von Christiane Abele

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1. April 2014

Der portugiesische Estado Novo unter António Salazar und seinem Nachfolger Marcelo Caetano war das langlebigste rechtsautoritäre Regime Europas und wurde nach 41 Jahren am 25. April 1974 durch einen Militärputsch gestürzt. Die Putschisten, etwa 200 junge Offiziere, die sich im Movimento das Forças Armadas (MFA, Bewegung der Streitkräfte) zusammengeschlossen hatten, reagierten mit dem Staatsstreich in erster Linie auf die seit 1961 in Afrika tobenden Kolonialkriege. Die Kriege hatten den portugiesischen Staat an den Rand des finanziellen Ruins getrieben, unzählige Todesopfer gefordert[1] und das Image Portugals im Ausland stark beschädigt. Die Ernüchterung über den langen, aussichtslos scheinenden Kampf sowie die Erkenntnis, dass das existierende Regime einen Waffenstillstand oder die Aufnahme von Verhandlungen niemals in Erwägung ziehen würde, ließen in den Augen der Militärs einen Regimesturz als einzige Möglichkeit erscheinen, diese politisch und militärisch untragbare Situation zu beenden. Dabei ging es ihnen nicht zuletzt um die Rettung der "Ehre des Militärs", das mit einem zunehmend diskreditierten Regime nicht in Verbindung gebracht werden wollte.[2] Der Putsch vom 25. April gilt als Beginn der "Nelkenrevolution", eine Zeitspanne von etwa zwei Jahren, die bereits bei den Zeitgenossen unter der halbironischen Bezeichnung "Processo Revolucionário em Curso (PREC) – Laufender revolutionärer Prozess" firmierte.

"Herr Präsident, die Revolution ist auf den Straßen! Die Lage ist sehr ernst." – Mit diesen Worten soll Silva Pais, der Chef des berüchtigten Geheimdienstes PIDE[3], den Ministerpräsidenten Marcelo Caetano am Morgen des 25. April gewarnt haben, woraufhin dieser sich in der Polizeizentrale am Carmo-Platz verschanzte, wo ihn die Putschisten am Nachmittag aufspürten und zur Aufgabe zwangen. Die wirklich "revolutionäre" Phase stand dem Land aber noch bevor. Bereits am Nachmittag des 25. April waren die Straßen der Hauptstadt gesäumt mit jubelnden Lissabonnern, was erahnen ließ, welches Mobilisierungspotenzial das Ereignis hatte. Ein großer Teil der durch die Kolonialkriege und durch den sozioökonomischen Umbruch politisierten Bevölkerung stellte sich hinter das MFA und verankerte den politischen Wandel damit an der gesellschaftlichen Basis. Innerhalb des Militärs kam es bald zu Spannungen über den politischen Kurs, den es einzuschlagen galt, und nicht zuletzt auch über Ziele und Modalitäten der Dekolonisierung. Beides zusammen – die Spaltung innerhalb der Führung und die Entfaltung basisrevolutionärer Kräfte – gab dem Transitionsprozess eine radikale Dynamik. Die Jahre 1974 bis 1976 stellten die Kernphase dieses Übergangs dar, der in erster Linie von Machtkämpfen zwischen Linksradikalen und "moderaten" Kräften geprägt war und seinen Höhepunkt in den Kollektivierungen, Landenteignungen und Massendemonstrationen des "heißen Sommers" 1975 fand. In diesem Sommer schien die Einrichtung eines kommunistischen Staates in Portugal – mitten im Kalten Krieg! – in greifbarer Nähe, was zu einem Ansturm westeuropäischer Revolutionstouristen in Portugal führte. Die "heiße" Phase der Revolution galt erst ab dem gescheiterten Putschversuch des radikal linken Flügels des MFA im November 1975 als beendet und der Weg für eine demokratische Staatsordnung mit Aussicht auf europäische Integration als bereitet. Besiegelt wurde diese Perspektive mit dem deutlichen Wahlsieg der gemäßigten Sozialisten und der Liberalkonservativen im April 1976.

Der 25. April wurde noch während des "laufenden revolutionären Prozesses" der Jahre 1975 und 1976 zum Gründungsmythos erhoben und kalendarisch verankert. Sowohl die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung 1975 als auch die Wahlen zum ersten demokratischen Parlament ein Jahr später wurden auf den 25. April gelegt. Auch die populäre Erinnerungskultur verarbeitete das Ereignis umgehend zur mythischen "Stunde Null" – dem Beginn einer neuen Zeitrechnung. Sein beschaulich-blumiger Beiname sollte bald den friedlichen Charakter des Umsturzes versinnbildlichen.[4] Das Chanson des bekannten Liedermachers José Afonso, das den Putschisten am frühen Morgen des 25. April als Signal zum Aufbruch gedient hatte, wurde zur Hintergrundmelodie der Revolution: "Grândola, Vila Morena / Land der Brüderlichkeit / In dir bestimmt ab jetzt das Volk / Oh, Stadt." Verfilmungen und andere künstlerische Verarbeitungen des Ereignisses gaben dem Enthusiasmus medialen Ausdruck.

