von Beate Binder, Benno Gammerl

  |  

26. Juni 2023

Queere Methoden – der Begriff ist ebenso unklar wie widersprüchlich. Wie kann so etwas wie Methoden, die für Ordnung und Übersichtlichkeit stehen, mit queer in Verbindung gebracht werden, also mit den damit verbundenen flüchtigen, widerspenstigen Praktiken und Subjektpositionen oder gar mit einem Theoriekorpus, der alle normativen Setzungen zu unterlaufen verspricht? Zunächst ließe sich vermuten, dass queeres Forschen sich mit queeren Themen, Lebensweisen und Selbstverständnissen beschäftigt – so wie sich die historische Forschung mit der Vergangenheit auseinandersetzt. Warum sollten dazu andere als die etablierten Methoden des archivalischen, historischen oder ethnographischen Forschens notwendig sein? So einfach liegen die Dinge jedoch nicht. Genauso wenig wie die Geschichtswissenschaft schlicht Vergangenes erzählt, beschreibt queere Forschung lediglich queere Lebensweisen. Schon lange ist queer nicht mehr nur ein Adjektiv, das im Sinne von LSBTIA* ein Feld von Subjektpositionen bezeichnet. Häufig wird queeren auch als Verb gebraucht, das ein aktives Tun meint – zum Beispiel im Umgang mit Methoden und dem Forschen selbst. Es geht also darum, die Art und Weise zu queeren, wie sich Forscher*innen den Feldern ihres Interesses nähern und ihre Themen erkunden.

Wie so oft fällt es viel leichter zu sagen, was queere Methoden nicht sind: Es wird damit weder ein klar begrenzter Werkzeugkasten anzuwendender Verfahren bezeichnet, noch sind queere Methoden positivistisch, heißt, sie sind nicht darauf ausgerichtet, Wirklichkeit einfach abzubilden. Genauso wenig wollen queere Methoden Forschende dabei unterstützen, einen Sachverhalt festzuhalten. Vielmehr bringen sie Unordnung in das Verhältnis von Forschungsgegenstand und Forscher*in, befragen Vermutungen und als selbstverständlich geltenden Ausgangspunkte, interessieren sich für die Unwägbarkeiten und Leerstellen des Forschungsprozesses. Sie legen auch die Möglichkeit ‚anderer‘ Deutungen nahe, indem sie etwa zum Spekulieren anregen. Damit durchkreuzt queeres Forschen mit großer Vehemenz die Vorstellung, dass empirische Erhebungen und historische bzw. gegenwartsorientierte Analysen vollständig kontrollierbar seien. Vor allem aber verabschiedet es sich von der Annahme, dass Forschende von außen, von einer unabhängigen Beobachtungsposition auf ihren Gegenstand schauen könnten.

In all dem ähneln queere Methoden anderen kritischen Herangehensweisen, wie sie in der Geschichtswissenschaft und den Ethnologien genutzt und diskutiert werden. Auch hier gehen avancierte Forschungen davon aus, dass die temporalen und lokalisierten Kontexte, in denen die Forschenden arbeiten, ihre Ergebnisse prägen. Es handelt sich also nicht um ein für alle Mal festgestelltes Wissen, sondern um situierte Deutungen. Insofern ist es nur logisch, dass sich eine Kulturanthropologin und ein Historiker zusammengetan haben, um diesen Text zu schreiben. Zusammen wollen wir einige Momente diskutieren, die sich hinter dem Schlagwort der Methoden queeren Forschens verbergen.

 

Das empirische Feld ist klüger als die Forscher*in

Queeres Forschen hat inzwischen eine – wenn auch unübersichtliche – Geschichte.[1] Es handelt sich nicht um ein geschlossenes Wissensfeld. Vielmehr versammeln sich hinter der Queer Theory eine Vielzahl an Interventionen in bestehende Denk- und Arbeitsweisen. Angesichts der unterschiedlichen politischen wie disziplinären Kontexte, aus denen sich der Corpus Queerer Theorien entwickelt hat, kann als queer zunächst jede Forschung bezeichnet werden, die sich im Rahmen queer-theoretischer Überlegungen und Konzeptionen bewegt. Das alles sagt jedoch noch nichts über forschungspraktische und empirische Strategien. Dieser Lücke sind in den letzten Jahren einige Sammelbände begegnet, die versuchen, queeres Forschen und die Erfahrungen mit queeren Methoden systematischer zu reflektieren.[2] Die Frage ist inzwischen nicht mehr (allein), was Queer Theory ist, sondern wie sie getan, wie mit ihr geforscht werden kann. Manche Forscher*innen befürchten, dass die Hinwendung zu Methoden eine Rückkehr zu disziplinären Zwängen impliziert, dass sie einer Einhegung der Queer Theory gleichkommt und damit der eigenen Phantasie widerspricht, antidisziplinär und wild zu sein.

