von Christoph Plath

  |  

1. Februar 2017

Veröffentlicht am 6. Februar 2017

Der digitale Wandel ist in aller Munde. Dies kann wenig überraschen, hat doch die rapide Verbreitung computergestützter Technologien und nicht zuletzt die zunehmende Vernetzung der Welt unübersehbar zu einer fundamentalen Veränderung der Gesellschaft geführt. Von diesem gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess bleibt selbstverständlich auch die Geschichtswissenschaft nicht unberührt: Digitale Technologien prägen nicht nur längst den Forschungsalltag und haben zu einem Umbruch des wissenschaftlichen Publikationssystems geführt, auch als zeithistorischer Untersuchungsgegenstand gewinnen Computerisierung und Digitalisierung zunehmend an Bedeutung. Zeitgeschichte-online wird sich im Rahmen einer Reihe von sporadischen Beiträgen diesen Entwicklungen widmen und versuchen, sich dem Themenkomplex aus verschiedenen Perspektiven zu nähern. Ein zentrales Anliegen der Redaktion ist es, den Blick von den vielbeachteten „Big Data"-Großförderungsprojekten auf die meist unbemerkte alltägliche Vielfalt digitaler Geschichtswissenschaften zu lenken. Hierbei soll jedoch auch die teils utopische Überhöhung der Potenziale der neuen Digitalität der Geisteswissenschaften, wie sie sich beispielsweise in der hohen Erwartung an die „Digital Humanities" ausdrückt, kritisch begleitet und hinterfragt werden.

Die Reihe „Digital History“ wird von unserem Redakteur Christoph Plath betreut. Den Auftakt bildete das Interview mit Michael Goebel über den praktischen Nutzen von OCR und die Auswirkungen der Digitalisierung in den Geschichtswissenschaften im Juni 2016.

      Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lebt erstmals in der Geschichte die Mehrheit der Menschheit in Städten. Nach Angaben der Vereinten Nationen lag der Anteil städtischer Bevölkerung im Jahr 2014 weltweit bei 54 %, und auch künftig wird die globale Urbanisierung rasch voranschreiten.[1] Bereits im Jahre 2050 werden voraussichtlich zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben. Dies bedeutet, dass sich die Verteilung zwischen Land- und Stadtbevölkerung in nur einem Jahrhundert verkehrt haben wird. Urbane Zentren bilden somit nicht nur einen bedeutsamen Faktor bei der Bewältigung umwelt- oder energiepolitischer Herausforderungen, sie nehmen zudem eine herausragende Stellung in einer zunehmend verflochtenen und vernetzten Welt ein.[2] Städte wirken einerseits als Motor der Globalisierung, werden aber andererseits zugleich hochgradig von dieser beeinflusst.

Dieser ambivalenten Rolle der Stadt versucht der im November 2015 gestartete Blog „Global Urban History“ Rechnung zu tragen. Die BetreiberInnen des englischsprachigen Angebotes, GlobalhistorikerInnen der Freien Universität Berlin und der Detroiter Wayne State University, verfolgen hierbei zwei unterschiedliche Zielsetzungen. Zum einen soll eine globalhistorisch informierte Perspektive dazu beitragen, die unvermindert in der historischen Stadtforschung verankerten eurozentrischen Analysekategorien zu identifizieren und zu überwinden. Hiermit zusammenhängend soll auf eine Privilegierung nordamerikanischer und europäischer Städte reagiert und der analytische Blick verstärkt auf bislang marginalisierte urbane Zentren des globalen Südens gelenkt werden. Und nicht zuletzt sollen globale Verflechtungen von städtischen Räumen sichtbar gemacht werden.[3] Zum anderen sollen die innerhalb der globalhistorischen Forschung oftmals auf einer sehr abstrakten Ebene diskutierten Verflechtungen an konkreten Fallbeispielen exemplifiziert und durch die Rückbindung an deutlich lokalisierbare Akteure und Räume greifbarer gemacht werden.[4] Dieser konzeptionellen Ausrichtung folgend, strebt der Blog eine Zusammenführung der Perspektiven von Global- und Stadtgeschichte an, wodurch sich die BetreiberInnen neue Erkenntnisse für beide Teildisziplinen erhoffen. Dementsprechend richtet sich der Blog in erster Linie an ein Fachpublikum und weniger an die breite Öffentlichkeit.

