Etymologisch gelesen bedeutet Ukraine „Am Rand“ oder „Grenzland“. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich diese Bezeichnung für ein Staatsgebilde durchgesetzt, das in ganz besonderem Maße Grenzland sowohl in geografischer als auch politischer Hinsicht war und bis heute ist.
Seit dem späten Mittelalter gehörte die Ukraine beziehungsweise Teile ihres heutigen Staatsgebietes wechselnd zu Russland, Polen, Österreich-Ungarn, Litauen und dem Osmanischen Reich. Nach dem Ersten Weltkrieg ging der westliche Teil der Ukraine an Polen und die Tschechoslowakei, während der östliche Teil 1919 zu einer Sowjetrepublik wurde.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte die gesamte Ukraine zum Staatsgebiet der Sowjetunion. Die Teilungen des Landes sind nachvollziehbar bis heute, sowohl in sprachlicher und kultureller Hinsicht als auch in den politischen Einstellungen der Bevölkerungsgruppen in den verschiedenen Regionen. So stimmten im Jahr 1991 90 % der Gesamtbevölkerung der Ukraine für die Unabhängigkeit des Landes: In der Südukraine votierten 54 % dafür, während es in der Westukraine 99 % waren. Selbst in der Bewertung der so genannten Orangen Revolution des Jahres 2004 verlaufen die Meinungen nicht entlang der sozialen Schichtung der Bevölkerung, sondern sind vielmehr regional zu verorten.
Eine Befragung zur Bewertung der „Orangen Revolution“ zeigt, dass die Mehrheit in der tendenziell prowestlichen Westukraine (die Anhänger Juschtschenkos) die Einschätzung vertrat, dass die Revolution ein Ergebnis der Bürgerbewegungen war, die für ihre demokratischen Rechte eintraten. Im Osten des Landes überwog hingegen die Einstellung, dass die Revolution ein vom Westen gestützter Staatsstreich gewesen sei. Naturgemäß sind die Trennlinien hinsichtlich der politischen Einstellungen der Ukrainer/innen wesentlich komplexer, als es die Ost/West-Befragungen in dieser Vereinfachung vermuten lassen; nicht zu bestreiten ist indes, dass es eine signifikante Teilung politischer Einstellungen gibt, die, wenn auch nicht immer kartografisch nachvollziehbar, dennoch mit der Geschichte der Teilungen des Landes eng zusammenhängt.
Interessanter noch als die derzeitige ukrainische Debatte über mögliche Wahlfälschungen, den Unwillen Julia Timoschenkos, ihr Amt abzugeben, und der Blick auf die politische Spaltung des Landes sind jedoch - zumindest für Zeithistoriker/innen - die geschichtspolitischen Muster, die je nach Machtkonstellation bemüht werden, das einende Band der Erinnerungskultur zu knüpfen. Wie nicht selten in den noch jungen Nationen des ehemaligen staatssozialistischen Lagers sind die Hoffnungen, die die politischen Eliten in die legitimatorischen Kräfte konstruierter Erinnerung legen, recht groß. Im Falle der Ukraine nimmt der Holodomor, die erzwungene Hungersnot in der Sowjetunion der Jahre 1932 und 1933, einen herausragenden Platz in der nationalen Geschichtsschreibung der Ukraine ein.
Durch die unvorstellbar brutale staatliche Getreiderequisition der sowjetischen Führung wurde den Bauern das für die Selbstversorgung notwendige Getreide genommen. In der darauf folgenden Hungersnot starben sechs Millionen Menschen, davon allein drei bis dreieinhalb Millionen in der Ukraine.
Die bis 1987 konsequent verschwiegene Hungersnot ist das zentrale Element des antisowjetischen Geschichtsbildes der ukrainischen Nationalbewegung „Ruch“. Der aus zehn Parteien bestehende Block (gemäßigt nationalistisch, liberal und christlich-konservativ) unterstützte in den Präsidentenwahlen 2004 Viktor Juschtschenko, der den ersten Wahlgang für sich entschied.
Der zweite Wahlgang wurde manipuliert, woraufhin der damalige Ministerpräsident Janukowytsch gewann. Im Zusammenhang mit den Wahlfälschungen kam es zur so genannten Orangen Revolution, die schließlich den Amtsantritt von Janukowytsch verhinderte.
