Die Zeitgeschichte scheint die einzige historische Teildisziplin zu sein, deren inhaltliches Feld sich monatlich ausdehnt. Das Tempo allein in diesem Jahre 2011 ist hoch. Jahrzehntelange Gewissheiten wie die christlich-demokratisch legitimierte Atomkraft in Deutschland oder die Herrschaft arabischer Despoten über ihre unmündigen Völker wurden über Nacht der Geschichte überantwortet. Insofern ist es konsequent, dass der Klappentext den Autor des Buches als „Zeugen der Zeitgeschichte“ vorstellt, der auf dem Tahrir-Platz dabei war, als die Nachricht vom Rücktritt des ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak eintraf. Da dies während einer Liveschaltung mit der Tagesschau am frühen Abend des 11. Februar 2011 geschah, dürften allein in Deutschland noch ein paar Hunderttausend mehr zu „Zeugen der Zeitgeschichte“ geworden sein. Reporterglück nennt man das wohl, manchmal gibt es dafür auch einen Journalistenpreis. Doch auch wenn die Kameras Bilder und Töne einfangen, die die Korrespondenten mit ihren augenblicklichen Einschätzungen in unsere Fernseher, Handys und Computer einspeisen, reichen denn eine oder anderthalb Minuten, um zu berichten, was geschieht? Selbst wenn wir schon viel wissen und uns für gut informiert halten, verstehen wir wirklich, wie die Welt sich vor unseren Augen verändert? Wohl eher nicht und daher ist es einem Fernsehkorrespondenten hoch anzurechnen, wenn er aus all seinen Gesprächen, Begegnungen und Recherchen, die nie den Weg in die Tagesschau fanden, ein Buch schreibt, dass informativ, bewegend und scharfsinnig ist und Zeitgeschichte erst fassbar macht.
Die Literatur zum arabischen Frühling und den Umbrüchen im Nahen Osten füllt inzwischen ganze Büchertische. Den Medienhistoriker interessieren natürlich vor allem die Bücher von Journalisten, denn sie erlauben die Beobachtung der Beobachter. Aus zeithistorischer Perspektive bieten diese Bücher vor allem Einblick in den Kontext der Korrespondentenarbeit, die Hintergründe der aktuellen Berichterstattung. In dieser Hinsicht ist dem Nahost-Korrespondenten der ARD, Jörg Armbruster, ein empfehlenswertes Reportagebuch gelungen, das der globalen Sicht der Tagesschau ein differenziertes Panorama der arabischen Revolutionen „von unten“ hinzufügt.
In 21 kurzen Kapiteln nähert sich Armbruster den Ereignissen in Ägypten, Tunesien, Libyen, Syrien, dem Jemen und dem kleinen Inselstaat Bahrein noch einmal an und lässt dazu die Menschen sprechen. Ihre Geschichten, ihre Erwartungen und Erlebnisse nehmen den Umbrüchen ihre kulturelle und räumliche Distanz. Gleichzeitig werden so die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Revolutionen deutlich, ihre Ursachen, Erfolgsfaktoren und die Konsequenzen für die gesamte Region. Für den Zeithistoriker lesen sich die vielen Details wie eine Einladung zum diachronen Vergleich mit den Diktaturen,Revolutionen und Demokratien Europas im 20. Jahrhundert, eine Ermunterung für einen Blick über den fachlichen Tellerrand.
Die Säulen der Macht
Wichtige Voraussetzung einer Revolution ist die Tatsache, dass sie allgemein für unmöglich erachtet wird – sowohl von Ihren Befürwortern als auch von den alten Regimes. Für diese These bietet Armbruster eine Reihe von Beispielen, wenn er von einem Treffen mit dem Politiker der damals oppositionellen Moslembruderschaft, Ahmadi Mohammed, berichtet, der im November 2010 noch sagte: „An einen schnellen Wandel ist in Ägypten nicht zu denken.“[1] Vor einem schnellen Wandel schützte sich der Präsident Mubarak vor allem durch einen aufgeblähten Sicherheitsapparat, den der junge Oppositionelle Ahmed Salah, den Armbruster Anfang Januar 2011 interviewte, am eigenen Leib erfahren hatte: „Die Sicherheitskräfte beschäftigen über eine Million Ägypter, Polizisten in Uniform, in Zivil, Schlägertrupps, Spitzel. Jeder Nachbar kann ein Spitzel sein. Wir leben in einem Überwachungsstaat.“[2] Auch in Tunesien fühlte sich die herrschende Familie des Präsidenten Ben Ali sicher und gut geschützt. „Schließlich leistete sich das Land mit gerade mal rund zehn Millionen Einwohnern einen Polizeiapparat von über 100 000 Beamten. Das bedeutet auf hundert Einwohner kommt ein Polizist. Das muss ja wohl reichen dachten die Herrschenden.