Veröffentlicht: Januar 2011
Der Lada ist für die Russen mehr als nur ein Auto. Das ist, einfach zusammengefasst, das Hauptthema des Films „Ballada“, der seit dem 13.1.2011 in den deutschen Kinos zu sehen ist. In der Dokumentation geht es jedoch nur vordergründig um das Verhältnis der Russen zu dieser Automarke. Mit „Ballada“ gelang dem Regisseur Andreas Maus ein vielschichtiges und subtiles Portrait der russischen Gesellschaft.
Das Wort „Lada“ ist im Russischen weiblich und bedeutet „Geliebte“. Ideale Voraussetzungen also, um ein besonderes Verhältnis zu diesem Kraftfahrzeug aufzubauen. Aber warum ist dieses Verhältnis so besonders? Und was macht das Besondere aus? Genau diesen Fragen spürt der Film nach. Dabei werden – wie so oft bei Filmen dieser Art – keine eindeutigen Antworten gegeben. Andreas Maus begleitet und portraitiert Menschen aus unterschiedlichen Landesteilen Russlands, die auf den ersten Blick nichts verbindet außer der Marke ihres Autos. Indem der Film dem Verhältnis dieser Menschen zu Lada, der Geliebten, nachgeht, rückt immer stärker das allgemeine Lebensgefühl der Protagonisten in den Mittelpunkt. Die Eindrücke haben eher Collage-Charakter und bieten wohl dem Russlandkenner keine fundamental neuen Einsichten über die russische Gesellschaft. Aber die Perspektive der Darstellung ist so originell, dass der Film auf jeden Fall sehr sehenswert ist.
Lada ist etwas Besonderes. Das betont der Film von Anfang an, denn als Erzählerin fungiert Lada selbst. Sie berichtet dem Zuschauer Einzelheiten aus dem Leben der Protagonisten und kommentiert deren Handlungen. Aber auch für sich fordert sie die Aufmerksamkeit ein, die einer Dame gebührt. Und sie ist eine selbstbewusste Dame, die um ihre Bedeutung für die Entwicklung der russischen Gesellschaft weiß. Sie bezeichnet sich als „das erste russische Auto, das die Herzen der Menschen begeisterte“. In einem Land mit KGB und bösen Nachbarn hätte sie als „Zimmer auf vier Rädern“ den Menschen ein Stück Freiheit und Unabhängigkeit gegeben, einen privaten Rückzugsraum, und so hätte sie den Untergang des Sozialismus eingeläutet. Eine steile These, die aber auf ihre Weise einen wahren Kern enthält: Lada ist ein Relikt, und sie steht für das Gute aus einer untergegangenen Zeit. Der Film stilisiert sie so auch als Projektionsfläche für die nostalgischen Erinnerungen der Menschen an ein Gestern, das es in Wirklichkeit nie so gab.
Lada träumt ebenfalls von den alten Zeiten, in denen sie als „Alleinherrscherin des Transports“ das Straßenbild im ganzen Land prägte und ihre „breiten Hüften (...) der letzte Schrei“ waren. Damals hatte sie noch wenig Konkurrenz durch die „inomarki“, die prestigeträchtigeren ausländischen Automarken, von denen sie mittlerweile zumindest in den Städten verdrängt wurde. Lada sieht sich als die „letzte Überlebende des ruhmreichen Sozialismus“, und sie blickt auf eine erfolgreiche Geschichte zurück: Sie habe mehr Länder erobert als alle russischen Panzer. Nun ist sie das Auto der Menschen, die von den Umwälzungen im postsozialistischen Russland an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden.
Hat sie nun durch die Tatsache, dass es sie immer noch gibt, bestimmte Qualitäten und eine besondere Überlebensfähigkeit unter Beweis gestellt, oder hat einfach vor 30 Jahren jemand vergessen, das Fließband abzustellen? Unwillkürlich bezieht man diese Frage auch auf die Menschen, mit denen Lada den Zuschauer bekannt macht. Doch der Alltag, den Lada mit ihren Besitzern teilt, lässt den Zuschauer zweifeln, ob es auf solche Sinnfragen überhaupt eine allgemeingültige Antwort gibt.
Da ist Murat aus Armenien, der vor zwölf Jahren nach Moskau kam, um als Spirituosenhändler seinen persönlichen Traum vom Glück zu verwirklichen. Nun hält er sich und seine Familie als Schwarztaxifahrer über Wasser. Seine „Schwalbe“, wie er Lada zärtlich nennt, ist ihm dabei eine Art zuverlässige Geschäftspartnerin. Mit ihr behauptet er sich als Kaukasier in einer Stadt, in der „Schwarze“ oft nur geduldet werden.
