von Melanie Arndt

  |  

1. Juni 2014

 

Die Energienutzung der Welt ist in eine neue Epoche eingetreten. Es geschah am 27. Juni 1954. Die Menschheit ist noch weit davon entfernt, die Bedeutung dieser neuen Epoche zu erfassen“, erklärte der sowjetische Atomphysiker Аnatolij Aleksandrov[1] begeistert nach der Inbetriebnahme des ersten industriell genutzten Atomreaktors „AM-1“[2] in der Stadt Obninsk, knapp 100 Kilometer südwestlich von Moskau. Im Gegensatz zum Pathos Aleksandrovs veröffentlichte die „Pravda“ nur eine äußerst nüchterne und spärliche Meldung.[3] Ohne Details wie den Ort preiszugeben, deklarierte sie lediglich, dass es gelungen sei, mittels Atomspaltung Energie (5.000 Kilowatt) zu produzieren. Information genug, den „atomic power race“ auszurufen, wie es die „New York Times“ umgehend tat.[4]

Atomenergie spielte eine entscheidende Rolle im Systemwettbewerb des Kalten Krieges. Neben der militärischen Atomenergienutzung war es das „friedliche Atom“[5], das zum Spielball im Kampf um die ideologische und technologische Vorherrschaft wurde. Nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki erschienen die utopischen Ideen der „friedlichen Nutzung“ der gewaltigen Kräfte des Atoms als geeignetes Mittel, die verheerenden Folgen ihrer militärischen Nutzung in den Hintergrund zu drängen. Die „Atomeuphorie“ der 1950er und 1960er Jahre herrschte auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Das „Atomzeitalter“ weckte Hoffnungen auf eine im wörtlichen Sinne – und zu diesem Zeitpunkt noch positiv konnotierte – strahlende Zukunft. Die Atomspaltung bot nicht nur neue Einsichten in die „Natur der Natur“, indem sie buchstäblich deren Kern freilegte, sondern versprach auch eine nicht versiegende und umweltfreundliche Energiequelle für die immer stärker energieabhängigen Gesellschaften.

Die USA war in gleichem Maße Pionier bei der Entwicklung der zivilen Atomenergienutzung wie die Sowjetunion. Der erste Reaktor der Welt, der durch Atomspaltung Energie produzierte, befand sich im nordamerikanischen Idaho, brachte 1951 allerdings nur vier Glühbirnen zum Leuchten.
Eisenhowers „Atoms for Peace“-Rede vor der Hauptversammlung der Vereinten Nationen 1953 ebnete hingegen den Weg für private Unternehmen und trieb die zivile Atomenergieproduktion voran, die schließlich im „Atomic Energy Act“ von 1954 manifestiert wurde.
Doch während in den USA die gesetzlichen Grundlagen geschaffen wurden, bereiteten in der Sowjetunion vor allem Zwangsarbeiter in nur drei Jahren den Boden für das erste wirtschaftlich betriebene AKW Obninsk, einer ursprünglich mit nur knapp 130 Einwohnern bewohnten Siedlung.[6] In den achtundvierzig Jahren, die der Reaktor bis zu seiner Abschaltung im April 2002 lief, wuchs die Siedlung zu einer Stadt mit mehr als 100.000 überdurchschnittlich gut ausgebildeten Einwohnern heran. Obninsk gehörte zum System der „geschlossenen Städte“ (zakrytyj gorod), die nur mit Sondergenehmigungen betreten werden durften. Gleichzeitig war es eine der stark subventionierten sozialistischen Musterstädte, die bis heute stolz den Beinamen „erste naukograd“ („Wissenschaftsstadt“) trägt, weil in ihr neben der Atomenergieproduktion, Atomforschung und eine ganze Reihe anderer – vor allem sicherheitspolitisch relevanter - Forschungseinrichtungen angesiedelt wurden.[7] Noch heute rühmt sich Obninsk all seiner Primuspositionen. Dazu zählen nicht zuletzt auch Besuche sowjetischer Helden, wie der des ersten Kosmonauten Jurij Gagarin am 31.Mai 1966.[8]
Beteiligt an der Planung des Atomkraftwerkes Obninsk waren nicht nur sowjetische Spezialisten, sondern in den Anfangsjahren auch deutsche Kernphysiker unter der Leitung von Heinz Pose[9]. Vermutlich stammte auch das in Obninsk verarbeitete Uran aus der DDR. Die USA benötigten schließlich drei Jahre, um den Vorsprung der Sowjetunion aufzuholen. Dabei wetteiferten die US-Unternehmen nicht nur mit dem ideologischen Feind, sondern auch untereinander. Den ersten Platz machten sich dabei vor allem zwei Standorte streitig: Vallecitos in Kalifornien und Shippingport in Pennsylvania, die beide Ende 1957 in Betrieb gingen.[10]