Im Jahr 2005 wurde Viktor Juschtschenko vereidigt – und seine „orangefarbene“ Regierung setzte in ihrer Geschichtspolitik starke nationalistische Akzente. Im Kern ging es um die Institutionalisierung und staatliche Lenkung der Erinnerung an die Opfer des Holodomor in der Ukraine. Die Erinnerungspolitik sollte in erster Linie die Integration über die genannten regionalen Grenzen hinweg ermöglichen und die Heterogenität der politischen Einstellungen einebnen helfen. Die Regierung Juschtschenko ritualisierte das Gedenken stärker; es wurden Denkmäler in sämtlichen Gebietszentren der Ukraine zum Gedenken an die Opfer des Holodomor errichtet. 2008 weihte Viktor Juschtschenko in Kiew die Gedenkstätte zum Holodomor ein.
Es wurde ein „Institut des nationalen Gedenkens“ (INP) gegründet und schließlich nach langen Debatten im Parlament das Gesetz „Über den Holodomor in der Ukraine in den Jahren 1932 bis 1933“ verabschiedet. Dieses Gesetz anerkannte den Holodomor als Genozid am ukrainischen Volk und machte dessen Leugnung justiziabel. Die These vom Holodomor als Genozid ist in der Ukraine zwar mehrheitsfähig, aus wissenschaftlicher Sicht jedoch äußerst umstritten.
Die Diskussionen im ukrainischen Parlament aus Anlass des Holodomor-Gesetzes spiegeln genau jene politische Teilung des Landes, die auch in Fragen zu aktuellen politischen Themen immer wieder aufscheint. Die Fokussierung der Regierung Juschtschenko und ihrer Verbündeten auf die Genozidthese brachte zwar eine Wiederbelebung des „orangen“ nationaldemokratischen Lagers in Gang und verbesserte zumindest zeitweilig das angeschlagene Image des Präsidenten. In letzter Konsequenz manifestierte jedoch das Beharren darauf, dass der Holodomor durch das sowjetische Regime langfristig geplant und in erster Linie gegen die ukrainische Bevölkerung gerichtet war, die Spaltung des Landes.
So haben die russischsprachigen Wähler im Osten des Landes, die für enge Beziehungen zu Russland stehen, eine andere Haltung in der Frage der Geschichtsdeutung als die Wähler im Süden, zumal das Außenministerium Russlands vor einer Bewertung der Hungersnot als Genozid warnte und die Ereignisse von 1933 als gemeinsame Geschichte von Russen, Ukrainern, Kasachen und anderen Völkern der Sowjetunion verstehen will.
Es bleibt die Frage, ob gemeinsam ertragenes Leid oder, wie im Fall des ukrainischen Holodomor, erinnertes Leid als legitimatorisches Band geeignet ist.
Oder ist es nicht vielmehr so, dass Erinnerung im Moment ihrer Zuweisung an ein bestimmtes politisches Lager jegliche Debatte über das Geschehene, seine Ursachen, Verläufe und Interpretationen verhindert? So kommt es einem emotional-moralischem Hi-jacking nahe, wenn die Bewertung des Holodomor und seine geschichtspolitische Moralisierung als Mittel der Exklusion des politischen Gegners genutzt wird. Die Bewertung der Hungersnot der Jahre 1932/33 ist nur ein Beispiel dafür, wie am ukrainischen Geschichtsnarrativ gehobelt wird. Antisowjetisch-nationale Stereotypen vor historischer Kulisse wurden von Viktor Juschtschenko bereits in seiner Zeit als Oppositionspolitiker vor der „Orangen Revolution“ genutzt, um Wählergruppen etwa in der Westukraine zu gewinnen. Wir dürfen gespannt sein, inwieweit sich, nachdem Julia Timoschenko ihr Amt übergeben hat, die prorussische Haltung ihres Nachfolgers auf die Geschichtsdeutung in der Ukraine auswirken wird.
Links zum Thema:
Ukraine und Weißrussland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8-9/2007
Film:
Kritik zu: „Holod 33“ (Ukraine 1991), Regie: Oles Yanchuk, in: New York Times vom 1. Dezember 1991.
„Spell your Name“
...ist eine Sammlung von Interviews mit jüdischen Überlebenden des Holocaust in der Ukraine. Produziert wurde die Website von der USC Shoah Foundation for Visual History and Education (Steven Spielberg). Das Projekt wurde finanziert von der Viktor Pinchuk-Foundation. Viktor Pinchuk ist einer der einflussreichsten Oligarchen der Ukraine, er ist Gründer und Haupteigentümer der Interpipe Group, die zu den Marktführern der ukrainischen Stahlindustrie gehört, ihm gehören zudem vier TV-Kanäle. Viktor Pinchuk ist Mitglied des ukrainischen Parlaments.
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