von Lars Borgschulze

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5. Februar 2024

Ave Caesar Emhyr! Das Videospiel "The Witcher 3 - The Wild Hunt" aus dem Jahre 2015 ist für viele bis heute ein Paradebeispiel für ein gelungenes Open-World-Rollenspiel. Darin begibt sich der titelgebende Hexer und Monsterjäger Geralt von Riva auf die Suche nach seiner Ziehtochter und nimmt den Kampf mit einer uralten Macht auf. Das Spiel des polnischen Entwicklerstudios CD Projekt Red trumpft besonders mit seiner historisch inspirierten Spielwelt auf. Diese basiert auf den "Hexer"-Büchern des polnischen Autoren Andrzej Sapkowski. Im Jahr 2019 veröffentlichte Netflix außerdem eine Serie zur Reihe.

Der große Gegenspieler des Protagonisten Geralt von Riva und der Nördlichen Königreiche, Handlungsort der Witcher-Reihe, ist das im Süden des Kontinents gelegene, imperialistische Kaiserreich Nilfgaard. Angeführt wird es von seinem Kaiser Emhyr var Emreis. Nicht zufällig weist Nilfgaard große Parallelen zur Geschichte, Kultur und zum Militär des Römischen Reiches der Kaiserzeit (27 v. Chr. bis 476 n. Chr.) auf, die bei den Spieler*innen bewusst Assoziationen hervorrufen sollen.

Auch wenn Autor Sapkowski unentwegt verneint, dass seine Schöpfungen direkte Vorbilder aus der realen Welt haben[1], so bietet sich besonders im Fall von Nilfgaard ein Vergleich mit vergangenen Gesellschaften an.[2] CD Projekt Red griff für seine Spiele historische Bezüge auf, um die Hintergrundgeschichte Nilfgaards noch weiter auszubauen. Aus diesem Grund eignen sich vor allem die Spiele für die folgende Analyse, die sowohl auf der erzählerischen als auch der visuellen Ebene erfolgen muss. Dabei soll die Frage im Fokus stehen, warum sich Spiel und Bücher in ihrer Darstellung Nilfgaards so stark am Römischen Reich orientieren
 

Geschichte, Kultur und Militär zweier Großmächte

Die Witcher-Spiele erzählen die Handlung von Sapkowskis Büchern fort. In "The Witcher 3", dem finalen Teil der "Geralt-Trilogie", hat Nilfgaard einen erfolgreichen Eroberungsfeldzug gegen die Nördlichen Königreiche geführt. Die wenigen übriggebliebenen Könige stehen mit dem Rücken zur Wand. Viele Reiche sind gefallen und zu Provinzen oder Vasallen des Kaiserreichs geworden.

Die Ausdehnung von Nilfgaards Grenzen erfolgt für die nilfgaardischen Kaiser meist ohne großen Widerstand. Nilfgaards Heer ist anderen Armeen zahlenmäßig und strategisch deutlich überlegen. Oft dürfen die fremdländischen Herrscher aber auf ihrem Thron bleiben und ihre Gebräuche weiterhin pflegen – solange sie den nilfgaardischen Kaiser und seine Herrschaft akzeptierten. In einer ähnlichen Weise herrschte Rom über seine Provinzen und Vasallenstaaten.

Wie das römische Heer ist Nilfgaards Armee in unterschiedliche Divisionen eingeteilt. Außerdem besteht sie aus Söldnern und Hilfstruppen aus den Provinzen, sogenannten Auxiliartruppen. Auch Sklaven sind hier ein wichtiger Faktor: Viele Kriegsgefangene werden als Vorhut in die Schlacht geschickt. Eine bedeutende Rolle spielt für den nilfgaardischen Kaiser auch seine "Impera"-Brigade (lateinisch für "Befiehl!"). Wie die Prätorianer für den Kaiser Roms fungiert sie als Gardetruppe zum persönlichen Schutz des Herrschers.

Mitglied der Impera-Brigade mit charakteristischem Flügelhelm in "The Witcher 3". Quelle: The Witcher 3: Wild Hunt © CD Projekt Red, Screenshot: Lars Borgschulze.