Doch auch ein methodisch-reflektiertes queeres Forschen will die Phänomene nicht beherrschen, mit denen es sich auseinandersetzt. Vielmehr steht es für eine dynamische Interaktion zwischen Fragestellungen und empirischen Materialien oder Beobachtungen. Diese Interaktion wirbelt einige Dinge durcheinander und regt zum Zweifeln an, auch am Glauben der Forschenden, sich selbst zu kennen und zu verstehen. Es gibt viele gute Gründe, sich in diesem Sinn empirisch – historisch oder ethnographisch – der Vielfalt an Lebenswelten zu nähern, etwa um zu verstehen, wie Hetero- und Homonormativität im Alltag funktionieren, oder um der Komplexität und Vielfalt gelebter Leben, Vorstellungen und Subjektpositionen gerecht zu werden.[3] Ein gutes Beispiel dafür ist die Vervielfältigung der Perspektiven auf geschlechtliche Identitäten. Zunächst kritisierten queere Ansätze die Unterscheidung zwischen biologischem sex und sozialem gender, dann machten empirische Forschungen zu Drag und Performativität, zu Trans* und embodiment, zu Subjektformationen und intersektionalen Verflechtungen, zu biologischen Variationen sowie zu historischen Ambivalenzen nicht nur die Unterscheidung zwischen sex und gender, sondern auch die Differenz zwischen Femininität und Maskulinität immer fraglicher.[4]

Empirische Methoden sind im queeren Sinn also keine Mittel zur Verifizierung, sondern Modi der Annäherung, die Überraschungen ermöglichen, unerwartete Perspektiven eröffnen, festgefügte Kategorien durchkreuzen und Dinge in Bewegung bringen. Deswegen ist für queeres Forschen eine radikale Offenheit für das unerlässlich, was Archiv-Dokumente, Interviews und Notizen aus dem Feld usw. zu sagen haben. Grundsätzlich geht es darum, sich im forschenden Kontakt berühren zu lassen und sich die Hände schmutzig zu machen durch empirisches Suchen, auch an Orten jenseits der eigenen Wohlfühlzone.[5] Um eine solche Offenheit zu entwickeln, ist es nötig, eigene Vorannahmen zu reflektieren, theoretische Konzepte immer wieder auf ihre Implikationen zu befragen, vor allem aber kritisch mit etablierten Deutungsmustern und standardisierten Erzählungen umzugehen. Es gilt auch, der vielfältigen Machtstrukturen in ihrer interdependenten Verwobenheit gewahr zu sein, die sich in Forschungsfeldern kreuzen. Kurz: Gefragt ist eine erhöhte – radikale – Reflexivität. Ein Ansatz, der daher in queerer Forschung viel Anklang findet, ist die grounded theory. Mit ihrem induktiven – von den Beobachtungen und Aussagen ausgehenden – Vorgehen können Forschende in reflexiver Manier auf die Materialien ‚hören‘, mit denen sie arbeiten, ohne sie vorschnell durch eigene Vorannahmen zu strukturieren oder in theoretische Konzepte einzupassen.[6] Aus dem Material heraus, dessen Eigenlogiken folgend, sollen Begriffe und Lesarten entwickelt werden, die Ambivalenzen ernst nehmen und so nicht nur die Denkmuster der Forschenden, sondern auch deren Selbstverständnis in Frage stellen können.

Ein Beispiel aus Benno Gammerls Arbeit mit Oral-History Interviews: In meiner Studie zum Gefühlsleben gleichgeschlechtlich begehrender Menschen in der Bundesrepublik erschien mir eine Erzählperson, Frau Opitz, zunächst als ängstlich und unsicher, weil ihre Geschichte nicht in der Etablierung einer stabilen lesbischen Identität gipfelte. Nach Relektüren des Transkripts und meiner Notizen erwies sich jedoch, dass in der Interaktion zwischen uns beiden zwei einander widersprechende Lesarten der Unsicherheit aufeinanderprallten: Unsicherheit als Schwäche oder als Stärke. Frau Opitz legte sich nicht auf eine Identität fest, weil sie das nicht wollte und weil sie stark genug war, den Identifikationserwartungen ihrer Umgebung nicht zu entsprechen. Ich dagegen hatte mich so sehr an genau diese Erwartungen gewöhnt, dass ich ihr Lavieren als ängstliches Zögern auslegte. Nur abermaliges Nachdenken und Hinhören bewahrten mich davor, Frau Opitz Geschichte im Sinne meiner eigenen Beschränktheit misszuverstehen.[7]

