von Sebastian Kubon

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5. November 2021

Der Zweikampf zwischen Jean de Carrouges und Jacques Le Gris im Jahr 1386

Am 29. Dezember 1386 kam es zwischen dem Ritter Jean de Carrouges und Jacques Le Gris zu einem der letzten Zweikämpfe zur gerichtlichen Urteilsfindung in Frankreich. Anlass war der Vorwurf, dass Jacques Le Gris die Ehegattin von Jean, Marguerite, vergewaltigt habe. Jean de Carrouges erwirkte von König Charles VI. und dem Parlament von Paris letztlich, die Angelegenheit durch ein Gottesurteil entscheiden zu lassen.[1] Wer bei einem solchen Duell siegt, so die – zu dieser Zeit allerdings schon lange nicht mehr unumstrittene – Vorstellung, der hat Gott und das Recht auf seiner Seite. Wer unterliegt, der stirbt und ist im Unrecht. Im Falle eines Sieges von Jacques Le Gris stünde jedoch auch Marguerite der Tod wegen Meineides auf dem Scheiterhaufen bevor.
Soweit die realen Geschehnisse aus dem späten Mittelalter, die damals ein nur noch selten gesehenes Spektakel waren, wurde diese Art von Zweikämpfen zur sakralen Rechtsfindung aus verschiedenen Gründen kaum noch praktiziert. Der Zweikampf fand daher eine große Aufmerksamkeit und ging auch in die berühmten Chroniken des Jean Froissart und des Jean de Waurin ein. Auch darüber hinaus ist der Fall quellenmäßig gut belegt. Erwähnung fand er später in den großen Enzyklopädien der Neuzeit bis in die jüngeren Auflagen der Encyclopaedia Britannica.

 

The Last Duell nach Eric Jager versus Ridley Scott

Dieser im Kampf ausgefochtene Rechtsstreit steht im Zentrum des Historienfilms von Ridley Scott.[2] Der Film kam am 14. Oktober 2021 in die deutschen Kinos. Die Hauptrollen spielen Matt Damon als Jean de Carrouges, Adam Driver als Jacques Le Gris und Jodie Comer als Marguerite. Der Film basiert auf einem Buch von Eric Jager, Professor für englische Literatur an der University of California (UCLA), der die Ereignisse im Jahre 2004 aufgearbeitet und populärwissenschaftlich präsentiert hat.[3] Jager versucht hierin, aus den vorhandenen Quellen eine plausible Narration des Falles herzustellen. Dabei beschreibt er auch den mittelalterlichen Kontext des Falles für ein amerikanisches Publikum und gibt dichte Hintergrundinformation zum französischen Mittelalter.

 

The truth according to…

Im Gegensatz zur Buchvorlage von Eric Jager, die der Chronologie folgt, geht Ridley Scott jedoch anders vor. Nach einer einführenden Szenerie, in der der Beginn des Zweikampfes gezeigt wird, wird die Vorgeschichte, die zu diesem Duell geführt hat, aus den unterschiedlichen Perspektiven der drei Protagonisten, Jean, Jacques und Marguerite, erzählt. Eingeleitet werden diese drei Narrative zum Fall mit einem Banner auf dem geschrieben steht: The truth according to… Bemerkenswert ist dabei, dass einzig Jean der Carrouges, der generell in seiner Art, seine Rechte ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen, Kohlhaas’sche Züge trägt, als einziger offenbar keinerlei Zweifel am Gottesurteil zur Rechtsfindung zeigt. König Charles VI., der im Teenageralter stand, als er über die Frage befinden musste, ob das Urteil im Zweikampf hergestellt werden soll, wird sicher nicht zufällig als psychisch labil gezeichnet, obgleich doch erst einige Jahre später sein Geisteszustand als permanent instabil offenbar wurde. Nachdem die drei unterschiedlichen Wahrnehmungen des Falles dargestellt wurden, schließt der Film mit dem Duell und seinem Ausgang ab.

 

The Last Duell – (k)ein Mittelalterfilm?

Nicht zu Unrecht hat Hedwig Röckelein darauf hingewiesen, dass der Mittelalterfilm eigentlich kein eigenes filmische Genre darstelle, sondern mittelalterliche Stoffe in vorgefundenen Gattungen, wie dem biographischen Film, dem Western, dem Comic etc., präsentiere.[4] So geschieht es auch hier: Im Gegensatz zum Buch, das sich ein besseres Verständnis einer mittelalterlichen Begebenheit zur Aufgabe macht, ist das Mittelalter im Film eigentlich bloße Staffage. Vielmehr geht es aufgrund des filmischen Mittels, die Geschichte aus drei unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen, um die immer noch aktuelle allgemein menschliche Frage, die vor ca. 2.000 Jahren in einem juristischen Zusammenhang kurz und knapp folgendermaßen formuliert wurde: Was ist Wahrheit? (τί ἐστιν ἀλήθεια;) (Joh. 18, 38).
The Last Duel ist damit eher einem Gerichtsfilm, in dem es um die (Re-)Konstruktion eines Tathergangs mit all seinen Unsicherheiten geht, vergleichbar, und hat inhaltlich mehr Gemeinsamkeiten etwa mit Die zwölf Geschworenen (12 Angry Men, 1957) als mit Königreich der Himmel, einem der anderen berühmten Mittelalterfilme von Ridley Scott aus dem Jahr 2005.