Auch kulturell gibt es einige Gemeinsamkeiten. Dazu gehört u. a. die Vorliebe der Römer*innen für Gladiator*innenkämpfe bzw. der Nilfgarder*innen für den Kampf Mensch gegen Monster.
Bereits die Gründungsgeschichte Nilfgaards bzw. Roms weist Parallelen auf. Ähnlich wie das Römische Reich, wurde auch das Kaiserreich Nilfgaard nach seiner Hauptstadt benannt. Nilfgaard lag an einem Fluss namens Alba – ein Name, der auch im römischen Ursprungsmythos eine Rolle spielt. „Alba Longa“ war die Stadt, aus der der Großvater der mythischen Stadtgründer Roms, Romulus und Remus, stammte. In den Anfangsjahren Nilfgaards wurde das junge Reich von einem König regiert – ganz wie das junge Rom. Auch einen Senat gab es in Nilfgaard, der wie sein historisches Vorbild nach der Gründung des Kaisertums nur noch eine mehr oder wenige zeremonielle Bedeutung und wenig politischen Einfluss hatte.[3]

In Nilfgaard existiert ein monotheistischer Glaube. Die Bevölkerung verehrte die "Große Sonne", verewigt im Wappen des Kaiserreiches. Das Römische Reich verfolgte zwar jahrhundertelang eine polytheistische Religionspraxis. Jedoch existierte auch dort eine Sonnengottheit: "Sol Invictus" ("die Unbesiegte Sonne"), den der römische Kaiser Elagabal (218 bis 222 n. Chr.) sogar zum Staatsgott erhob. Der oberste Priester (in Rom auch "Pontifex Maximus" genannt) war in Nilfgaard wie im Römischen Reich der Kaiser.

Wappen Nilfgaards mit der „Großen Sonne“ an der nilfgaardischen Botschaft in Beauclair im Fürstentum Toussaint. Quelle: The Witcher 3: Wild Hunt – Erweiterung „Blood and Wine“ © CD Projekt Red, Screenshot: Lars Borgschulze.

 

Nichtrömische Einflüsse

Neben den römischen, treffen bei der Darstellung Nilfgaards aber auch andere Einflüsse aufeinander: Der Name des Kaiserreiches ist wahrscheinlich eine Ableitung aus dem Isländischen/Altnordischen und bedeutet so viel wie "Nebelheim"[4]. Viele Namen der nilfgaardischen Bewohner*innen haben einen deutlich niederländisch-deutschen Klang, so z. B. die einflussreiche nilfgaardische Familie Leuwaarden. Auch die nilfgaardische Sprache, die man in den Videospielen vielerorts hört, ist vom Niederländischen, Deutschen und Irischen inspiriert: "Ker'zaer" bedeutet "Kaiser" und "eigean" bedeutet genauso wie im Irischen "notwendig". Das nilfgaardische Wort für Feigling, "schijtleister", hingegen ähnelt einem niederländischen Schimpfwort.[5]

Vor allem für das in "The Witcher 3" integrierte Kartenspiel "Gwent" erweiterte CD Projekt Red die Hintergrundgeschichte Nilfgaards. Auf den zahlreichen Sammelkarten ähneln Kleidung, Rüstungen und Waffen der nilfgaardischen Charaktere jedoch weniger römischen Darstellungen. Vielmehr sind sie Gemälden niederländischer Maler des 17. Jahrhunderts nachempfunden.[6] Dasselbe gilt für die bereits erwähnte Impera-Brigade, die äußerlich keine Ähnlichkeit mit der römischen Prätorianergarde aufweist.

 

Rom als Antagonist

Aber warum haben sich Andrzej Sapkowski und vor allem CD Projekt Red überhaupt für Rom als Vorbild für Nilfgaard entschieden?
Autor und Entwickler benötigten für die auf dem europäischen Mittelalter basierende Hexer-Welt einen Gegenspieler für die Nördlichen Königreiche. Die wichtigste Eigenschaft dieses Gegenspielers sollte es sein, eine Gefahr für die gegenwärtige Ordnung und die Lebenswelt der Protagonist*innen darzustellen. Wie in den Büchern drohte das imperialistische Nilfgaard auch in den "Witcher"-Spielen die Nördlichen Königreiche vollständig zu erobern.