Der Beginn der 3. Republik am 25. April 1976 setzte jedoch auch bereits in Angriff genommenen Bemühungen zur "Aufarbeitung" der Diktatur ein jähes Ende. Im Zeichen einer Stabilisierungs- und Versöhnungspolitik unter dem Sozialisten Mário Soares wurden etwa Amnestien für belastete Politiker erlassen und laufende Strafverfahren eingestellt. Die Debatten zum 20-jährigen Jubiläum der "Nelkenrevolution" im April 1994 waren deshalb geprägt von der Kritik am angeblich zu laxen Umgang der Politik mit der autoritären Vergangenheit. Anlass war damals die Verleihung einer Auszeichnung an ehemalige PIDE-Beamte für "Dienste am Vaterland". Berühmtestes Beispiel für den unkritischen Umgang mit der Diktatur in Teilen der portugiesischen Öffentlichkeit ist die Wahl Salazars zum "größten Portugiesen aller Zeiten" in einer Fernsehshow des staatlichen Senders RTP im Jahr 2007. Weniger bekannt ist hingegen die satirische Gegenshow eines Privatsenders im gleichen Jahr mit dem Titel "Die schlimmsten Portugiesen aller Zeiten": Auch diese Wahl "gewann" der Diktator. Wahrscheinlich zeigt die Episode nur, wie wenig aussagekräftig Volksabstimmungen im Primetime-TV sind, eine apologetische Tendenz ist im öffentlichen Diskurs trotzdem erkennbar. "Wir [Portugiesen] beschreiben uns weiterhin historisch und ethisch eher als Opfer denn als Verantwortliche (der kolonialen Beherrschung, des Krieges, der Dekolonisierung) – eine Selbstzuschreibung, die auf kuriose Weise jener ähnelt, die lange Zeit etwa unter Deutschen und Österreichern in Bezug auf deren Erfahrung und ihre Konsequenzen üblich war", so der Historiker Manuel Loff 2007.[5]

Noch problematischer ist vielleicht jedoch der eklatante Mangel an kritischer Auseinandersetzung mit der Kolonialvergangenheit. Dabei sind die Voraussetzungen für eine differenzierte Erinnerung in der Öffentlichkeit eigentlich günstig, denn die Kolonialzeit ist alles andere als ein schuldbeladenes Tabuthema.[6] Öffentlichkeit, Kulturpolitik und Wirtschaft suchten nach deren Ende schnell wieder den Kontakt schnell wieder den Kontakt zu den ehemaligen Kolonien. Gerade im Rahmen der politischen Annäherung und der Gründung der Gemeinschaft Portugiesischsprachiger Länder (CPLP) im Jahr 1996 wäre das Aufkommen eines neuen, selbstreflektierten Vergangenheitsdiskurses zu erwarten gewesen. Doch der Mythos von der angeblich besonders empathischen und humanen portugiesischen Kolonisierung hält sich hartnäckig bis heute. Ehemalige Kolonialminister unter Salazar konnten bis in die 1990er Jahre hinein den politischen, wissenschaftlichen und medialen Diskurs über die Kolonialzeit maßgeblich beeinflussen und nebenher politische Karrieren verfolgen.[7] Der Lissabonner Stadtteil Belém mit seinem "Denkmal der Entdeckungen" und seinem "Monument für die Überseekämpfer" ist bis heute beliebter Standort diplomatischer Inszenierung, hier wurde im Dezember 2007 der Vertrag von Lissabon unterschrieben. Dass gerade Belém für politische Symbolhandlungen genutzt wird, zeige, so die Kulturwissenschaftlerin Teresa Pinheiro, das Fortleben einer Denkweise, die "in der Verherrlichung der kolonialen Vergangenheit eine tragende Säule portugiesischer Nationalidentität sieht."[8]