“[3] Eine zweite Säule der Macht, die Sicherheit versprach, waren die jeweiligen Staatsparteien, die wie die Baath-Partei in Syrien und im Irak (bis zur Einmarsch der USA), die PSD in Tunesien (bis 1988) allein oder wie in Ägypten die Nationaldemokratische Partei mit einigen Blockparteien das öffentliche Leben kontrollierte. Die auffällige Familienähnlichkeit mit dem Staatssozialismus sowjetischer Prägung ist sicher kein Zufall. Der Vater des Panarabismus und ägyptische Staatschef Gamal Abdel Nasser orientierte sich in den 1950er Jahren zumindest so sehr an der Sowjetunion wie es für die Waffenlieferungen nötig war. Nasser war auch das Vorbild Muammar al-Gaddafis.[4] Sein Libyen hieß seit 1977 „Sozialistische libysch-arabische Volksgemeinschaft“. 1986 ließ Oberst Gaddafi noch ein „Groß“ davorsetzen. In seinem dreibändigen „Grünen Buch“ findet sich die ideologische Erläuterung zu diesem Staatsnamen, eine „dritte Universaltheorie“ neben Kapitalismus und Kommunismus hatte ergeschrieben.[5] Das Buch, aus dem Gaddafi gerne persönlich vorlas, wie Jörg Armbruster berichtet, predigte eine Art islamische Basisdemokratie ohne Hierarchien. „Im ganzen Land sollen regelmäßig sogenannte Volkskongresse stattfinden, an denen jeder teilnehmen kann. Nicht in der Regierung, sondern auf diesen Volkskongressen sollten die wichtigsten politischen Beschlüsse getroffen werden. Damit sollte gesichert sein, dass jeder Libyer mitredet und mitentscheidet. Ein Land ohne Rangordnung und Machtpyramide sollte Libyen werden. […] In der Wirklichkeit des Landes ist nichts von dem Buch umgesetzt, nichts geht ohne Zustimmung des ‚Bruders Führer‘ und seines Regimes, und gegen das Regime geht schongar nichts.“[6] Auch Oberst Gaddafi und sein „Grünes Buch“ sind inzwischen Geschichte. Im April und Mai 2011 als die Reportagen Armbrusters entstanden, war das noch längst nicht sicher.
Ausschlaggebend für den Erfolg in fast allen arabischen Revolutionsländern – für Historiker sicher nicht überraschend – war und ist die Rolle des Militärs, der regulären Streitkräfte. Überall dort, wo sie die Revolution unterstützten wie in Tunesien oder sich abwartend verhielten so in Ägypten, gelang der Machtwechsel. „Überall dort, wo sich die Generäle gegen die Revolution stellten, scheitert die Revolution vermutlich, verläuft jedenfalls wesentlich blutiger,“ zeigt Armbruster an den Beispielen Syrien, Libyen und Bahrein überzeugend. Dass die Frage der Waffenlieferungen und millionenschweren Militärhilfen des Westens für einzelne Armeen der Region somit über Wohl und Wehe einer demokratischen Zukunft mitentscheidet, dürfte daher eigentlich einleuchten.
Die Medien und die Revolution
Woran liegt es, dass uns die Revolution in Ägypten so viel klarer erscheint, als der schon Monate währende Protest der Syrer gegen den brutalen Präsidenten Baschar al-Assad? Es fehlen uns die Bilder, meint der erfahrene Reporter Armbruster: „Ereignisse, über die es im Fernsehen so gut wie keine Bilder gibt, finden in den Köpfen der Fernsehzuschauer so gut wie nicht statt. Ein Krieg ohne Bilder im Fernsehen ist kein Krieg.“[7] Das sei genau das, was das Regime in Damaskus erreichen wolle, so der Autor, nämlich die Proteste ohne Zeugen niederzuschlagen. „Denn die syrischen Machthaber hatten in den Wochen vor dem Ausbruch der Unruhen im eigenen Land die weltweit übertragenen Revolten in Tunesien, Ägypten, und sogar in Libyen auf ihren Fernsehschirmen quasi live erleben können. Die Nachrichtensender Al Jazeera und Al Arabiya sind bei diesen Aufständen die wichtigsten Verbündeten der arabischen Jugendlichen, übertragen sie doch die Botschaften der Revolutionäre in die ganze arabische Welt. Das sollte sich in Syrien nicht noch einmal wiederholen, dachten Assad und Co. und sperrten das Land für die Weltpresse.