Der Begriff "Imperialismus" in unserer heutigen Verwendung bildete sich in den 1870er Jahren heraus und bezeichnet das territoriale Expansionsbestreben eines Staates bzw. seinen Drang, den politischen, aber auch wirtschaftlichen Einflussbereich auszudehnen.[7] Auch wenn der Begriff erst anderthalb Jahrtausende nach dem Untergang des Römischen Reiches in den Sprachgebrauch eingegangen ist, so steht – neben den Kolonialmächten – kaum ein Staatengebilde so sehr für dieses Expansionsstreben wie das Römische Kaiserreich.

Bis heute assoziieren viele Rom – auch dank seiner vielfältigen Auftritte in der Popkultur[8] – vor allem mit seiner erfolgreichen Expansionspolitik: Das Römische Reich erstreckte sich von Schottland bis Armenien und von Marokko bis in die Ukraine. Archäologische Überreste, die diesen Machtanspruch bezeugen, sind bis heute in diesen Ländern allgegenwärtig. So ist das antike Rom in unserem kollektiven Bewusstsein einerseits fest verankert als gewalttätiger Eroberer, andererseits aber auch als Großmacht, dessen kulturellen Einflüsse die eroberten Gebiete maßgeblich prägten. Diese Assoziationen machten sich Sapkowski und CD Projekt Red zunutze, wobei die Parallelen zwischen Nilfgaard und dem Römischen Reich vor allem auf der Erzählebene zu finden sind. Visuell lehnt sich "The Witcher 3" eher an mittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Darstellungen an.

Der Hauptcharakter Geralt von Riva in einem nilfgaardischen Lager. Die Wachtürme, Zelte und Soldaten erinnern eher an mittelalterliche als römische Darstellungen. Quelle: The Witcher 3: Wild Hunt © CD Projekt Red, Screenshot: Lars Borgschulze.

Die große Stärke des Fantasy-Genres sowohl in der Literatur, als auch in Videospielen, ist, dass es Debatten und Diskussionen zu Themen aufwerfen kann, die auch in der Gegenwart von großer Bedeutung sind. Das vom antiken Rom inspirierte Nilfgaard lässt die Leser*innen und Spieler*innen einen kritischen Blick auf Imperialismus und koloniale Strukturen werfen. Aber auch Nilfgaards Umgang mit den eroberten Völkern wirft Fragen zu Themen wie Integration und Assimilation auf und was es bedeutet, "fremd" an einem Ort zu sein – Themen, die in unserer Gesellschaft derzeit diskutiert werden.

 


[1] Vgl. Andzrej Sapkowski/Stanisław Bereś: Historia i fantastyka, Warschau 2005.
[2] Auch Parallelen zu NS-Deutschland sind erkennbar: Das Narrativ, dass ein "mächtiges Reich" (Deutsches Reich) seinen "kleinen Nachbarn" (Polen) überfällt, ist besonders vor dem Hintergrund des polnischen Entstehungskontextes interessant.
[3] Zur Geschichte Nilfgaards in den Videospielen, siehe Dark Horse Books (Hrsg.): The World of the Witcher – Video Game Compendium, 2015, S. 38-39.
[4] Vgl. "Niflheim" aus der nordischen Mythologie.
[5] Vgl. Nilfgaardisches Wörterbuch im "Official Witcher Wiki", (letzter Zugriff: 03.06.2023).
[6] Beispielhaft können hier der Maler Thomas de Keyser (1596 – 1667) und seine Porträtmalereien genannt werden.
[7] Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: Das Politiklexikon, (letzter Zugriff: 10.01.2024).
[8] Erwähnt werden sollten dabei vor allem die sogenannten "Sandalenfilme" der 1950er und -60er Jahre. Dazu zählen etwa "Quo vadis?" (USA, 1951), "Ben Hur" (USA, 1959) oder "Cleopatra" (USA, 1963), in denen Rom als Eroberer von Provinzen wie Ägypten, Judäa oder Britannien auftritt. Auch neuere Produktionen, wie die Serie "Rome" (USA/UK/Italien, 2005 – 2007), thematisieren die Expansionspolitik des Römischen Reichs. In digitalen Spielen, wie "Rome: Total War" (Creative Assembly, 2004), schlüpfen die Spieler*innen sogar selbst in die Rolle als Erober*innen.