Für die Offenheit gegenüber dem Forschungsmaterial ist es also unerlässlich, den eigenen Standpunkt immer wieder zu hinterfragen. Das ist gemeint, wenn in queer-feministischen oder queer-antirassistischen Debatten von der Positionalität der Forschenden die Rede ist. Das scheint uns auch deshalb so wichtig, weil queer-theoretisch angelegte Studien Deutungen bereitstellen, die etwas ‚tun‘, die Einfluss darauf nehmen, wie die Welt sich verändert, wie Menschen in ihren Umgebungen handeln, wie Dinge und der Lauf der Zeit wahrgenommen werden. Die Konzepte und Methoden, die wir nutzen, um über historische wie gegenwärtige Lebensweisen zu berichten sowie um die Praktiken von Akteur*innen zu interpretieren, strukturieren Wirklichkeiten.[8] Das bedeutet jedoch weder, dass wir uns jeder Deutung von Welt enthalten sollten, noch dass das bloße Offenlegen der eigenen Positionalität einen unvoreingenommen(er)en Blick auf die Welt möglich machen würde. Subjektivität ist bei der Produktion von Wissen kein Problem, das es möglichst geschickt zu umschiffen gilt. Positionierte Perspektiven ermöglichen vielmehr spezifische Einsichten, die zur Diskussion gestellt werden können und mit ihrer sorgfältigen Darlegung überhaupt eine Auseinandersetzung erst ermöglichen.[9]

Dieses Verständnis einer positionierten Objektivität, die subjektives Erleben (auch das eigene) ernst nimmt, trägt dazu bei, besser zu verstehen, wie Menschen die Welt gestalten, begreifen und mit ihr umgehen. Insofern wäre es auch irrig, die affektiven Bezüge, die sich zwischen Forschenden und den Materialien, mit denen sie arbeiten, oft ergeben, als Störquellen zu begreifen, die die Ergebnisse zu verzerren drohen. Selbstverständlich prägen sie unsere Wahrnehmung des ‚Gegenstands‘, aber das tun auch desinteressierte oder gelangweilte Perspektiven. Jede Betrachtung verändert das Betrachtete, und nur indem wir darüber gewissenhaft nachdenken – auch in unserem Schreiben – können wir aus diesen subjektiven Bezügen spannende Einsichten gewinnen.

 

Forschen als Zusammenarbeiten

Queeres Forschen meint jedoch mehr, als die Beziehung zwischen Forschenden und Forschungsgegenständen zu befragen. Es ist ein wichtiger Schritt, die Deutungsmacht von Forschenden zu destabilisieren und durch möglichst umfassende Transparenz und Reflexivität eigene Forschungen einer Kritik zugänglich zu machen. Davon bleibt der Abstand zwischen – im Akademischen lokalisiertem – Forschen und – politischer, aktivistischer, künstlerischer – Praxis zunächst unberührt. Dieser verhindert häufig ein mutiges und originelles Experimentieren mit unterschiedlichen Methoden, ermöglicht andererseits aber auch distanzierende Befremdung, in der sich Analyse entfalten kann. Damit diese nicht über Forschungskontexte und deren Akteur*innen hinweg geht, werden gegenwärtig unterschiedliche Formen des Austauschs und der Verständigung diskutiert und erprobt. Kollaboration – das Zusammenarbeiten mit den Beforschten, mit Künstler*innen, Aktivist*innen – ist ein zentrales Thema der gegenwärtigen Debatten um ein Queeren der Forschung. In den Ethnologien ist es eine der Grundvoraussetzungen, dass Forschende und Beforschte zusammenarbeiten. Diskutiert wird allerdings darüber, mit wem, in welchem Maß und wie dieses Zusammenarbeiten erfolgen soll. Im Kontext von queerer Forschung stellt sich diese Frage mit vielleicht noch größerer Vehemenz, denn zu lange wurden queere Subjekte zum – einflusslosen – Objekt von Forschung gemacht. Doch wie kann die aktivistische Forderung ‚Nicht ohne uns über uns‘ konkret umgesetzt und in empirisches Arbeiten übersetzt werden?

