Menschen- und Bürgerrechte im digitalen Zeitalter
Informations- und Kommunikationstechnologien durchdringen gegenwärtig alle Lebensbereiche. Dabei haben sich mit dem Anbruch des digitalen Zeitalters auch die Vorstellungen von Öffentlichkeit, Privatsphäre und Partizipation stark gewandelt. Techniken des „e-Governments“ steuern politische und soziale Prozesse. Computer regulieren den globalen Finanzmarktkapitalismus, berechnen (und manipulieren) Wahlergebnisse, lenken globale Kommunikationsströme, optimieren industrielle Produktions- und logistische Vertriebsprozesse und speichern überdies das Wissen von Verkehrsbetrieben, Krankenhäusern, Polizeibehörden und Geheimdiensten. Mit dieser Form der „Verdatung der Welt“ sind in den letzten Dekaden neue Wissensräume entstanden. Computer, Suchmaschinen und Datenbanken ordnen unsere moderne Welt.[1] Sie regeln den öffentlichen Raum und stecken zugleich die Sphäre des Privaten ab.
Die „Informatisierung der Gesellschaft“[2] rückte von Beginn an Fragen nach den Menschen- und Bürgerrechten des digitalen Zeitalters in den Fokus. Hier kam sowohl der Freiheit des Datenverkehrs – also der Verbreitung von und dem Zugang zu Informationen – als auch der Sicherheit des Datenaustauschs besondere Bedeutung zu. Bereits ausgangs der 1960er Jahre sorgte sich eine wachsende Zahl an Bürgern um den Schutz ihrer Daten: Wo begann und wo endete die Kontrolle im bürokratischen Regime der „Regierungsmaschine“[3]? Lange vor der Aufregung des „Orwell-Jahres“ mobilisierte das Schreckensszenario des gläsernen Bürgers und der staatlichen Überwachung so weite Teile der Bevölkerung und brachte neue Sub- und Gegenkulturen hervor. Hinter der Debatte um die „digitalen Mauern“ der „Netzwerkgesellschaft“ und der Auseinandersetzung um das „Ende der Privatsphäre“[4] bzw. ein „Recht auf Vergessenwerden“ verbergen sich bis heute kontroverse Fragen nach Reichweite und Grenzen des Geheim- und Datenschutzes. So stand in den letzten Jahren insbesondere auch die Transparenz der Datenerhebung und -weitergabe im Fokus.[5] Derweil erlangen die technologischen Grundlagen und Fallstricke einer „Informations- und Meinungsfreiheit“ in Zeiten von Fake News, politischen „spin-doctors“ und manipulativen Trollen neue Brisanz. Vor allem aber scheinen – im Geiste der ab den 1970er Jahren zusehends hitzigen Auseinandersetzung um einen „freien Informationsfluss“ – die Probleme einer „digitalen Spaltung“ zwischen Nord und Süd in der Ära globaler Nachrichtenströme allgegenwärtig.
Ein Recht auf Information?
Aus der Perspektive einer Geschichte der Menschenrechte war die Informationstechnik stets ein ambivalentes Phänomen. Die digitale Revolution erwies sich sowohl als ein Schlüssel zur demokratischen Meinungsbildung als auch als ein Werkzeug repressiver Regime. Sie stieß – wie im Arabischen Frühling 2010 – soziale und politische Umwälzungen an. Aus historischer Perspektive stellen sich in diesem Zusammenhang vor allem Fragen nach der Existenz und Ausgestaltung eines Menschenrechts auf Information („right to information“) bzw. eines Rechts zu kommunizieren („right to communicate“).
