von Thomas Großmann

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1. Juni 2013

Wenige Tage nach den Ereignissen am 17. Juni schickte der frische Nationalpreisträger der DDR, der Schriftsteller Erwin Strittmatter an das Zentralorgan seiner Partei SED, das „Neue Deutschland“, einen Bericht. Darin beschrieb Strittmatter, der gerade eine neue Wohnung in der Stalinallee nahe dem Strausberger Platz bezogen hatte, wie er den 17. Juni 1953 erlebte.[1] Bereits am Nachmittag des Vortages hatte er vom Fenster aus beobachten können, wie der erste Zug von Bauarbeitern sich noch zögernd die Stalinallee entlang bewegte.

Er sei sich der Ungeheuerlichkeit bewusst gewesen, dass hier „Arbeiter gegen sich selbst“ streikten, ist dem Bericht zu entnehmen. Darin tauchen neben friedfertigen Bauarbeitern auch die „Provokateure“ auf, die – ganz in der Interpretation der SED – von außen eingeschleust die Masse zu Gewalt anstachelten. Der aufstrebende Schriftsteller begleitet den Zug bis vor das Haus der Ministerien in der Leipziger Straße und wird dort von zwei „Provokateuren“ angegriffen, weil er sich ihnen entgegengestellt haben will.

An die Schilderung der Ereignisse schloss sich eine kritische Passage an, die sich mit der Frage beschäftigt wie es zu den Demonstrationen der Arbeiter habe kommen können. „Provokateure können nur unzufriedene Arbeiter mit ihren faschistischen Losungen infizieren. Unzufriedene Arbeiter kann es nur geben, wenn Partei und Regierung nicht gut gearbeitet haben.“[2] Der Bericht des SED-Mitglieds Strittmatter mit der Aufforderung zur Selbstkritik erschien trotz mehrmaliger Nachfragen nicht, stattdessen wurde Anfang Juli 1953 ein Kommentar gedruckt, der Strittmatter und andere Kritiker als Dummköpfe darstellte, die die Situation unterschätzen würden.

In der Biografie Erwin Strittmatters, die die Berliner Historikerin Annette Leo 2012 vorgelegt hat, nehmen die Ereignisse des 17. Juni und das Verhalten der ostdeutschen Schriftsteller breiten Raum ein. Die Biografin macht an diesem Schlüsselereignis drei Punkte deutlich. Erstens wie sehr sich das SED-Mitglied Strittmatter mit der Sache der Arbeiter identifizierte, die er bis dato bei der „Arbeiterregierung“ der DDR in guten Händen gesehen hatte. Zweitens verdeutlicht sie, wie die Unterdrückung jeglicher Kritik nach dem 17. Juni gerade auch innerhalb der SED, bei Strittmatter erste Risse im „Respekt vor der moralischen Autorität der Partei“ entstehen ließ.[3] Seine Karriere litt allerdings nicht unter der zeitweiligen „Bindung an schwankende Teile der Intelligenz“, wie es in einer Beurteilung des Ministeriums für Staatssicherheit hieß. Sein kritisches Engagement war noch klein genug, so dass andere wie der Schriftsteller Erich Loest zum Statuieren der Exempel herhalten mussten. Allerdings – und so kann man die Schilderungen Leos lesen – hätte es drittens auch für den Brecht-Freund Strittmatter anders kommen können: Gefängnis und Verbannung statt Orden und Ämter.

Den Ereignissen um den 17. Juni 1953 folgte drei Jahre später eine zweite persönliche Ernüchterung. Chruschtschow thematisiert auf dem XX. Parteitag der KPdSU einen Teil der Verbrechen Stalins, den Strittmatter persönlich verehrt und im Stile der Zeit mit literarischen Texten gehuldigt hatte.[4] Noch bevor er den Text der Rede Chruchtschow lesen konnte, notierte er Ende April 1956 in sein Tagebuch: „Die Parteiführung gibt zu, Fehler gemacht zu haben, aber nur kleine, und sie sagt nicht welche. Die Parteiführung behandelt uns wie Priester die Gläubigen in der alten Geschichte – im Mittelalter. Den vollen Wortlaut mit der vollen Wahrheit über die Untersuchungen im Falle Stalin enthält sie uns vor. Man muss also damit rechnen, auch ferner wie ein Unmündiger behandelt zu werden.“[5] Diese beiden Daten 1953/56 sind für Annette Leo als Wendepunkte im Leben des Schriftstellers zentral, da sich daran die, wenn auch sehr langsame sich über Jahrzehnte bis in die 80er Jahre hinziehende, innere Distanzierung des Genossen Strittmatters von seiner Partei anschloss. Ihren äußeren Ausdruck fand diese Distanzierung Mitte der 1950er Jahre mit dem Rückzug ins nördliche Brandenburg.