Es gibt vielfältige Antworten und praktische Beispiele, angefangen vom gemeinsamen Formulieren von Forschungsfragen und -interessen, bis hin zum Bereitstellen von Expertise und Wissen, um politische, zivilgesellschaftliche oder aktivistische Anliegen zu unterstützen. Die Diskussion von eigenen Beobachtungen und Befunden mit Beforschten ist eine weitere Möglichkeit, Wissensproduktion für vielfältige Perspektiven zu öffnen. In Gesprächen mit den (interessierten) Beforschten können sowohl Interpretationen validiert, als auch widersprechende Sichtweisen offengelegt werden, die dann – beispielsweise als Kommentare – in Publikationen einfließen. Teilweise wird dafür auch auf andere Formen der Darstellung zurückgegriffen, etwa auf Graphic Novels.[10] Der Austausch zwischen Forschenden und Beforschten über die Beobachtungen und Befunde kann aber auch die Form von Kritik annehmen. So eröffnet sich für die Beforschten ein Reflexionsraum, etwa wenn Forscher*innen in aktivistischen Kontexten beobachtete Engführungen oder problematische Routinen ansprechen.[11] Mit diesen verschiedenen Formen der Zusammenarbeit sollen einerseits Machthierarchien in der Wissensproduktion verringert und die Deutungsmacht von Forschenden aufgebrochen werden. Andererseits sollen Forschungen vielstimmiger werden. Wenn Beforschte nicht direkt in die Forschung einbezogen werden wollen oder können, ist Teamarbeit eine Möglichkeit, Vielstimmigkeit im Forschungsprozess herzustellen. Queere Forschende arbeiten daher oft nicht allein.

Auf dem historischen Feld ist das besonders augenfällig, wenn mit den Methoden der Oral History gearbeitet wird. Interviewte und Interviewende sind hier unweigerlich gemeinsam in die Ko-Produktion von Quellen und Narrativen involviert. Es wäre vollkommen sinnlos so zu tun, als hätten die Intentionen, die Tonlagen, die Blicke, die Körperhaltungen die non-verbalen Äußerungen, die Kleidung, das Auftreten usw. der Fragensteller*innen keinen Einfluss darauf, was und wie die Antwortenden erzählen. Missverständnisse und Spannungen können dabei ebenso produktiv sein wie eine familiäre Atmosphäre oder bestimmte Formen des Flirtens.[12] In jedem Fall lohnt es sich, die Effekte solcher Interaktionen analytisch ebenso ernst zu nehmen wie den Einfluss, den die Argumente und Geschichten der Interviewten auf ein Projekt haben können, indem sie die Aufmerksamkeit der Forschenden in neue Richtungen lenken. Im Fall der Oral History wird Wissen mithin unweigerlich auf verschiedenen Ebenen ko-produziert. Bei anderen Formen des historischen Forschens ist es nicht möglich, sich direkt mit Forschungssubjekten auszutauschen. Dann sind möglicherweise Diskussionen mit interessierten Gruppen über die eigene Forschung und darüber, welche Fragen in nicht-akademischen Kontexten von besonderer Relevanz sein könnten, ein guter Weg, das eigene Wissen-Wollen zu teilen und Anschlussstellen für andere zu finden.

Mit diesen Formen der Zusammenarbeit verwischen die Grenzen zwischen universitärer/akademischer und außer-universitärer, beispielsweise aktivistischer Wissensproduktion. Zugleich sollte dieses Ineinandergreifen nicht darüber hinwegtäuschen, dass akademisches Arbeiten, Forschen und Darstellen weiterhin eigenen Regeln gehorcht, etwa mit Blick auf disziplinäre Logiken, auf das Transparentmachen von methodischem Vorgehen und auf die Einbettung in bereits bestehende Forschung. Oft wird queerer – insbesondere engagierter – Forschung ein Mangel an Distanz, an Objektivität vorgeworfen. Wie bereits deutlich geworden sein sollte, sehen wir allerdings in der größeren Nähe und Offenheit zwischen akademischem Forschen und aktivistischen, künstlerischen und anderen Formen der Wissensproduktion ein spezifisches methodisches Potential, eine Möglichkeit, das Forschen als Zusammenarbeiten bewusst vielstimmiger zu gestalten.