Die sowjetische (und auch die russische) Geschichte der zivilen Atomenergienutzung nahm in Obninsk ihren Ausgang. Letztendlich konnte auch die Katastrophe von Tschernobyl diese Entwicklung nicht dauerhaft erschüttern. Der eingangs erwähnte Aleksandrov, der 1954 die neue Ära bejubelte, erbat allerdings, entsetzt von der Katastrophe in Tschernobyl 1986,  seinen Rücktritt als Präsident der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion. Dennoch blieb er bis zu seinem Lebensende vehementer Verfechter der Atomenergienutzung und führte Unfälle lediglich auf menschliches Versagen und nicht auf die komplexe, unkalkulierbare Hochrisikotechnologie zurück. Diese Sichtweise korrespondiert mit der Einstellung der Mehrheit der Bevölkerung in den post-sowjetischen Staaten und deutet auch darauf hin, dass sowjetisches Technik- und Expertenvertrauen – für dessen Berechtigung Obninsk als Paradebeispiel gilt - bis heute nachwirken. 

 

[1] Website des Forschungsinstituts des ehemaligen AKW Obninsk, Physikalisch-energetisches Institut ”A.I. Lejpunskij”, Pervaja v mire AES [Erstes AKW der Welt], (18.6.2014).
[2] „AM-1“ steht für Atom Mirnij – 1 / Friedliches Atom – 1.
[3]  O puske v SSSR pervoj promyšlennoj ėlektrostancii na atomnoj ėnergii [Über die Inbetriebnahme des ersten industriellen Kraftwerkes auf Atomenergiebasis in der UdSSR], in: Pravda, 1.7.1954, S.1.
[4]  Atomic Power Race, in: NYT, 1.7.1954.
[5]  Der Beitrag differenziert aus pragmatischen Gründen zwischen „militärischer“ und „ziviler“ Nutzung der Atomenergie, auch wenn diese Unterscheidung problematisch ist, weil „friedliche“ Anlagen immer auch auf Produktion von Waffenmaterial umgestellt werden können.
[6] Vgl. ausführlicher zur Geschichte des AKW Obninsk sowie der Stadt Obninsk: Paul Josephson, Red Atom. Russia’s Nuclear Power Program from Stalin to Today, New York 2000. Soweit nicht anders vermerkt, beruhen meine Angaben auf diesem Buch. Vgl. zusätzlich auch die russischsprachige Website zur Erinnerung an das AKW mit interessantem Archivmaterial, (18.6.2014).
[7] Zur Entstehung der ersten geschlossenen Atom-Musterstädte („atomogrady“)  im militärischen Bereich in der Sowjetunion (Cheljabinsk) und in den USA (Richland) vgl. das jüngst von Kate Brown erschienene Buch: Plutopia, Nuclear Families, Atomic Cities, and the Great Soviet and American Plutonium Disasters, Oxford/New York 2013.
8]  Foto des Besuchs (18.6.2014).
[9]  Dass Heinz Pose während des Nationalsozialismus sowohl Mitglied der SA als auch der NSDAP war, schien weder in der Sowjetunion noch später in der DDR, wo er eine Professur an der technischen Hochschule Dresden innehatte und zweimal mit dem Vaterländischen Verdienstorden ausgezeichnet wurde, ein Hindernis in seiner Karriere gewesen zu sein.
[10] Shippingport ging erst im Dezember in Betrieb und ist deswegen – entgegen der öffentlichen Wahrnehmung – nicht das erste Atomkraftwerk, auch wenn es das erste war, was ausschließlich zu zivilen Zwecken konstruiert worden war. Vallecitos produzierte schon im Oktober 1957 Strom.