Doch sehr viel wichtiger ist für die Biografin das Jahr 1945 als Wendepunkt im Leben eines „normalen“ Deutschen, wie Strittmatter bis dahin gesehen werden kann. Der Autorin Leo geht es vor allem um die Beziehung der beiden Lebenshälften Strittmatters zueinander. Für ihn, der 1912 geboren wurde, wie auch für Strittmatters Altersgenossen war 1945 die biografische Wasserscheide, die scharf in ein davor und danach unterschied. Nicht wenige, die vorher Hitler verehrt hatten, wandten sich später Stalin zu und verbanden ihr „zweites Leben“ mit dem Aufbau der DDR. Am Fall von Erwin Strittmatter leuchtet Leo diese verhängnisvolle Beziehung aus und macht das schlechte Gewissen des NS-Polizisten Strittmatter als Triebfeder für den sozialistischen Neuanfang als Arbeiterschriftsteller aus.

Der 2. Weltkrieg, in dem sich Strittmatter freiwillig meldete und als Angehöriger des Polizeibataillons 325 auf dem Balkan, in Polen und Finnland erlebte, ist die „Schwarze Box“, die die Autorin konsequent öffnet und deren unangenehmen Inhalt vor dem Leser ausbreitet. Dazu gehört, dass Strittmatter als NS-Polizist an der Partisanenbekämpfung in Jugoslawien und an Kriegsverbrechen, wie dem Massaker im slowenischen Dorf Drazgose, beteiligt war. Doch geht es ihr neben den Fakten immer auch um den Umgang damit in den Jahren nach 1945, den Versuch die eigene Schuld mit Engagement für ein neues Land, das sich antifaschistisch definierte, zu tilgen.

Damit veranschaulicht die Biografie ausführlich und plausibel, was der Leipziger Sozialhistoriker Hartmut Zwahr 1994 als „generative Problemlage“ der DDR-Gesellschaft knapp skizzierte.[6] Zwahr stellte die These auf, dass gerade die Jahrgänge der zwischen 1910 und 1929 geborenen eine enge persönliche Bindung an die DDR entwickelten, die in unterschiedlicher Abstufung mit ihrer NS-Sozialisation verknüpft war. Ralph Jessen ging in seiner Interpretation dieses lebensgeschichtlichen Faktors sogar noch weiter, da er hier einen „politisch-moralischen Generationenvertrag“ ausmachte, der „auf der Basis unausgesprochener Schuldgefühle und Exkulpationsbedürfnisse“ beruhte.[7] Für Zeithistoriker leicht nachvollziehbar, sind diese Konstruktionen für Nachgeborene recht abstrakt. Doch die Biografie Strittmatters kann als ein solches konkretes Beispiel gelesen werden.

Mit der Biografie des ostdeutschen Schriftstellers gelingt Annette Leo ein bemerkenswert dichtes, vielschichtiges und auch persönliches Buch, das die Themen Politik, Kultur, Literatur und Lebensweg in angenehmer Balance hält. Sowohl mit Sympathie für die Menschen wie auch mit kritischer Distanz zu ihrem Handeln entsteht so eine Art ostdeutsches Panorama des „Zeitalters der Extreme“, das sich im Leben und auch im literarischen Werk Erwin Strittmatters abzeichnet. Die Brüche und Wandlungen der Zeit zeichnen sich eben sehr deutlich in den Lebenswegen der Menschen ab. Für die Nachgeborenen können gerade diese Lebenswege ein Zugang sein, um mehr über das immer ferner rückende zwanzigste Jahrhundert zu erfahren.

 

Annette Leo: Erwin Strittmatter. Die Biografie, Aufbau-Verlag Berlin 2012, 447 S., 24,99 €

Erwin Strittmatter: Nachrichten aus meinem Leben. Aus den Tagebüchern 1954-1973, Aufbau-Verlag Berlin 2012, 601 S., 24,99 €

 

 

[1] Leo, S. 242-259.

[2] Leo, S. 249.

[3] Leo, S. 254.

[4] Leo, S. 254.

[5] Tagebücher, S. 34.

[6] Hartmut Zwahr: Umbruch durch Ausbruch und Aufbruch. Die DDR auf dem Höhepunkt der Staatskrise 1989. In: Hartmut Kaelble/ Jürgen Kocka/ Hartmut Zwahr (Hgg): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 447-452.

[7] Ralph Jessen: Partei, Staat und „Bündnispartner“. Die Herrschaftsmechanismen der SED-Diktatur, In: Matthias Judt (Hg): DDR-Geschichte in Dokumenten, Bonn 1998, S. 35.