 

Forschen, Schreiben, Spekulieren

Grundsätzlich geht es queerem Forschen nicht nur darum, neues Wissen zu produzieren, andere Lebensweisen und das „doing otherwise“ zu entdecken, etwa Formen widerständigen, gegen den allgemeinen Common Sense gerichteten Handelns oder Lebensentwürfe, die sich gesellschaftlichen Erwartungshaltungen nicht fügen wollen. Queere Forschung will auch etwas bewirken.[13] Sei es durch Texte, die in Arenen der Auseinandersetzung eintreten,[14] sei es durch das Anlegen neuer Archive, sei es durch das Bereitstellen von Wissen für politisches und aktivistisches Engagement. Den wirklichen Herausforderungen begegnet queeres Forschen jedoch dort, wo wir auf die Lücken stoßen, die der heteronormative Wille zur Ignoranz in den Archiven hinterlassen hat, oder auch die fehlende Sprache für das Darstellen nicht-normativer Lebensweisen. Es geht bei queeren Methoden daher immer auch darum, erfinderisch zu sein und bislang nicht anerkannte Quellen ernst zu nehmen. Wo die Spuren des ‚anderen Lebens‘ nicht erkannt, sondern allenfalls erahnt werden können, gilt es, zu spekulieren, zu fabulieren, mit den losen Fäden zu spielen, die in der Luft liegen.[15] Das scheinbar Undeutliche, Randständige aufgreifen und vom Rand ins Zentrum rücken, so kann es uns gelingen, Forschen zu queeren und queer zu forschen.

Denn die Leben, die uns interessieren, bewegen und bewegten sich in den Nischen heteronormativer Realität. Um zu überleben müssen und mussten sich queere Menschen oft in den Schatten und den Kellern der ‚normalen‘ Welt verbergen. Sie tarnten sich mit Szenenamen und erfanden nicht selten Ausreden oder phantasievolle Geschichten, um nächtliche Ausflüge in die Subkultur vor den Ehepartner*innen und Arbeitskolleg*innen geheim zu halten, denen sie tagsüber, sozusagen in ihrem ‚ehrbaren‘ Alltag begegneten. Das Fabulieren ist so gesehen eine wichtige Taktik queeren Lebens, die sich auch das queere Forschen zu eigen machen kann.

Das Gleiche gilt für das Genre des Gerüchts, der Andeutung. Innerhalb von queeren Subkulturen, die sich vor Verfolgung schützen mussten, wurden Informationen, die von entscheidender Bedeutung sein konnten, oft als scheinbar nebensächliches Geschwätz weitergegeben. Polizist*innen und andere Außenstehende, denen die entsprechenden Codes und Signale nicht geläufig waren, sollten ahnungslos bleiben. Deswegen stößt queeres Forschen oft auf ungefähre Formulierungen, deren tatsächliche Bedeutung sich allenfalls annähernd erschließen lässt. Auch deswegen ist es nicht nur zulässig, sondern auch geboten, auf kundige Vermutungen zurückzugreifen, um den eigenen Leser*innen oder Zuhörer*innen das verständlich zu machen, was notwendiger Weise bruchstückhaft und uneindeutig ist.[16] Das kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten sensibel, erfinderisch und gespannt aufmerksam sind. Doch selbst dann ist nicht immer alles für alle übersetzbar:

„Instead of being clearly available as visible evidence, queerness has existed as innuendo, gossip, fleeting moments, and performances that are meant to be interacted with by those within its epistemological sphere – while evaporating at the touch of those who would eliminate queer possibility.“[17]

 

 


