von Thomas Großmann

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1. April 2016

In der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 2016 starb der italienische Philosoph, Sprach- und Literaturwissenschaftler, Essayist und Schriftsteller Umberto Eco im Alter von 84 Jahren. Weltweit bekannt wurde Eco als Autor vor allem seines ersten Romans Der Name der Rose[1], der von Jean-Jaques Annaud als Mittelalterkrimi für das Kino in Szene gesetzt wurde.[2] Umberto Ecos Werk umfasst jedoch viel mehr als sein bekanntester Roman. Sein wissenschaftliches, literarisches und publizistisches Oeuvre ist so umfangreich, vielfältig und vielschichtig, dass sich jede Einengung auf ein Thema von vornherein verbietet. Gerade für die Zeitgeschichte finden sich in Ecos Werk wichtige Anregungen, lesens- und bemerkenswerte Texte, Handlungsstränge und Passagen, die Ecos Interesse an der italienischen und europäischen Zeitgeschichte zeigen.

Dieses Interesse hängt mit Ecos Biografie zusammen. Im Jahr 1932 im norditalienischen Alessandria geboren, erlebte Eco noch als Kind den italienischen Faschismus Benito Mussolinis. Im Zweiten Weltkrieg, den Italien an der Seite des nationalsozialistischen Deutschlands führte, folgte nach der Kapitulation ab 1943 die deutsche Besetzung Norditaliens mit der Errichtung der faschistisch-radikalen Republik von Sálo als Vasallenstaat Hitlers. Diese Zeit bis zum Ende des Krieges war auch geprägt vom Widerstand verschiedener Partisanengruppen gegen die nationalsozialistischen Besatzer und ihre faschistischen Kollaborateure. Der Sieg der Alliierten und der antifaschistischen italienischen Partisanen brachte im Mai 1945 Frieden und dem jugendlichen Eco eine bisher nicht gekannte Freiheit. Die Warnung vor der Bedrohung durch Faschismus, Irrationalität und Antisemitismus wurde daher zu einem Anliegen Ecos.

Die Erfahrungen der Kindheit und die Erinnerung an den italienischen Faschismus bis in die Nachkriegszeit thematisiert Eco in dem 2004 erschienenen Roman Die heilige Flamme der Königin Loana.[3] Die Spurensuche geht hier zurück in die frühen vierziger Jahre, in denen sich der Protagonist rückblickend fragt: „Und ich, wie hatte ich dieses schizophrene Italien erlebt? Glaubte ich an den Sieg, liebte ich den Duce, wollte ich für ihn sterben? Glaubte ich an die Sätze des Großen Capo, die uns der Lehrer diktierte: ‚Es ist der Pflug, der die Furche zieht, aber es ist das Schwert, das sie verteidigt. Wir werden weitermarschieren. Wenn ich vorangehe, folgt mir. Wenn ich zurückweiche, tötet mich‘?“[4] Eco geht es in dem Roman nicht zuletzt um eine Erklärung für die Entstehung des Faschismus in Italien und seiner prägenden Merkmale.

Die Vier moralischen Schriften enthalten zu dieser Thematik einen zentralen theoretischen Aufsatz Ecos: Der immerwährende Faschismus.[5] Neben dem autobiografischen Rückblick auf die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit enthält der Text vor allem eine bestechend klare Theorie des italienischen Faschismus als einen „verschwommenen Totalitarismus, verschwommen im Sinne von fuzzy.“[6] Der italienische Faschismus, so Ecos These, sei geordnete Verwirrung oder strukturierte Konfusion gewesen. Er hing zwar philosophisch in der Luft, sei aber emotional fest in einigen archetypischen Fundamenten verankert gewesen.

