielen als Quellengattung bisher kaum geöffnet hat. Während sich die historische Computerspieleforschung bislang vornehmlich auf technische Entwicklungen sowie auf Geschichtsbilder in Videospielen konzentriert hat,[2] jedoch zeithistorische Verortungen häufig ausbleiben, herrscht hinsichtlich Brettspielen eine noch deutlichere Forschungslücke.[3] Gegenüber dem Medium Spiel, dem angesichts hoher Verbreitungszahlen eine große gesellschaftliche, zumal zeithistorische Relevanz zufällt, scheinen ebensolche Vorbehalte seitens der akademischen Geschichtswissenschaft zu bestehen, wie sie jahrelang gegenüber Rundfunk- oder Filmquellen festzustellen waren.[4]
Wie Brett- und Computerspiele für eine geschichtswissenschaftliche Perspektive fruchtbar gemacht werden können, erkundeten wir im Sommersemester 2017 mit Augsburger Studierenden. Thematisch nahm das Projektseminar bewusst den Kalten Krieg und die Systemkonfrontation als Anker, da die Auseinandersetzung der Supermächte bis in die jüngste Gegenwart ein beliebtes Motiv in Spielen darstellt. Bereits zeitgenössisch hatte der Kalte Krieg auch den Bereich der Populärkultur durchdrungen, wie die neuere Forschung klar zeigt.[5] Im Seminar untersuchten wir Spiele aus dem Osten ebenso wie aus dem Westen, Brettspiele ebenso wie Computerspiele, zeitgenössische Spiele aus der Zeit der Blockkonfrontation ebenso wie nach dem politischen Wandel 1989/1991 publizierte, um ein möglichst breites Spektrum abzudecken.[6]
Denn der geschichtswissenschaftliche Quellenwert von Spielen ist ebenso different wie vielfältig. So können Spiele aus den 1970er- und 80er-Jahren als populärkulturelle Quellen für den gesellschaftlichen Umgang mit dem Kalten Krieg und für die Verarbeitung seiner Widersprüchlichkeiten dienen. Dagegen sind die post-1989/1991-Spiele Bestandteil gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse der jüngsten Vergangenheit und tragen zur Ausformung einer bestimmten Erinnerungskultur an die Zeit der Systemkonfrontation bei. Mitunter sind die Spiele zu didaktischen Zwecken aufbereitet oder stellen geschichtspolitische Interventionen dar. Entsprechend facettenreich und beispielhaft sind die hier diskutierten Spiele und die einzelnen Beiträge werfen auch ganz unterschiedliche analytische Perspektiven auf das Thema „Kalte Krieg-Spiele“:
Erstens leuchten sie die wechselnden Grenzen zwischen systemkonformen und widerständigen Spielen aus, die mitunter sogar fließend sein konnten, wie Tobias Meßmer für das eigentlich kriegskritische, in der Rezeption jedoch als kriegsverherrlichend interpretierte Computerspiel Theatre Europe (1985) darlegt. Umgekehrt zeigen Bastian Högg und Niklas Löffler mit Blick auf das militaristische Kriegsspiel Fulda Gap (1977), wie dieses von der westdeutschen Friedensbewegung angeeignet und letztlich umgedeutet wurde. Spiele konnten dabei einerseits den Wettkampfcharakter des Kalten Krieges spiegeln und dessen binäre Codes sowie eine klare Freund vs. Feind-Dichotomie transportieren – wie als Extrembeispiel das Coverbild des Shoot ’em up-Spiels Communist Mutants from Space von 1982 verdeutlicht (Abb. 1), in dem es im Stile des bekannten Space Invaders einen Angriff von kommunistischen Außerirdischen abzuwehren galt. Der tagespolitische Bezug auf die Sowjetunion als dem personifizierten Bösen wurde hier nicht zuletzt durch die Verwendung von Hammer und Sichel hergestellt. Auch die von Vincent Hoyer untersuchte Politiksimulation Geopolitique 1990 (1983) ist Ausdruck eines neuen, auf außenpolitische Stärke abzielenden US-Interventionismus in der Reagan-Ära. Andererseits boten Spiele aber auch eine Plattform zur Artikulation gesellschaftlichen Protests. Im „Ostblock“ entstanden zahlreiche dissidentische Brettspiele, die mitunter in den Fokus der Staatsorgane gerieten, wie etwa der von Christoph Hauptmann und Gabriele Victoria Schaffner vorgestellte Fall des ostdeutschen Spiels Bürokratopoly zeigt, das vor einigen Jahren vom DDR Museum – ergänzt um Lehrmaterialien für den Schulunterricht – neu herausgegeben wurde. Im digitalen Bereich entwickelten polnische Programmierer in der Wendezeit ein Computerspiel mit dem Titel Solidarność (1991), das die Geschichte der oppositionellen Gewerkschaftsbewegung, wie Alexej Amrain und Michael Kratz nachweisen, für ein westliches Publikum nachspielbar machte und diese so gleichermaßen historisierte wie heroisierte. Oppositionelles Spielen war aber kein Alleinstellungsmerkmal der sozialistischen Gesellschaften: So erlaubte es das diese Einleitung illustrierende Brettspiel Klassenkampf (1980) der westdeutschen Öffentlichkeit, die „Diktatur des Kapitals“ zu stürzen und eine „klassenlose Solidargemeinschaft“ zu schaffen.