“ [8] Bis auf wenige wackelige Bilder, die mit Handys aufgenommen wurden, fehlen die Belege für die blutige Unterdrückung der eigenen Bevölkerung durch die syrische Armee. Für die Journalisten außerhalb des Landes, die darüber berichten sollen, was dort geschieht ist das ein großes Problem: „Auf diese Bilder aus dem Internet waren die Medien angewiesen. Wochenlang haben wir Tagesschauen aus diesen Internetvideos zusammengeschnitten, es gab keine anderen Bilder, auch wenn es jedem Journalisten schwerfallen muss, mit diesem oft kaum nachprüfbaren Material die Zuschauer zu informieren. In Zeiten von Photoshop und billigen Schnittprogrammen können solche Videos auch manipuliert sein. […] Zwischen Reporter und Redaktion gab es deshalb heftigen Streit. Auf solche oft unklaren Videos ganz zu verzichten hätte aber bedeutet, nur mit Wortnachrichten zu arbeiten.“[9]
So wichtig die Bilder und die Berichterstattung für die Wahrnehmung der Ereignisse außerhalb der Länder waren und sind, so bleibt der Journalist Armbruster doch skeptisch gegenüber der These von der „Facebook-Revolution“ in Nordafrika. Dagegen würden schon die Fakten sprechen. Immerhin die Hälfte aller Tunesier hat einen Internetzugang, in Ägypten sind es schätzungsweise 2,5 Millionen vor allem junge Internetnutzer – nur ein kleiner Teil der Bevölkerung. „Rund Dreißig Prozent aller Ägypter sind Analphabeten, mehr Frauen als Männer, Bauern häufiger als Städter.“ Wer noch nicht mal ein Flugblatt oder die Zeitung lesen kann, wird sich kaum von den Internetblogs gebildeter Jugendlicher aus den Städten mobilisieren lassen. Daher zieht der erfahrene Nahost-Korrespondent aus eigener Anschauung den Schluss: „Facebook und Twitter sind wichtige Hilfsmittel, reichen aber allein auch heute nicht aus, um eine Revolution zu machen, die Bestand hat, auch wenn Internetromantiker dies gern behaupten. Vor Scharfschützen auf Hausdächern und Panzer schützen Twitter, Facebook & Co. jedenfalls nicht.“[10]
Die soziale Frage
Jahrzehntelang haben die arabischen Präsidenten ihre Länder als ihr Eigentum betrachtet und in unvorstellbarem Ausmaß ausgeplündert. „Über 57 Milliarden Dollar sollen habgierige Ägypter in den letzten zehn Jahren ins Ausland geschafft haben, hat die für Korruption zuständige Staatsanwaltschaft in Kairo ausgerechnet.“[11] Es ist diese soziale Dimension von Korruption, Armut und Hoffnungslosigkeit, die Armbruster so anschaulich als Ursachen der Revolutionen nachzeichnet. Viele Details dürften hier weithin unbekannt sein. Wie die Streiks im ägyptischen Mahalla al Kubra, bei der Mubaraks Bereitschaftspolizei im April 2008 mehrere Textilarbeiter erschoss. [12] Oder die Tatsache, dass Syrien seit Jahren unter Wasserknappheit leidet und die Landwirtschaft daher in der Provinz Deraa im Süden des Landes aufgegeben werden musste. Hunger, Armut und Landflucht waren die Folge und Mitursache für den Beginn des Aufstandes in dieser Stadt.[13]
Gleichzeitig ist die soziale Frage entscheidend für die weitere demokratische Entwicklung in Tunesien und Ägypten wie auch in allen arabischen Ländern. „Unter dreißig sind heute in der arabischen Welt über 350 Millionen Menschen, von denen mindestens jeder vierte keine Arbeit hat. In keiner anderen Region der Welt ist es für einen Jugendlichen schwerer, einen Arbeitsplatz zu finden,als im Nahen Osten.“[14]Ohne Jobs, da ist sich Armbruster sicher, wird es kein dauerhaftes Vertrauen in die Demokratie geben.
Da ist es keine gute Nachricht für die Revolutionäre der Region, dass der Nachbar Europa als Bündnispartner in absehbarer Zeit ausfällt. Die politischen und ökonomischen Ressourcen der Wohlstandsdemokratien in der EU reichen kaum für den eigenen Zusammenhalt. Eine umfangreiche wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Unterstützung zur gesamtgesellschaftlichen Stabilisierung Nordafrikas oder der Levante ist daher wohl nicht zu erwarten. Insofern besteht die reale Gefahr, dass aus dem arabischen Frühling recht bald eine Episode der Zeitgeschichte werden könnte.
Jörg Armbruster: Der arabische Frühling. Als die islamische Jugend begann, die Welt zu verändern, Westend Verlag, Frankfurt/M. 2011, 238 Seiten, 17 Euro.
[1] S. 11.
[2] S. 9.
[3] S. 65.
[4] S. 115.
[5] S. 122.
[6] S. 122f.
[7] S. 96.
[8] Ebd.
[9] S. 95f.
[10] S. 66.
[11] S. 188.
[12] S. 225.
[13] S. 98f.
[14] S. 234.