von Ina Friedmann

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30. Juni 2016

„Alle fragen sich, warum ich so seltsam bin. Keiner weiß eine vernünftige Erklärung. Derweil wäre ich gern genauso wie die anderen.“ Mit diesen Worten einer Patientin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Niederösterreichischen Landesklinikums in Tulln beginnt die österreichische Dokumentation „Wie die anderen“.

Die junge Frau ist eine jener Minderjährigen, die dem Regisseur Constantin Wulff im Zeitraum von eineinhalb Jahren Einblick in ihre Therapiesituation gewährten. Der Dokumentarfilm konzentriert sich jedoch nicht allein auf die PatientInnen – auch das Team der Abteilung, seine Handlungsräume und Alltagssituationen werden im Direct Cinema-Modus dargestellt.

Durch die gewählte Perspektive wird der/die ZuschauerIn zur unmittelbaren TeilnehmerIn der jeweiligen Gesprächssituationen. Das bereits bestehende Verhältnis von Betreuungsperson und Betreutem/r offenbart allerdings eine Wissenslücke über Hintergründe und zugrundeliegende Kontexte des Aufenthalts bzw. der ambulanten Behandlung in der Klinik. Dazu folgen keine weiteren Informationen, allerdings sind diese für das Verständnis der handelnden Personen auch nicht notwendig. Dadurch gelingt eine einfühlsame Darstellung und die Vermeidung von Voyeurismus. Die Dokumentation zeigt, mit welchen Schwierigkeiten die Kinder und Jugendlichen, aber auch das Personal in ihrer täglichen Arbeit konfrontiert sind. An manchen Stellen bleibt dennoch der Wunsch nach „Aufklärung“ bestehen – nicht allein, um „zu wissen wie es weitergeht“, sondern auch, um die Situationen besser verstehen oder die Entscheidung des Teams über das weitere Vorgehen nachvollziehen zu können. Dass diese Wissenslücke beabsichtigt ist, kann auf der Homepage des Films nachgelesen werden: „Wie wir kann auch das Abteilungspersonal die Kinder und Jugendlichen nur ein kurzes Stück begleiten, bevor sie wieder in ihren Alltag zurückkehren.“[1]

Besonders interessant ist die Darstellung der vielen Aufgabengebiete der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die von der therapeutischen Behandlung von Jugendlichen, die sich selbst verletzen, über Kinder mit problematischem familiärem Umfeld oder Entwicklungsverzögerungen bis hin zum Verdacht auf (sexuelle) Gewalt innerhalb der Familie und damit zusammenhängender behördlicher Intervention reichen. Die Frage, ob die Kinder- und Jugendpsychiatrie in jeder dieser Situationen tatsächlich die optimale Ansprechpartnerin ist, bleibt ebenso wie jene nach der konkreten Beteiligung anderer Institutionen leider unbeantwortet.
Deutlich werden allerdings die Handlungsspielräume des Teams: Die Problematik angemessener Intervention wird mehrmals angesprochen, die Rolle der Kinder- und Jugendpsychiatrie insgesamt diskutiert. So etwa, wenn eine Mitarbeiterin darauf verweist, dass die Abteilung zwar nicht die Rolle der Kriminalpolizei übernehmen könne, aber nun erneut in diese Position gedrängt würde. Nicht thematisiert wird jedoch, weshalb die Polizei in solchen Situationen (Verdacht auf Misshandlung) nicht eingeschaltet wird. Gerade diese Hinweise auf die gesellschaftliche Stellung der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Zusammenspiel mit anderen staatlichen Institutionen oder Behörden machen deutlich, welche Bereiche zum Arbeitsgebiet dieser Einrichtung zählen. Auffallend ist, dass sich diese seit der institutionellen Etablierung der Heilpädagogik in Wien im Jahr 1911 kaum verändert haben. Bereits in den 1910er Jahren wurden Kooperationen mit Kinder- und Jugendschutzvereinen, Kinder- und Erziehungsheimen, Jugendgericht, Polizei und Kinder- und Jugendfürsorge gebildet.

