von Susanne Schattenberg

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7. Januar 2020

2019 war das Tschernobyl-Jahr. Nicht, weil es ein rundes Jubiläum gäbe, seitdem der Reaktorblock 4 1986 explodierte, sondern weil die Tourist*innen Tschernobyl entdeckt haben. Nicht erst, aber gerade auch in Folge des sehr erfolgreichen HBO-Vierteilers „Tschernobyl“[1] wachsen die Besucher*innenströme, die sich in die 30-Kilometer-Sperrzone ergießen. Die Tourist*innen kommen in der Regel weder aus der Ukraine, noch aus Russland, sondern aus dem westlichen Ausland, ganz vorne mit dabei: Deutsche und Brit*innen. In ihrem Gefolge kommen Journalist*innen, die mit gerümpfter Nase beobachten, was ihre Landsleute dort alles ablichten: Es gibt wohl keine Tageszeitung, die dieses Jahr nicht über den anstößigen Katastrophentourismus, die pietätslosen Selfies und den unverständlichen Hype um eine verstrahlte Geisterstadt gewettert hätte.

 

Puppen mit Gasmasken

Tatsächlich ist nichts vor der Handy-Fotografie sicher. Besonders beliebt sind Puppen mit Gasmasken und die Messanlagen-Schleusen, in denen jede*r auf Strahlung getestet wird, bevor es zum Lunch oder aus der Sperrzone wieder raus geht. Am Wochenende bilden sich hier lange Schlangen; die Werkskantine, eigentlich für die Arbeiter*innen des AKW bestimmt, ist mit bis zu 300 Englisch, Deutsch oder Französisch sprechenden Tourist*innen gefüllt; dazwischen stehen Japaner*innen in weißen Schutzanzügen. Die Guides haben Schwierigkeiten, in dem einzigen Restaurant in Tschernobyl in einer der Essensschichten einen Tisch für ihre Gruppe zu ergattern. Die Gruppen werden inzwischen nicht mehr nur in Mini-Vans vom 17 km entfernten Tschernobyl in die nur drei Kilometer vom Reaktor entfernte Stadt Pripjat gefahren; es sind inzwischen ganze Reisebusse voll.

Puppe mit Gasmaske. © Tom Weber

Ein sowjetisches Paradies

Natürlich kann man darüber die Nase rümpfen. Man kann sich auch fragen, warum 70 Prozent der Gäste junge Männer sind. Warum Leuten, die für ein verlängertes Wochenende nach Kiew reisen, als zweites Highlight offenbar nur Tschernobyl, das zwei Stunden Autofahrt entfernt ist, einfällt. Ob sich die Menschen von der makabren Ästhetik der toten Stadt, dem Thrill der radioaktiven Hotspots oder doch von dem Schaudern angesichts der unkontrollierten Atomexplosion angezogen fühlen. Doch dabei wird vollkommen übersehen, dass die Sperrzone Europas größtes Freilichtmuseum ist. Hier wurde sowjetisches Leben 1986 eingefroren, das sich heute in Reinform besichtigen lässt. Während überall in den Nachfolgestaaten der UdSSR die sowjetische Stadtplanung und Wohnungsarchitektur langsam aber sicher verschwindet, ist sie in Pripjat konserviert. Die Stadt wurde als Vorzeigestadt am Reißbrett entworfen und 1970 zusammen mit dem AKW als sowjetisches Paradies für 41.000 Menschen eingeweiht. Wohl kaum sonst tritt einem die sowjetische Moderne in dieser Reinform entgegen. Selbst heute, wo sich die Natur die Stadt Stück für Stück zurückerobert und wie in Asterix’ Trabantenstadt Bäume Asphalt und Beton sprengen, ist noch zu erkennen, wie groß und weitläufig die Straßen und der zentrale Platz der Stadt angelegt waren. An seiner Längsseite steht der Kulturpalast, das Herzstück der Stadt, links ein Supermarkt, in dem noch die Beschriftungen für die Warenregale hängen, rechts ein Hotel, das im obersten Stock den Einwohner*innen ein Café mit großen Fensterfronten bot, von dem sie das Panorama der Stadt im Grünen bei Eis und Gebäck genießen konnten. Unten auf dem weitläufigen Platz spielten die Kinder zwischen Springbrunnen und Blumenrabatten.