Das World Wide Web bündelte hier ab der Mitte der 1990er Jahre positive wie negative Erwartungen. Für die Apologeten der „digitalen Revolution“ bedeutete die anbrechende „Netzwerkgesellschaft“ die Renaissance eines Zeitalters athenischer Demokratie, in der das Netz als „elektronische Agora“ erscheinen werde. In den Augen der Skeptiker hingegen zeichneten die Medien für eine nie dagewesene soziale Spaltung verantwortlich, die sich als „digitale Kluft“ zwischen denen, welche die neuen Techniken beherrschen, und denen, die keinen Zugang zu ihnen und zugleich keine ausreichende „computer literacy“ besaßen, darstellte.[6]
Der von der UNESCO und der Internationalen Fernmeldeunion ITU veranstaltete „Weltgipfel zur Informationsgesellschaft“ diskutierte im Dezember 2003 leidenschaftlich über die „digitalen Herausforderungen“ an der Schwelle des 21. Jahrhunderts. Am Ende proklamierte er das hehre Ziel, eine „neue Gesellschaft“ zu gründen, „where everyone can create, access, utilize and share information and knowledge.“[7]
Die Debatte um „Informationsfreiheit“ und eine neue „Weltinformationsordnung“ nach 1945
Die Beziehungsgeschichte von „Informationstechnik“ und „Menschenrechten“ war indes keineswegs ein Phänomen der Jahrtausendwende. Die Ursprünge der Debatte um den „Digital Divide“ reichen vielmehr bis in die Gründungsphase der Vereinten Nationen zurück.
Bereits auf der UN-Konferenz zur „Informationsfreiheit“ in Genf im April 1948 wurde die erste Grundsatzerklärung eines „Informationsfreiheitsgesetzes“ verabschiedet. Der Vorsitzende der Konferenz, Carlos Peña Romulo, erklärte feierlich, diese Erklärung bedeute nichts weniger als die „Magna Charta der Meinungsfreiheit“ und des „freien Denkens“. Der ungehinderte „Fluss von Informationen“ über die Grenzen nationaler Territorien und politischer Regime hinweg sei, so die Präambel des Konventionsentwurfs, „a fundamental human right and [...] the touchstone of all the freedoms to which the United Nations is consecrated“.[8] Die Genfer Konferenz inspirierte schließlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, die „Informationsfreiheit“ als das Recht definierte, „to seek, receive and impart information and ideas through any media and regardless of frontiers“[9] und so beide Dimensionen – sowohl die ungehinderte Produktion und Verbreitung als auch die Rezeption von Wissen – akklamierte.
In den 1960er Jahren avancierte die „Freiheit“ der Kommunikation im Kielwasser der Kritik eines westlichen (Medien-)Imperialismus zum Gegenstand internationaler Kontroversen. In diesem Zusammenhang stand auch die Debatte um eine „Neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung“. Ein wichtiges Forum der Debatte waren auch hier die Vereinten Nationen. Zu den zentralen Wegmarken der Auseinandersetzung zählten die „Satellitendeklaration“ (1972) und die „Massenmedien-Deklaration“ (1978), der „MacBride-Report“ (1980) und schließlich die Gründung eines Internationalen Programms zur Entwicklungskommunikation (IPDC) (1980).[10]
Im Zuge des Nord-Süd-Konflikts polarisierte sich die Auseinandersetzung um die gerechte Verteilung von Wissen und die Reichweite und Grenzen des globalen „Informationsflusses“ („free and balanced flow of news“) bis zur Mitte der 1980er Jahre weiter. Für die Kritiker zählte neben der Monopolisierung der Nachrichteninhalte und -infrastrukturen durch multinationale Agenturen und Medienkonzerne im Bereich der Computer- und Satellitentechnik auch der ungleiche Zugang zu Datenbanken zu den zentralen Dimensionen des Ungleichgewichts. Die Verfechter der „Informationsfreiheit“ hingegen sahen in einer Regulierung des „freien Informationsflusses“ die Vorboten von Zensur und Propaganda.
Die Verantwortung der „Informatik“
Die nachhaltige Politisierung des Diskurses zeitigte in den 1980er Jahren erste – nationale wie internationale – Initiativen zur Erarbeitung einer Informationsethik. So diskutierten der Dachverband der Informatikgesellschaften (IFIP) und das „Intergovernmental Bureau of Informatics“ der UNESCO die humanitäre Verantwortung der Informatik. Zugleich avancierte die neue Technik rasch zum zentralen Werkzeug in der alltäglichen Praxis von Medienkonzernen und NGOs wie „Reporter ohne Grenzen“ oder „Transparency International“. Dabei kreisten die moralpolitische Debatte um die Chancen und Risiken des Einsatzes der Technik zur Aufdeckung, Beobachtung und Sanktionierung von Menschenrechtsverletzungen und die Wege zur Beseitigung des „digital divide“ zwischen Nord und Süd.[11] Die Kritik eines „elektronischen Kolonialismus“ in den 1970er und 1980er Jahren wies hier der gegenwärtigen Diskussion um die Auswirkungen einer „Global Algorithmic Governance“[12] den Weg.