[1] Mike Laufenberg: Queere Theorien zur Einführung, Hamburg: Junius 2022.
[2] D’Lane R. Compton et al. (Hg.): Other, please specify: queer methods in sociology, Oakland, CA: University of California Press 2018; Amin Ghaziani and Matt Brim (Hg.): Imagining queer methods, New York: New York UP 2019; Donna Haraway: Situated Knowledges: The Science Question in Feminism as a Site of Discourse on the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies, 14 (1988), 3, 575-599; Margot Weiss: Discipline and Desire: Feminist Politics, Queer Studies, and New Queer Anthropology, in: Ellen Lewin, Leni M. Silverstein (Hg.): Mapping Feminist Anthropology in the Twenty-First Century, New Brunswick, NJ: Rutgers University Press 2016, 168-187; Kath Browne and Catherine J. Nash (Hg.): Queer Methods and Methodologies. Intersecting Queer Theories and Social Science Research, Farnham, Burlington: Ashgate 2010; Carolyn Dinshaw: How Soon is Now? Medieval Texts, Amateur Readers, and the Queerness of Time, Durham: Duke University Press 2012.
[3] Vgl. Caroline  Osella: ‘Tell me, what made you think you were normal?’: How Practice will always outrun theory and why we all need to get out more, in: Sertac Sehlikoglu, Frank G. Karioris (Hg.): The Everyday Makings of Heteronormativity. Cross-Cultural Explorations of Sex, Gender, and Sexuality. Lanham u.a.: Lexington Books 2019, 13-26; Karma Lochrie: Heterosyncrasies. Female Sexuality When Normal Wasn’t. Minneapolis: University of Minnesota Press 2005.
[4] Vgl. u.a. Ulrike Klöppel: XX0XY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität, Bielefeld: transcript 2010; Anne Fausto-Sterling: Gender/Sex, Sexual Orientation, and Identity Are in the Body: How Did They Get There?, in: The Journal for Sex Research, 56 (2019), 4/5, 529-555; Jack Halberstam: Trans* - Gender Transitivity and New Configurations of Body, History, Memory and Kinship, in: Parallax, 22 (2016), 3, 366-375; Laufenberg: Queere Theorien.
[5] Vgl. Marika Cifor: Presence, Absence, and Victoria's Hair: Examining Affect and Embodiment in Trans Archives, in: Transgender Studies Quarterly, 2 (2015), 4, 645-649; Ruth Behar: The Vulnerable Observer. Anthropology that breaks your heart, Boston: Beacon Press 1996.
[6] Vgl. zu diesen und ähnlichen Verfahren z.B. Elisa Abes: Applying Queer Theory in Practice with College Students. Transformation of a Researcher's and Participant's Perspectives on Identity, A Case Study, in: Journal of LGBT Youth, 5 (2008), 1, 57-77; Heather Love: Close Reading and Thin Description, in: Public Culture, 25 (2013), 3, 401-434.
[7] Benno Gammerl: Can you feel your research results? How to deal with and gain insights from emotions generated during oral history interviews, in: Helena Flam und Jochen Kleres (Hg.): Methods of Exploring Emotions, London: Routledge 2019, 153-162.
[8] Vgl. María Puig de la Bellacasa: Matters of care: speculative ethics in more than human worlds. Minneapolis, London: University of Minnesota Press 2017.
[9] Vgl. Haraway: Situated Knowledges.
[10] Vgl. z.B. Sonya Atalay et al.: Ethno/Graphic Storytelling: Communicating Research and Exploring Pedagogical Approaches through Graphic Narratives, Drawings, and Zines, in: American Anthropologist, 121 (2019), 3, 769-772, DOI: https://doi.org/10.1111/aman.13293.
[11] Vgl. Friederike Faust: Fußball und Feminismus: eine Ethnografie geschlechterpolitischer Interventionen. Opladen, Berlin, Toronto: Budrich UniPress Ltd. 2019; außerdem allgemeiner Janine Hauer, Friederike Faust und Beate Binder (Hg.): Kooperieren – Kollaborieren – Kuratieren. Zu Formen des Zusammenarbeitens in der ethnografischen Forschung, in: Berliner Blätter, 83 (2021).
[12] Amy Tooth Murphy: Listening in, listening out: intersubjectivity and the impact of insider and outsider status in oral history interviews, in: Oral History, 48 (2020), 1, 35-44; Sebastian Mohr und Andrea Vetter: Körpererfahrungen in der Feldforschung, in: Christine Bischoff u.a. (Hg.): Methoden der Kulturanthropologie. Stuttgart, Bern: UTB 2014, 101-116.
[13] Weiss: Discipline and Desire; Beate Binder: Kollaboration und Spekulation: Möglichkeitsräume solidarischen Forschens, in: Hannah Fitsch et al. (Hg.): Der Welt eine neue Wirklichkeit geben: Feministische und queertheoretische Interventionen, Bielefeld: transcript 2022, 35-43.
[14] Sabine Hark: Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, 35f.
[15] Vgl. Saidiya Hartman: Intimate History, Radical Narrative, in: Journal of African American History, 106 (2021), 1, 127-135.
[16] Vgl. Kwame Holmes: What's the Tea: Gossip and the Production of Black Gay Social History, in: Radical History Review, 122 (2015), 55-69; Pamela VanHaitsma: Gossip as Rhetorical Methodology for Queer and Feminist Historiography, in: Rhetoric Review, 35 (2016), 2, 135-147.
[17] José Muñoz: Ephemera as Evidence: Introductory Notes to Queer Acts, in: Women & Performance: A Journal of Feminist Theory, 8 (1996), 2, 5-16, 6.