Zweitens veranschaulichen die Beiträge zum einen die Bedeutung unterschiedlicher nationaler Spielkulturen. Während im Deutschland der 2010er Jahre die Erinnerung an den Kalten Krieg in Form des von Greta Schlenker und Viki Köszegi präsentierten, von einem professionellen Geschichtsspiel-Verlag produzierten Strategiespiels Wir sind das Volk (2014) wachgehalten werden konnte, waren die „Grenzen des Spielbaren“ für die deutsche Politik und Öffentlichkeit im „Mauer-Shooter“ 1378 km (2010) erreicht. So weisen Alexander Jacobs und Philipp Jäger nach, dass das Spiel noch vor seinem Erscheinen eine Welle an Kritik auslöste, in der sich sowohl eine spezifisch deutsche Debatte über Gewalt im Computerspiel spiegelte als auch die erinnerungskulturelle Sensibilität der Berliner Republik. Paula Bunke und Eileen Pohl unterstreichen mittels des vom Institut für Nationales Gedenken in Warschau herausgegebenen polnischen Brettspiels Kolejka [Warteschlange] (2011), das einen spezifischen, ironisierenden Blick auf die eigene Vergangenheit liefert, wie Spiele auch als geschichtspolitische Vehikel fungieren können.
Zugleich zeigen sich aber zum anderen mediale, mitunter transnationale Transfers. Spielmodelle wie Monopoly oder Mensch ärgere Dich nicht zirkulierten sogar blockübergreifend und waren vielfältig adaptierbar. So war, wie Tanja Schauer und Lisa Vidotto belegen, der Monopoly-Klon Bunul Gospodar [ Der gute Wirtschafter] (1980), in dem speziell SchülerInnen konsumsozialistische Praktiken vermittelt werden sollten, Ausdruck des rumänischen Nationalkommunismus. Und in dem unmittelbar nach der Wende entwickelten satirischen Brettspiel Soudruhu, nezlob se! [ Genosse, Ärgere Dich Nicht!], einer tschechischen Variation des deutschen Brettspiel-Klassikers, dient der Argumentation von Charlotte Mellentin und Felix Spichal zufolge dem Humor der Vergangenheitsbewältigung.
In diesem Zusammenhang offenbaren die Beiträge drittens, wie reizvoll die Mischung aus Faktizität und Kontrafaktischem in Kalten Krieg-Spielen ist. Das von Felix Kandler und Marius Plach diskutierte Crisis in the Cremlin (1991/2017) simuliert etwa alternative Zukünfte und politische Handlungsoptionen der späten Sowjetunion, wobei in der Neuauflage des Spiels von 2017 zugleich der Traum eines großrussischen Imperiums zurückkehrte. Der Kalte Krieg fungiert hier oftmals als eine für die Spielproduzenten auch kommerziell wichtige narrative Abbreviatur, verspricht er doch einerseits Authentizität und befriedigt die Bedürfnisse vieler Konsumenten nach historischer Wirklichkeit, ermöglicht zugleich andererseits ein Setting für kontrafaktische Gedankenspiele, das von vielen als anregend empfunden wird.[7] Denn es ist die Sehnsucht nach klar geordneten geopolitischen Verhältnissen wie in der Zeit des Kalten Krieges, die gerade Konflikt- und Politsimulationen so viel einfacher und zugänglicher werden lässt, wie Franziska Pohlmann und Franziska Schmidt für das populäre Brettspiel Twilight Struggle (2006) verdeutlichen. Geschichte wird hier zu einem „Steinbruch für Fakten und Ideen“,[8] dem Spielentwickler einzelne Elemente entnehmen und in eigene Narrationen einflechten können. Dies zeigen etwa Gary Huck und Jan Watzke für den tschechischen Ego-Shooter Cold War (2005), in dem unter anderem eine alternative Deutung der Hintergründe der Tschernobyl-Katastrophe präsentiert wird.
Insgesamt spiegeln die in diesem Themenschwerpunkt analysierten Spiele eindrucksvoll die Komplexität des Kalten Krieges und seines erinnerungskulturellen Fortwirkens wider. Dies gilt nicht nur bezüglich ihrer Spannweite, die von Gesellschaftsspielen, Politsimulationen, Strategiespielen bis hin zu Kriegsspielen und Ego-Shootern reicht. Vielmehr zeichnen sich auch etliche der Spiele durch ihre enorme Detailgenauigkeit aus. Das von Maxim Braunbek und Thomas Stiele vorgestellte Balance of Power (1985) etwa bietet eine hochkomplexe Simulation der globalen Geopolitik, hinter der nicht zuletzt der Wunsch des Entwicklers Chris Crawford stand, den SpielerInnen die zentralen Konfliktstrukturen des Kalten Krieges zu vermitteln. Spielemacher mussten bei diesem heiklen Thema offenkundig häufig einen Spagat zwischen Unterhaltung und Didaktik unternehmen. Denn angesichts ihrer realen Bezugspunkte war der Ernst von Kalten Krieg-Spielen offenkundig: Dies galt gerade bezüglich der möglichen Vernichtung der Erde infolge der Zerstörungskraft der Atombombe, die nicht nur in dem von Falk Euler und Alexander Weidle analysierten Videospiel War Games (1984) prominent figuriert. Das Motiv des nuklearen „Holocaust“ erwies sich als derart prägend, dass es bis heute die Bildsprache vieler Spiele bestimmt – so etwa in dem diesen Themenschwerpunkt bebildernden Echtzeit-Strategiespiel DefCon (2006), das mit retrospektiver Gelassenheit eine auch grafisch eindrucksvolle Ästhetik des Weltuntergangs schafft. Die zeitgenössischen Spiele dienten hier dagegen der Aushandlung realer gesellschaftlicher Ängste, führte doch ein ausgelöster Atomkrieg oftmals zur Zerstörung der Erde und damit zu einem unfreiwilligen Spielende. Denn nicht nur für die Macher von Balance of Power stand fest: „We do not reward failure“.