So bilden Informations- und Kommunikationstechnologien bis heute eine ebenso kontrovers diskutierte wie zentrale Dimension des Diskurses um Meinungs- und Pressefreiheit, aber auch Datenschutz und „informationelle Selbstbestimmung“. Das Verständnis und die Ausgestaltung der Menschen- und Bürgerrechte im 20. und 21. Jahrhundert sind demnach bis zu einem gewissen Grad auch das Ergebnis der informationspolitischen Weichenstellungen des digitalen Zeitalters. Hier eröffnet sich der historischen Forschung ein bislang wenig beachtetes, hochspannendes Feld.
[1] Vgl. David Gugerli: Suchmaschinen. Die Welt als Datenbank, Frankfurt a.M. 2009; ders.: Wie die Welt in den Computer kam. Zur Entstehung digitaler Wirklichkeit, Berlin 2018. Bereits in der Ära des Heimcomputers eroberten die IuK-Techniken ausgangs der 1970er Jahre die Wohnungen der Bürger. Doch erst der Siegeszug des Internets und der mobilen (Kommunikations-)Technologien machte sie in den letzten Jahren zu ubiquitären Begleitern.
[2] Simon Nora/Alain Minc: L’Informatisation de la Société, Paris 1978.
[3] Vgl. Jon Agar: The Government Machine. A Revolutionary History of the Computer, Cambridge, Mass. 2003.
[4] Vgl. Peter Schaar: Das Ende der Privatsphäre. Der Weg in die Überwachungsgesellschaft, München 2007; Byung-Chul Han: Transparenzgesellschaft, Berlin 2012.
[5] Vgl. Freedom of Information (abgerufen am 7.12.2018).
[6] Vgl. Gerhard Vowe/Martin Emmer: Elektronische Agora? Digitale Spaltung? Der Einfluss des Internet-Zugangs auf politische Aktivitäten der Bürger, in: Achim Baum/Siegfried J. Schmidt (Hg.): Fakten und Fiktionen. Über den Umgang mit Medienwirklichkeiten. Jahrestagung der DGPuK 2001 in Münster, Konstanz 2002, S. 419-432.
[7] WSIS Declaration of Principles. Building the Information Society. A Global Challenge in the New Millennium, in: Daniel Stauffacher/Wolfgang Kleinwächter (Hg.): The World Summit on the Information Society. Moving from the Past into the Future, New York 2005, S. 297-309, hier: S. 297.
[8] Vgl. Resolution No. 1 (Fundamental Principles). United Nations Conference on Freedom of Information, 23.03.-21.04.1948, Final Act, New York 1948, S. 21; S. 25.
[9] Universal Declaration of Human Rights (10.12.1948). United Nations General Assembly. Res. 217A (III), Paris 1948, S. 71-79, hier: S. 75.
[10] Zur Geschichte der Debatte um eine „Neue Weltinformationsordnung“ vgl. Michael Homberg: Die Mass Media Declaration (1978), in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, herausgegeben vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Mai 2018. (abgerufen am 7.12.2018).
[11] Vgl. Strategies and Policies on Informatics. IBI Background Documents, New York 1978; UNESCO: Informatics. A Vital Factor in Development, Paris 1980; Data Regulation. European and Third World Realities, Uxbridge 1978.
[12] Thomas L. McPhail: Electronic Colonialism, Beverly Hills 1981/21987. Vgl. dazu kürzlich: Michael Kwet: Digital Colonialism. US Empire and the New Imperialism in the Global South (15.08.2018). (abgerufen am 9.12.2018); Danny Butt: New International Information Order (NIIO) Revisited: Global Algorithmic Governance and Neocolonialism, in: Fibreculture Journal. FCJ-198, Nr. 27. (abgerufen am 7.12.2018)