Bisher stellt der Blog rund 50 Beiträge internationaler HistorikerInnen zur Verfügung, welche in drei Kategorien Article, Reviews und Conversations – untergliedert werden. Den inhaltlichen Kern des Blogs bilden unzweifelhaft die Artikel, welche den Großteil aller publizierten Inhalte ausmachen und nahezu durchgängig ein hohes inhaltliches wie sprachliches Niveau nachweisen. Die Formate reichen von Projektvorstellungen und Fallstudien, die ein großes räumliches und thematisches Spektrum abdecken, über methodische Reflexionen hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen einer globalen Stadtgeschichte. Hierbei ist der sich bietende Gesamteindruck überaus positiv. Ungeachtet der großen thematischen Spannbreite – eine Darstellung der Gründung der Osmanischen Kaiserlichen Bank[5] und die Geschichte des Aufstieges der Autostadt Detroit[6] beispielsweise haben auf den ersten Blick denkbar wenig gemein – eint alle Beiträge ein profundes Interesse an den komplexen Wechselwirkungen zwischen Entwicklungen des urbanen Raums und globalen Prozessen. Die Beiträge decken hierbei zahlreiche relevante Aspekte ab, wie die Herausbildung urbaner Identitäten, die Einflüsse von Makroprozessen, etwa einer sich integrierenden globalen Ökonomie oder imperialer Ordnungen, sowie das Zusammenspiel von technologischen und ökonomischen Innovationen und der zunehmenden Verflechtung entfernter Weltregionen. Durch diese konsequenten Rückgriffe auf eine übergeordnete Fragestellung vermittelt der Blog stets einen kohärenten Eindruck. Die jeweiligen Beiträge vermögen im Gesamtkontext der Seite auch immer dann besonders zu überzeugen, wenn sich die AutorInnen einem Themenkomplex aus verschiedenen Blickwinkeln nähern und sich auf diese Weise ein breites Panorama entfaltet.[7]

Gerade vor diesem Hintergrund und gemessen an dem Anspruch der BetreiberInnen finden sich jedoch auch verbesserungswürdige Aspekte. Erstens ist es bedauerlich, dass dem afrikanischen Kontinent verhältnismäßig wenig Raum gegeben wird. Bis auf die Veröffentlichung zweier Beiträge im November und Dezember 2016 fehlen Beiträge zu afrikanischen Städten vollständig. Wie Liora Bigon in einem Kommentar für den Blog zutreffend bemerkt, steht eine von europäischen Vorannahmen befreite Geschichte der Urbanisierung des Kontinents ebenso noch in ihren Anfängen wie die Einbeziehung afrikanischer Städte in die Globalgeschichte.[8] Hier böte sich besonders für einen Blog zur „Global Urban History“ eine Vielzahl von Möglichkeiten. Zweitens ist augenfällig, dass nahezu sämtliche Artikel das 19. und 20. Jahrhundert thematisieren. Angesichts der Bedeutung, die urbanen Infrastrukturen jedoch bereits seit dem 16. Jahrhundert nicht zuletzt für die Herausbildung globaler Handelsnetzwerke zukam, wäre eine stärkere Einbeziehung früherer Epochen wünschenswert. Drittens konzentriert sich der Großteil der Artikel auf eine Untersuchung von Großstädten und Metropolregionen, wodurch jedoch der Einfluss kleinerer und peripherer Städte auf globale Entwicklungen leicht aus dem Blick gerät.[9]

Der Aufbau des auf WordPress basierenden Blogs ist nüchtern, funktional und entspricht dem gängigen Standard vergleichbarer Webauftritte. Die aktuellen Beiträge werden auf der Startseite chronologisch aufgeführt, und auf archivierte Inhalte kann komfortabel über in den Header eingebettete Links zugegriffen werden. Auffällig jedoch ist, dass zwar die Archive der Rezensionen und Interviews auf diesem Wege erreichbar sind, das Artikelarchiv jedoch nicht. Dieses muss über einen leicht zu übersehenden Link am Ende der Seite aufgerufen werden, sodass die Navigation gerade bei der zentralen Kategorie der Seite unnötig erschwert wird. Zudem verfügt der Blog über eine basale Volltextsuche und ein einfaches, jedoch ausgesprochen zweckdienliches Klassifikationssystem, welches durch eine Wolkendarstellung der häufigsten Schlagwörter unterstützt wird. Die entsprechenden Schlagworte werden auch am Ende eines jeden Artikels angezeigt, wodurch das Auffinden themenverwandter Beiträge vereinfacht wird. So bieten sich dem Nutzer mit den Kategorien, den Schlagwörtern und der Volltextsuche drei Möglichkeiten der Recherche. Bei dem gegenwärtigen Umfang des Blogs ist diese Auswahl vollkommen ausreichend, bei einer steigenden Anzahl von Beiträgen sollte jedoch eine erweiterte Suchfunktion mit differenzierteren Kriterien integriert werden.