Wenngleich die Aufgabengebiete der Kinder- und Jugendpsychiatrie mehr oder weniger gleich geblieben sind, so kann nicht nachdrücklich genug auf die Veränderung im direkten Umgang mit den PatientInnen in diesen Einrichtungen hingewiesen werden. Wie die Dokumentation sichtbar macht, werden Möglichkeiten der Therapie inzwischen gemeinsam besprochen. Die PatientInnen erhalten Informationen über die Behandlungswege, und das Personal ist bereit, den Therapieverlauf zu erklären. Wie wichtig die Betonung dieses Wandels ist, zeigt sich im Vergleich mit der letzten österreichischen Dokumentation über die Kinderpsychiatrie „Problemkinder“ aus dem Jahr 1980.[2] Hierin wird die Innsbrucker psychiatrische Kinderbeobachtungsstation unter der Leitung von Maria Nowak-Vogl[3] problematisiert und die dort praktizierte „Behandlung“ der Kinder und Jugendlichen gezeigt. Der Umgang mit den Betroffenen war von Macht- und Gewaltstrukturen gekennzeichnet. Gerade hierin liegt das Verdienst der Dokumentation Wulffs: Vorurteilen und negativen Assoziationen wird die – in der Behandlung der Kinder und Jugendlichen deutlich werdende – Abkehr von gewaltsamen und unterwerfenden „Erziehungsmaßnahmen“ gegenübergestellt.

Diese negativen Assoziationen, die aus dem jahrzehntelang praktizierten Umgang mit als ‚auffällig‘, ‚anders‘ oder ‚erziehungsbedürftig‘ kategorisierten Kindern und Jugendlichen resultieren, sind auch heute noch sehr präsent. Diese Sichtweise steht nicht zuletzt mit der in den letzten Jahren öffentlichen Thematisierung der von Gewaltstrukturen geprägten Zustände in Kinder- und Erziehungsheimen wie auch in der Kinderpsychiatrie in Zusammenhang. Vorfälle, wie sie in den vergangenen Jahren über die deutschen Haasenburg-Heime bekannt wurden, sind in Österreich bereits einige Jahre zuvor medial thematisiert worden. Dabei ging es um die Zustände und die dort praktizierten Disziplinierungsmethoden bis in die 1980er Jahre, in privat und staatlich betriebenen Kinderheimen und in der Kinderpsychiatrie in Wien und Tirol, die in der Folge auch – in unterschiedlicher Intensität – erforscht wurden.[4] Dennoch besteht auf diesem Gebiet weiterhin Forschungsbedarf.

Die Abwendung von Gewalt, Disziplinierung und Pathologisierung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie setzte österreichweit zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein und schritt unterschiedlich schnell voran, erste Veränderungen zeigten sich ab den 1980er Jahren.
Das Konzept der Psychiatrie als reine Verwahranstalt wurde mittlerweile weitestgehend überwunden. Das bedeutet aber nicht, dass generell keine Verwahranstalten – auch für andere Personengruppen – existieren. Zwang ist heute jedoch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu einem großen Teil dem Mitbestimmungsrecht gewichen, soweit dies möglich ist. Dass dem auch Grenzen gesetzt sind, wird besonders an der Szene deutlich, in der eine der Patientinnen vorübergehend fixiert wird, um – wie aus einem Teamgespräch hervorgeht – nach ihrem Suizidversuch autoaggressive Handlungen zu verhindern. Die Verschiebung weg von einer ‚Schuldsuche‘ bei den PatientInnen hin zur problemlösungsorientierten Therapie wird dennoch immer wieder deutlich.

Die Dokumentation zeigt eindrücklich, wie engagiert das Team der Klinik auf die Kinder und Jugendlichen eingeht – trotz aller auf beiden Seiten existierenden Grenzen. Anschaulich gemacht wird auch die prekäre Situation in der alltäglichen Arbeit. So stellt etwa die personelle Unterbesetzung der Abteilung eine permanente Belastung des Teams dar, der durch individuelles Engagement allein nicht zu begegnen ist. Der Personalmangel wird interessanterweise nicht, wie vermutet, auf geringe finanzielle Ressourcen zurückgeführt, sondern auf einen eklatanten Mangel an FachärztInnen.
Die finanzielle Problematik rückt allerdings dann wieder in den Mittelpunkt, wenn in einer Diskussion zwischen dem Leiter Paulus Hochgatterer und seinen Mitarbeiterinnen über die dringend zu besetzende Stelle verhandelt wird. Dabei wird neben der akut kritischen Situation der Kinder- und Jugendpsychiatrie, welche die Kürzung des Angebotes beinhaltet, zugleich eine allgemeinere Thematik berührt: die Ausbildungssituation von jungen ÄrztInnen in Österreich.