Eco greift auf Wittgensteins Begriff der „Familienähnlichkeit“ zurück, um Faschismus als eine bestimmte Kombination von Merkmalen zu erklären. „Der Begriff Faschismus konnte deshalb zu einer Sammelbezeichnung werden, weil ein faschistisches Regime auch dann noch als faschistisch erkennbar bleibt, wenn man ein oder mehrere Merkmale abzieht.“[7] Eco positioniert sich damit in der historiografischen Debatte über den generischen Charakter des europäischen Faschismus mit einer eigenen Theorie, die sich zwischen Roger Griffin einerseits und Roger Eatwell sowie Stanley Payne andererseits mit dem von ihnen postulierten „faschistischen Minimum“ einordnet.[8]

Ecos Definition setzt bei einer freien Kombination von Merkmalen an und skizziert vierzehn dieser Merkmale, die für ihn den immerwährenden oder Ur-Faschismus ausmachen. Neue Formen von Faschismus könnten daraus zu jeder Zeit in beliebiger Merkmalskombination entstehen, so Eco. Neben dem Verständnis der historischen Faschismus-Formen ging es Eco um die Warnung vor den mitunter versteckten Quellen antidemokratischer, rechtsautoritärer oder eben faschistischer Vorstellungen und Überzeugungen, die das politische Klima nicht nur in Italien vergiften können. Zu diesen Merkmalen zählt Eco u.a. den „Kult der Überlieferung“, die „Ablehnung der Moderne“, den „Kult der Aktion, um der Aktion willen“, die „Obsession einer Verschwörung“ sowie einen „selektiven oder qualitativen Populismus“. Der Ur-Faschismus könne in den unschuldigsten Gewändern daherkommen, warnte Eco 1998, manchmal erscheine er in gutbürgerlicher Kleidung. „Es ist unsere Pflicht, ihn zu entlarven und mit dem Finger auf jede seiner neuen Formen zu zeigen – jeden Tag, überall auf der Welt.“[9] Die intellektuellen Grundlagen dafür wollte Eco allen zur Verfügung stellen, die bereit sind, die Zeichen zu lesen und den eigenen Verstand zu gebrauchen.

Ein weiteres zentrales Thema, das Eco sowohl in einem Roman als auch in einem Aufsatz thematisiert hat, sind die Mechanismen hinter dem Antisemitismus. Sein vorletzter Roman aus dem Jahr 2011 Der Friedhof in Prag[10] handelt in Paris am Ende des 19. Jahrhunderts, als der Antisemitismus in Frankreich seinen Höhepunkt erreichte.[11] Eco entwickelte hier eine Geschichte, die leider eben keine Erfindung ist, sondern bittere Realität: die Entstehung der „Protokolle der Weisen von Zion“, einer besonders bizarren antisemitischen Quelle.

Eco hatte sich mit deren Entstehung bereits in dem Aufsatz Fiktive Protokolle beschäftigt, der im Sammelband Im Wald der Fiktionen erschien.[12] „Doch wenn die erzählerische Aktivität so eng mit unserem Alltagsleben verbunden ist“, fragt Eco hier, „könnte es dann nicht auch vorkommen, dass wir das Leben als Fiktion interpretieren und beim Interpretieren der Realität fiktive Elemente in sie einführen?“ Genau dies war über viele Stationen mit den „Protokollen“ geschehen. Immer neue fiktive Textquellen waren hier aus verschiedenen Motiven heraus vermischt worden, um am Ende eine antisemitische Hetzschrift zu ergeben, die leider in den entsprechenden Kreisen für wahr und authentisch gehalten wurde.

Der Ursprung der Schrift liegt in einer Verschwörungstheorie und verschiedenen Legenden und Mythen über die geheime Existenz des Templerordens und anderer Geheimgesellschaften Ende des 18. Jahrhunderts. Diese mischten sich mit diffamierenden Schriften gegen die Freimaurer, Jesuiten und eben auch Juden. Um die Wende zum 20. Jahrhundert führt die Spur der fiktiven „Protokolle“ zu einem russischen Agenten. Pjotr Ratschkowski, so der Name des Agenten, verdichtet, um eine politische Intrige zu befördern, mehrere literarische Texte zu einem Bericht, der die erste Quelle für die „Protokolle der Weisen von Zion“ wurde. Dass diese Protokolle fiktiv waren, lag auf der Hand, meinte Eco. Denn es sei leicht gewesen, unter den Quellen viele sehr populäre Romane zu erkennen. „Unglücklicherweise war jedoch die Geschichte – auch hier wieder – erzählerisch so überzeugend, dass es den Leuten nicht schwerfiel, sie ernst zu nehmen“, so Eco.[13] Aus der Fiktion der „Protokolle“ wurde um das Jahr 1900 eine Realität, die dem ohnehin vorhandenen Antisemitismus eine neue Quelle und Rechtfertigung lieferte. Auch Adolf Hitler fielen die „Protokolle“ in die Hände.