 

Was ist Wahrheit? Was ist Geschichte?

Scott demonstriert, dass es eine problematische Vorstellung wäre, die Wahrheit über eine umstrittene Tat einfach nur rekonstruieren zu wollen.[5] Vielmehr kann nur eine plausible gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und ihres Kontextes hergestellt werden. In diesem Zusammenhang wird sehr eindrücklich der Kernbereich des Metiers der Historiker*innen berührt und führt implizit zur Frage: What is History?[6].

 

Konstruktivistische Geschichtsauffassung

Daher ist es kein Manko, dass der Film das mittelalterliche Material lediglich dazu nutzt, um die bis heute gültige Frage zu diskutieren, wie wir mit Ereignissen, für die es eine Vielzahl von Quellen gibt, unterschiedliche Perspektiven darstellen. Gegen eine neopositivistische Faktenhuberei, die dem Publikum ohne jeden Zweifel vorführt, ‚wie es eigentlich gewesen ist‘, wird hier eine intellektuell attraktive konstruktivistische Geschichtsauffassung verfilmt.

 

„No one really knew the truth of the matter.“

Für Geschichtsdidaktiker*innen und -theoretiker*innen ist der Film ein Fest und durchaus seminargeeignet. Am Beispiel von „Last Duell“ ist es möglich, grundsätzliche Gedanken über das Verhältnis von „Wahrheit“, „Vergangenheit“ und „Geschichte“ sowie von „Rekonstruktion“ und „Konstruktion“ von Geschichte unter Maßgabe von Plausibilitäten zu diskutieren.
Im Übrigen war das alles – und das sollte betont werden – den mittelalterlichen Zeitgenossen durchaus klar: Jean Le Coc, der juristische Beistand von Jacques Le Gris, der umfangreiche Notizen hinterlassen hat und an der Version seines Klienten, der die Vergewaltigung Marguerites bestritt, Zweifel hatte, schrieb in seine Gerichtsaufzeichnungen abschließend: „No one really knew the truth of the matter.“[7]

 

Zeitgeschichte, die sich im Mittelalterfilm spiegelt

Es ist vielleicht kein Zufall und sagt mehr über die gegenwärtigen Verhältnisse aus als über die Geschehnisse des 14. Jahrhunderts, dass in einem Mittelalterfilm des Jahres 2021 das Maß der Konstruktion von Geschichte im Mittelpunkt steht, werden doch gerade heute die Menschen täglich mit unterschiedlichen Perspektiven – etwa in den sozialen Medien – auf Ereignisse konfrontiert, mit denen sie in irgendeiner Weise umgehen müssen. Ein wenig Reserviertheit gegenüber dem eigenen Standpunkt und eben keine Verabsolutierung desselben schadet da sicher nicht.

Trailer auf YouTube

The Last Duel, Regie: Ridley Scott, USA/UK 2021, 152 Minuten.

 


[1] Als erster Ansatzpunkt vgl. Lexikon des Mittelalters s.v. Gottesurteil und Zweikampf.
[2] The Last Duel, Regie: Ridley Scott, USA/UK 2021, 152 Minuten.
[3] Eric Jager: The Last Duel. A True Story of Trial by Combat in Medieval France. London 2004.
[4] Hedwig Röckelein: Mittelalter-Projektionen, in: Antike und Mittelalter im Film. Konstruktion – Dokumentation – Projektion, hg. von Mischa Meier und Simone Slanic‘ka. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 41-62.
[5] Bemerkenswerterweise verzichtet der Film darauf, Folterszenen zu zeigen, obwohl doch kaum etwas so sehr mit dem Mittelalter– eigentlich überraschend nach Guantanamo und dem gewalttätigen 20. Jahrhundert – verbunden wird, wie peinliche Befragungen, um Geständnisse zu erlangen. Folter wurden zwar eingesetzt in dem historischen Fall (vgl. Jager, Last Duel, passim), aber hier nicht gezeigt, obwohl sie doch eigentlich – aus moderner Perspektive natürlich überraschend – eine Rationalisierung in der Rechtsfindung darstellte, da man insbesondere beim Gottesurteil schon verschiedenartige Bedenken hatte.
[6] Edward Hallet Carr: What is History? London 1961 (dtsch.: Was ist Geschichte?).
[7] So in der englischen Übersetzung von Jager, Last Duel, S. 124.