Riesenrad im Freizeitpark. © Tom Weber

Klaviere und lichtdurchflutete Wohnzimmer

Wie privilegiert die Stadt war, zeigt sich auch daran, dass es hier einen Klavierladen gab, in dem immer noch zwölf sehr ramponierte Klaviere stehen. Pripjat wurde zweimal leer geräumt: Ein halbes Jahr nach der Evakuierung durften die Anwohner*innen zurückkehren, um ihr Hab und Gut mitzunehmen. Als Mitte der 1990er endgültig feststand, dass Pripjat nie wieder bezogen würde, wurde alles aus den Gebäuden gerissen, was sich noch verwenden ließ. Ausgerechnet die Klaviere sind zurückgeblieben. Die Plattenbauwohnungen sind nach Schema F gebaut, wie sie einst unter Chruschtschow entworfen und danach kaum mehr verändert wurden: WC und Bad immer nebeneinander, im Bad immer Waschbecken und Badewanne so eng zusammen, dass beides mit nur einem Wasserhahn zu bedienen ist – so sparte man Metall. Und doch waren die Wohnungen in Pripjat ein wenig schöner und größer: Die Balkone, die in der UdSSR eigentlich immer nur als Kühlschrank, Abstellraum und Wäscheständer dienten, sind so groß, dass hier wohl die Menschen tatsächlich nach Feierabend gesessen und in die Natur geschaut haben. Es gibt bemerkenswert viele Drei-Zimmer-Wohnungen, die in der UdSSR bereits als extrem großzügig galten, nicht selten so geschnitten, dass das Wohnzimmer von beiden Seiten mit Licht durchflutet wurde. Vereinzelt findet sich hier noch eine Schrankwand und dort ein Sofa – Zeugnisse des sowjetischen Möbeldesigns, das immer im dunklen Furnier gehalten war und von dem es nur die ältere matte Version ohne Verzierungen und die etwas neuere, schickere Hochglanz-Version mit Ornamenten gab.

Klavier in verlassener Wohnung. © Tom Weber

Kinder, Jugend, Pioniere

Pripjat war nicht nur eine Modellstadt, die Bevölkerung war auch extrem jung. Daher gibt es unzählige Kindergärten, die bei den Tourist*innen für die schön-schaurigen Fotomotive sorgen. Aber gerade das viele Spielzeug, das heute dort noch herumliegt, zeigt auch die Fülle, die der Staat seinen Neubürger*innen bieten wollte. Hier liegen nicht nur Puppen und Plüschtiere, sondern auch jede Menge Plastikspielzeug und Spielzeug-Panzer. Eine Holz-Doktrin oder Vorbehalte gegen Militärspielzeug gab es nicht. Die zahlreichen Kinderbetten, die hier stehen, zeigen deutlich, dass Kinderbetreuung immer eine Ganztagseinrichtung war. Die Schulen waren privilegiert mit Schwimmbädern ausgestattet; in die leeren Becken ragen heute noch die Sprungbretter. An den Lehrräumen lässt sich teilweise noch der Stoff ablesen: Im Musiksaal finden sich ausschließlich russische und sowjetische Komponist*innen; im Physikraum eine Mischung aus internationalen und russischen Physiker*innen, allen voran Igor Kurtschatow, der Vater der sowjetischen Atombombe und -energie. Unweit von Pripjat befindet sich ein Pionierlager: Mitten im Wald viele bunte Holzhäuschen mit verglaster Veranda. Der Ort erscheint mit seiner Friedlichkeit und Heiterkeit als perfekte Idylle.

Der inzwischen berühmte Freizeitparkt mit Riesenrad, Autoskooter und Karussell, der das sowjetische Paradies perfekt gemacht hätte, sollte am 1. Mai 1986 eingeweiht werden…

Pionierlager. © Tom Weber

Radarstation und Kalter Krieg

Es gilt heute als erwiesen, dass die insgesamt zwölf Reaktoren von Tschernobyl – vier gingen in Betrieb, Nummer fünf und sechs endeten als Bauruinen – geplant wurden, um die ebenfalls im Sperrkreis von zehn Kilometern befindliche Antennenstation Duga-1 mit Strom zu versorgen. Diese 500 Meter lange und 150 Meter hohe Anlage sowie die dazugehörige Siedlung Tschernobyl-2 waren auf der Landkarte als „Pionierlager“ getarnt. Die höchst imposanten, filigranen Antennen, die größtenteils noch stehen, auch wenn der Wind an ihnen zerrt und Teile zum Absturz bringt, dienten seit 1980 der Warnung vor herannahenden Raketen der NATO. Neben einer weiteren Geisterstadt lässt sich hier das Lagezentrum besichtigen, in dem teilweise noch die Rechenanlagen stehen, mit denen die Daten ausgewertet wurden. Hier befindet sich auch noch das Schulungszentrum für Soldat*innen, denen mit einer Mischung aus Ideologie über den aggressiven Klassenfeind und Schautafeln der amerikanischen Raketentechnik die Gefährlichkeit des Gegners erläutert wurde.