Zwar hatte es 1921 Zweifel an dieser kruden Collage unterschiedlicher Texte gegeben, „doch die Evidenz der Fakten genügt nicht, wenn die Leute um jeden Preis einen Horrorroman haben wollen“, so das Fazit Ecos.[14] Dahinter verbirgt sich ein Syllogismus: „Da die Protokolle besagen, was ich in meiner Geschichte gesagt habe, bestätigen sie sie.“[15] Diese Mechanismen von Fiktion und Suggestion aufzudecken und so im klassischen Sinne aufzuklären, war das zentrale Anliegen Umberto Ecos. So auch in seinem letzten Roman Nullnummer, der erst vor wenigen Monaten, im Herbst 2015 erschienen ist.[16]

Die Romanhandlung von Nullnummer spielt zwar im Jahr 1992 und ist vor allem eine Kritik an den modernen populären Massenmedien. Doch im Zentrum der Handlung steht wieder eine Verschwörungstheorie und eben Benito Mussolini. Ein Reporter breitet das vermeintlich größte Geheimnis der italienischen Nachkriegsgeschichte aus: Der Duce sei keineswegs im April 1945 von Partisanen an der Flucht über die Alpen gehindert und standrechtlich erschossen worden. Durch eine umfassende Verschwörung und mit Unterstützung des Vatikans sei Mussolini den Alliierten entkommen und in Südamerika untergetaucht. Während neofaschistische Netzwerke sich seit dem Kriegsende im Untergrund etablieren und von den Repräsentanten der neuen demokratischen Italienischen Republik gedeckt werden, wartet Mussolini auf den Umsturz, der seine Rückkehr ermöglichen soll.
Mussolini als Untoter, der die Politik Italiens über Jahrzehnte vergiftet. Hier legt Eco eine zeithistorische Spur von der jüngsten Vergangenheit zurück zu den Wirren der letzten Kriegstage aus, wo rivalisierende Partisanengruppen dem einstigen Diktator Mussolini zum Verhängnis werden.

Nullnummer sollte Ecos letzter Roman sein, dies hatte der Autor noch bei Erscheinen angekündigt. Daher war und ist er durchaus als ein Vermächtnis des Intellektuellen zu lesen. Eco wollte ein letztes Mal vor jenen Mechanismen warnen, die Faschismus, Rassismus und Antisemitismus begünstigen und längst nicht mit den einstigen Diktatoren verschwunden sind.
Umberto Eco sollte als Zeithistoriker gelesen werden, der die geistesgeschichtlichen Grundlagen Europas in langen Linien verfolgt hat. Denn auch im Kloster von Der Name der Rose ist der autoritäre Geist Mussolinis schon angelegt. Man muss nur die Zeichen erkennen.

 

[1] Umberto Eco, Il nome della rosa, Bompiani, Mailand 1980.
[2] "Der Name der Rose“, Regie Jean-Jacques Annaud (Deutschland, Italien, Frankreich 1986)
[3] Umberto Eco, Die heilige Flamme der Königin Loana, München 2004.
[4] Ebd., S. 230.
[5] Umberto Eco, Der immerwährende Faschismus, in: Ders., Vier moralische Schriften, München 1998, S. 39-69.
[6] Ebd., S. 49.
[7] Ebd., S. 55.
[8] Für einen Überblick zu dieser Debatte vgl.: Arnd Bauerkämper, Der Faschismus in Europa 1918-1945, Stuttgart 2006, S. 13-46 .
[9] Ebd., S. 67.
[10] Umberto Eco, Der Friedhof in Prag, München 2011.
[11] Vgl. Wolfgang Benz, Antisemitismus und Antisemitismusforschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010.
[12] Umberto Eco, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. München 1996, S. 157-184.
[13] Ebd., S. 181.
[14] Ebd., S. 181f.
[15] Ebd., S. 182.
[16] Umberto Eco, Nullnummer, München 2015.