Über das inhaltliche Angebot hinausgehend bietet der Blog unterschiedliche Möglichkeiten der Partizipation. Nicht nur potenziell beitragende ForscherInnen werden explizit zu Einreichungen aufgerufen, auch interessierten NutzerInnen bieten sich Interaktionsmöglichkeiten. So können diese unter jedem Beitrag Kommentare hinterlassen, ohne hierfür registriert zu sein. Auch wenn diese Funktion derzeit hauptsächlich durch Pingbacks, also Benachrichtigungen über Verlinkungen auf anderen Blogs, frequentiert wird, werden auf diesem Wege NutzerInnen ebenso zu einer aktiven Beteiligung eingeladen wie durch die in den Blog prominent eingebetteten Auftritte bei Facebook und Twitter. Auf beiden Plattformen werden über die Ankündigung neuer Beiträge hinausgehend unregelmäßig auch weitergehende Informationen für interessierte AnwenderInnen zur Verfügung gestellt sowie auf einschlägige Webaufritte verwiesen.

Leider kann letzteres eine eigenständige Linksektion nicht adäquat ersetzen, sodass sich der Blog nur eingeschränkt als Recherchequelle eignet, sondern sich hauptsächlich für die ein- und weiterführende Lektüre anbietet. In dieser Hinsicht jedoch überzeugt der Blog auf ganzer Linie, und mit den aufgeführten und keinesfalls gravierenden Einschränkungen lässt sich konstatieren, dass es den BetreiberInnen gelingt, den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Mit der stetig wachsenden Zahl von Beiträgen verdichtet sich auch der Eindruck der Potenziale einer auf die Prämissen der Globalgeschichte rekurrierenden Untersuchung urbaner Räume. Diese auszuloten, mit interessanten Fallstudien zu illustrieren und öffentlich zur Diskussion zu stellen, ist bereits jetzt ein Verdienst des Blogs. Auch wenn die globale Dimension von Städten spätestens seit Saskia Sassens bahnbrechender Studie zu „globalen Städten“[10] aus dem Jahre 1991 intensiv diskutiert wird, geht „Global Urban History“ methodisch wie auch konzeptionell neue Wege. So nimmt der Blog in diesem Feld durchaus eine Vorreiterrolle ein und bietet zugleich ein interessantes Experimentierfeld für geneigte (Nachwuchs-)HistorikerInnen.

 

Global Urban History
Hrsg. v.: Michael Goebel, Tracy Neumann, Joseph Ben Prestel

 




[1] Vgl. hierzu und zum Folgenden: Department of Economic and Social Affairs: World Urbanization Prospects. The 2014 Prospects (=ST/ESA/SER.A/366), New York 2015.
[2] Das rapide Voranschreiten der Integration der Weltökonomie verstärkte hierbei die traditionelle Bedeutung des urbanen Raumes, welcher stets die technologischen und ökonomischen Voraussetzungen für eine fortschreitende Globalisierung generierte und bereitstellte und zugleich als Kontaktzone und Knotenpunkt wirkte.
[3] Vgl. hierzu: Allen, Josh: “Global Urban History”, Freie Universität Berlin, a discussion with Michael Goebel, in: unstablepraxis, 13.05.2016 (zuletzt aufgerufen am:  04.12.2016)
[4] Ebd.
[5] Steininger, Fabian: Claims of Modernity: The Building of the Ottoman Imperial Bank in Istanbul, in: Global Urban History, 01.06.2016 (zuletzt aufgerufen am 04.12.2016)
[6] Link, Stefan: Detroit: Capital of the Automotive Age, in: Global Urban History, 06.12.2015 (zuletzt aufgerufen am 04.12.2016)
[7] Ein solches Beispiel bilden die Beiträge, die sich den Auswirkungen zunehmender Mobilität widmen. Diese reichen thematisch von der Bedeutung des Automobils für die ghanaische Stadtbevölkerung über die Rolle der Schifffahrt für die Entwicklung von Hafenstädten bis hin zum Einfluss von Migrationsbewegungen auf regionale Identitäten, beispielsweise in Mexiko City. Die Artikel ermöglichen nicht nur einen Einblick in spezifische Kontexte und fügen vermeintlich Bekanntem neue Perspektiven hinzu, sie vermitteln vor allem einen Eindruck der Vielschichtigkeit des Themenfeldes. Vgl. hierzu: Tag Archives: Transport, in: Global Urban History (zuletzt aufgerufen am 06.12.2016)
[8] Bigon, Liora: African Urban History and Global History – a Comment, in: Global Urban History, 07.07.2016 (zuletzt aufgerufen am 06.12.2016)
[9] Vgl. hierzu: Connolly, James J.: Decentering Urban History. Peripheral Cities in the Modern World, in: Journal of Urban History, Jg. 35, 01/2008, S. 3-14.
[10] Saskia Sassen, The Global City. New York, London, Tokyo, Princeton 1991.