Antennenstation. © Tom Weber

Reaktor 4 und technische Hybris

Selbstverständlich steht im Mittelpunkt der Sperrzone der explodierte Reaktor 4, der seit diesem Jahr unter dem neuen, zweiten Sarkophag ruht. Wüsste man es nicht besser, könnte diese postmoderne, extrem leichtwirkende Stahlkonstruktion, in dem sich der Himmel spiegelt, auch als Museumsbau für moderne Kunst durchgehen. Der übliche Rundgang führt über den Kontrollraum des Reaktors 3, der 2000 auf Druck der EU stillgelegt wurde, bis hin zu einem maßstabsgerechten Nachbau des havarierten Reaktors 4, Lunch inklusive. Aber seit Oktober kann auch der Kontrollraum des explodierten Reaktors 4 unter dem Sarkophag besichtigt werden. Was in Kontrollraum 3 wie gerade verlassen erscheint – die im Halbrund angeordneten Kontrolltafeln für den Reaktor, das Kühlsystem und die Turbinen – ist im Kontrollraum 4 tatsächlich nur noch Zerstörung: Knöpfe, Schalter, Tafeln, alle schwer verstrahlt, wurden entfernt; die Konsolen sind nur noch durchlöchertes Metall. Der Fußboden klebt, da er mit einer Chemikalie überzogen wurde, die Radioaktivität bindet. Der Eindruck dieses Ortes ist beklemmend und strahlt Verheerung in jeder Hinsicht aus. Der AKW-Mitarbeiter erläutert, dass den Konstrukteur*innen und Ingenieur*innen damals nicht bekannt war, dass der Reaktor bei minimaler Leistungsstufe am instabilsten ist und das Einfahren der Bremsstäbe zunächst die Leistung sprunghaft ansteigen lässt, bevor es zu einer Drosselung der Kernreaktion kommen kann. Tschernobyl allgemein und der Kontrollraum 4 im Besonderen sind daher Orte, an denen wie wohl sonst nirgends die menschliche Hybris, die Naturgewalten absolut beherrschen zu können, zum Ausdruck kommt. Die Sowjetunion traf dies doppelt schwer, da sie sich als Land der Ingenieur*innen pries, die sich die Natur unterworfen hatten. Das Eingeständnis, dass weder die Technik unfehlbar noch die Natur kontrollierbar waren, trug entscheidend zum Zusammenbruch des Sowjetreichs 1991 bei.

Neuer Sarkophag um den Unglücksreaktor mit Denkmal. © Tom Weber

Ein Museumskonzept muss her!

Tschernobyl bzw. die 30-Kilometer-Sperrzone mit den insgesamt 69 evakuierten Dörfern und Städten, den stillgelegten Reaktoren 1 bis 3, dem havarierten Reaktor 4 und der Antennenanlage ist der ideale Ort, um Europas größtes Freilichtmuseum für die sowjetische Moderne, die menschliche Hybris und den Kalten Krieg zu errichten. Während die Führungen durch die Reaktoren inzwischen zentral staatlich organisiert werden, befindet sich alles andere in permanentem Verfall: die Gebäude samt verbliebenem Interieurs verrotten zusehends. Die Besucher*innen unterschreiben am Eingang der Sperrzone, dass sie kein Haus betreten werden, aber natürlich hält sich niemand daran. Die Aufgabe, hier ein europäisches Museumskonzept zu erarbeiten und zu überlegen, was konserviert wird, was evtl. restauriert wird, was man dem Verfall überlässt, ist gewaltig. Genauso groß ist aber auch die Chance, dem wilden Totenstadttourismus das Morbide, Sensationslüsterne zu nehmen und die Neugier auf eine professionelle Schau zum Alltagsleben im Kalten Krieg umzulenken. Die Errichtung von Mahnmälern und die Mythisierung als Posaunenstoß des dritten Engels (Johannes 8; 10-11) haben schon begonnen.

Posaunenstoß des dritten Engels. © Tom Weber

 

Wir danken Tom Weber für die freundliche Genehmigung seine Fotoserie aus Pripjat zu veröffentlichen.

 


 

[1] Die HBO-Serie Chernobyl erhielt bei der diesjährigen Golden Globe Verleihung zwei Awards: als beste Fernsehserie und für den besten Nebendarsteller (Stellan Skarsgård).