Die starke und extrem popularisierte Erinnerungskultur rund um den 25. April scheint derzeit also noch eine hemmende Wirkung auf die "Aufarbeitung" der autoritären und insbesondere der kolonialen Vergangenheit zu haben. Dem Essayisten Eduardo Lourenço zufolge begnüge man sich in Portugal "mit einer prinzipiellen ethischen Verurteilung des alten Regimes, die mit einer […] Verherrlichung der Aprilbewegung" einhergehe.[9] „Aprilkult“ als Ersatz für "echte" Vergangenheitsbewältigung?
Zum 30. Jahrestag im Jahr 2004 entzündete sich in Historikerkreisen eine Debatte um das offizielle Motto der Feierlichkeiten. Es lautete: "Abril é Evolução" (April ist Entwicklung). "Abril é Revolução!", rief unter anderem der Historiker und kommunistische Politiker Fernando Rosas. "April ist Entwicklung" – heiße das nicht, dass die "wilden Jahre" 1974 bis 1976 nur eine Art Irrtum waren, dass die Transition zur Demokratie ohnehin schon lange vorher (vielleicht schon in den 1960er Jahren) begonnen habe, dass keine Initialzündung nötig gewesen wäre? Die Frage, ob der Übergang von der Diktatur zur Demokratie, der am 25. April 1974 seinen Anfang nahm, eine Revolution war oder nicht, ist damit mehr als nur eine fachinterne Spitzfindigkeit unter Historikern. An ihr entzünden sich bis heute Grundsatzdebatten, denn wer der Transitionsphase nach 1974 ihren revolutionären Charakter abspricht, der, so die Linke, mache den Putschisten ihren Verdienst beim Sturz des Regimes abspenstig.

Der jahrzehntelange Enthusiasmus rund um den 25. April hat gegenwärtig vor allem in der Linken einer Rhetorik der Enttäuschung Platz gemacht: Enttäuschung angesichts der Erkenntnis, dass nicht alle politischen Verheißungen der Jahre 1974 bis 1976 eingelöst wurden, Enttäuschung angesichts der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008. Der 25. April und seine Attribute sind allgegenwärtiges Zitat in jeder Protestbewegung gegen die Sparpolitik der Regierung und der europäischen "Troika". "25 de Abril sempre" – "Für immer 25. April", hört man die Demonstranten skandieren. Die Übermacht der Erinnerungskultur rund um den 25. April in Portugal ist damit nicht nur mit seiner tatsächlichen historischen Tragweite für das Ende der Diktatur und ebenso wenig mit seiner Alibifunktion angesichts des Ausbleibens einer differenzierten Vergangenheitspolitik zu erklären. Weit über seine historische Relevanz hinaus ist "Abril" ein Appell zum nationalen Schulterschluss, ein Code für politische Stabilität und soziale Gerechtigkeit geworden.
Der 25. April ist ein Erinnerungsort, darüber herrscht auch zum 40. Jahrestag noch Konsens. Unter der Oberfläche aber schwelen politisch-historische Deutungskämpfe.

 

[1] 1970 betrugen die Militärausgaben ca. 50 % der gesamten öffentlichen Ausgaben, 8,3 % des Bruttosozialprodukts. Insgesamt kämpften während der 13 Kriegsjahre auf portugiesischer Seite etwa 1,3 Mio. Soldaten in Übersee, etwa ein Siebtel der damaligen Gesamtbevölkerung. Dieser Anteil von "men in arms" wurde zeitgleich nur von Südvietnam, Nordvietnam und Israel übertroffen.
[2] Vgl. Douglas Wheeler: The Military and the Portuguese Dictatorship, 1926-1974. The Honour of the Army, in: Lawrence S. Graham u. a. (Hg.): Contemporary Portugal, Austin 1979, S. 191-220.
[3] Polícia Internacional de Defesa do Estado, Internationale Polizei zur Verteidigung des Staates.
[4] Ein nur vorgeblich "friedlicher" Charakter, denn zählt man die Zehntausende Todesopfer der Kolonialkriege in Afrika zu den Opfern der Revolution hinzu, büßt diese ihren unblutigen Charakter umgehend ein.
[5] Marcelismo e ruptura democrática no contexto da transformação social portuguesa dos anos 1960 e 1970, in: Espacio, Tiempo y Forma V/19 (2007), S. 145-184, hier S. 182f.
[6] So die These von Isabel dos Santos Lourenço/Alexander Keese: Die blockierte Erinnerung. Portugal koloniales Gedächtnis und das Ausbleiben kritischer Diskurse, in: Geschichte und Gesellschaft 37/2 (2011), S. 220-243.
[7] Ebd., S. 230f.
[8] Facetten der Erinnerungskultur. Portugals Umgang mit dem Estado Novo, in: Neue Politische Literatur 55 (2010), S. 7-22, hier S. 13.
[9] Portugal – Europa. Mythos und Melancholie, zit. nach: Pinheiro: Facetten, S. 15.