Während der Großteil der Kinder und Jugendlichen entweder in der ambulanten oder der stationären Betreuungssituation gezeigt wird, fließen beide Behandlungsformen in der Therapiesituation einer jungen Frau zusammen. Sie reflektiert über ihre familiäre Situation nach den ambulanten Besuchen, denen letztlich die Aufnahme folgte. Generell wird den Familien der Kinder und Jugendlichen in der psychiatrischen und therapeutischen Arbeit viel Platz eingeräumt. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob ein Kind in der Familie gut aufgehoben oder doch eher Fremdunterbringung, also die Unterbringung in einer betreuten Wohngemeinschaft oder Pflegefamilie, angezeigt ist. Vielmehr werden die Eltern(teile) in Gesprächssituationen mit den Jugendlichen einbezogen. Die Sichtbarmachung dieser Umgangsweise mit PatientInnen und ihren Familien ist deshalb so bedeutend, weil in der österreichischen Heilpädagogik und Kinderpsychiatrie über einen langen Zeitraum Eltern und PatientInnen die jeweils letzten Glieder der Informations- und Handlungskette darstellten und somit auf der untersten Stufe der Krankenhaus-Hierarchie standen.

Die Dokumentation gewährt einen nüchternen, aber keinesfalls emotionslosen Einblick in den Alltag einer Kinder- und Jugendpsychiatrie, der nicht nur die vielfältigen Tätigkeitsfelder der ÄrztInnen, TherapeutInnen, SozialarbeiterInnen und PädagogInnen darstellt, sondern auch vorherrschende negative Stereotype auflöst. Es geht nicht mehr um die Unterdrückung von Individualität, um die Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen um jeden Preis, sondern darum, einen Weg zu finden, mit dem eigenen Selbst umzugehen. Dennoch bleibt am Ende die Frage, die schließlich alle betrifft: Ist es zwingend notwendig oder gar erstrebenswert, so zu sein „wie die anderen“?

 

Österreich 2015, Buch & Regie: Constantin Wulff; Kamera: Johannes Hammel, 95 Minuten

Offizielle Seite des Films, Filmstarts: Deutschland: Juni 2016, Schweiz: Februar 2016, Österreich: September 2015
Die DVD wird zu Beginn des Jahres 2017 erscheinen.

 

[1] Website des Films "Wie die anderen".
[2] Beleuchtet wurde darin auch der Umgang mit Minderjährigen in österreichischen Kinder- und Erziehungsheimen: Problemkinder, Dokumentarfilm von Kurt Langbein und Claus Gatterer, ORF-„Teleobjektiv“, 1980.
[3] Siehe dazu das an der Universität Innsbruck durchgeführte Forschungsprojekt: „Die Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl; interdisziplinäre Zugänge“.
[4] Auswahl an bisher erschienenen Publikationen: Reinhard Sieder/Andrea Smioski: Gewalt gegen Kinder in Erziehungsheimen der Stadt Wien. Endbericht, Wien Juni 2012; Ingrid Bauer/Robert Hoffmann/Christina Kubek: Abgestempelt und ausgeliefert. Fürsorgeerziehung und Fremdunterbringung in Salzburg nach 1945, Innsbruck 2013; Horst Schreiber: Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol, Innsbruck 2010, Michaela Ralser/Nora Bischoff/Christine Jost/Ulrich Leitner: „Wenn du hundert Jahre alt wirst, das vergisst man nicht.“ Das System der Fürsorgeerziehung. Zur Genese, Transformation und Praxis der Jugendfürsorge und der Landeserziehungsheime in Tirol und Vorarlberg, Forschungsbericht, Innsbruck 2015; Der Endbericht der sog. „Malaria-Kommission“, welche die Zustände und Methoden der Wiener Kinderpsychiatrie bis in die 1960er Jahre erforschte, ist nicht online verfügbar; Laufende Projekte: „Die Wiener Heimstudie“, über körperliche, sexuelle emotionale Gewalt in Einrichtungen der Wiener Jugendwohlfahrt bis in die 1980er Jahre; „Die Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl; interdisziplinäre Zugänge“.