Da sind die Polizisten Oleg und Vladimir, die davon träumen, einen Terroristen zu fangen und so endlich Karriere zu machen. Einstweilen fahren sie in ihrem Lada Streife, ahnden das nicht ordnungsgemäße Verschließen von Autotüren oder überprüfen Umbauten an Autos auf ihre Konformität mit der russischen Straßenverkehrsordnung.
Da sind Tatjana und Maksim, ein seit vierzig Jahren verheiratetes Paar, das irgendwo in der russischen Weite lebt. Für sie ist Lada die „Kutsche“, mit der die beiden sich einmal im Jahr „ihre Weltreise“ gönnen: Sie fahren in die nächste Stadt, wo Maksim seiner Tatjana jedes Mal Pralinen und einen Blumenstrauß kauft. Dies ist ihr einziger Luxus.
Da ist Michail Ivanyc, ein verrenteter Lehrer, der sich mit dem Verkauf von Ziegenmilch ein paar Rubel dazuverdient. Lada beklagt sich, er habe ihr die Rückbank ausgebaut, um seine Ziegen transportieren zu können. Der Geruch ginge nie mehr raus...
Es ist fraglich, ob diese Menschen ihre „Geliebte“ in erster Linie als Teil eines bestimmten Lebensgefühls ansehen. Für sie ist Lada wohl zunächst einmal ein Fortbewegungsmittel. Sie ist robust genug für die „Straßen“ in der russischen Provinz. Sie hat keine aufwändige Ausstattung, so dass man die (im Film ständig gezeigten) Reparaturen selbst ausführen kann. Und sie ist eben das Auto, das die Leute gerade besitzen. Wozu ein anderes Auto kaufen, wenn das alte noch seinen Zweck erfüllt? Und wenn, davon abgesehen, sowieso die nötigen finanziellen Mittel fehlen? Wenn Lada hier Symbolcharakter hat, dann eher unfreiwillig und nur in den Augen der Zuschauer: Das Auto steht für die russische Provinz, wo es noch öfter anzutreffen ist als in den großen Städten. Damit ist es ein Teil des ländlichen, provinziellen Russlands, das sowohl in Deutschland als auch in Russland selbst gerne als das eigentliche Russland verstanden wird.
Bei einigen Protagonisten, die im Film vorgestellt werden, liegt der Fall jedoch anders. Für sie ist Lada durchaus ein Symbol; Die Biografie dieser Menschen ist unmittelbar mit der Automarke verbunden oder sie begreifen das Fahrzeug als ein Kultobjekt:
Da sind Julija und ihre Clique, die im nächtlichen Moskau illegale Autorennen organisieren. Sie haben sich bewusst für ihre Ladas entschieden, die Marke ist für sie Teil des Lebensgefühls. Auch wenn man irgendwann nicht mehr umhin käme, sich für offizielle Anlässe ein ausländisches Auto zuzulegen: Der Lada ist für sie ein Kultauto, und nur zu ihm könne man eine Beziehung aufbauen.
Und da sind vor allem Kolja und seine Freunde. Sie leben in Togliatti im Gebiet Samara. Dort ist der russische Produktionsstandort von Lada. Die Männer waren Lada-Arbeiter der ersten Stunde. Nun wurden ihre Arbeitsplätze gestrichen, und sie verbringen die meiste Zeit in der Garage, wo sie an ihren Autos herummontieren und Ersatzteile tauschen. Außerdem treffen sich die „garažniki“ regelmäßig, um zu essen, zu musizieren, zu politisieren und... zu trinken. Die Marke Lada ist bisher ihr Lebensinhalt, der überwiegende Teil ihrer Biografie. Dies alles wird nun abgewickelt. Kolja und seine Leute blicken einer ungewissen Zukunft entgegen.
Dies ist die andere Seite: Lada steht im Film auch für eine Erfolgsgeschichte, welche die Gegenwart mit der Sowjetzeit verbindet. Und es handelt sich um eine Erfolgsgeschichte der Technik. So ist die Marke politisch neutral und bietet die Möglichkeit, sich mit ihr zu identifizieren, ohne auf die üblichen Vergangenheitsbewältigungsdebatten eingehen zu müssen. Diese Identifikation mit einer Automarke und ihre Propagierung als Symbol können – beispielhaft an Julia und den anderen „Rennfahrern“ dargestellt – auch einen Brückenschlag in die Vergangenheit ermöglichen. Man vergewissert sich der positiven Seiten der Geschichte des eigenen Landes, um die Umstände der Gegenwart zu kompensieren.
Zwischen diesen beiden Polen – Gebrauchsgegenstand und Kultobjekt beziehungsweise Symbol – bewegt sich die Heldin des Films. Die Hauptaussage der Dokumentation wird davon nicht beeinflusst: „Ballada“ vermittelt überzeugend, dass der Lada in Russland mehr als nur ein Auto ist. Trotzdem wird die gesamte Bandbreite an Einstellungen zu diesem Verkehrsmittel gezeigt. So bietet der Film keine vorgefertigten Antworten, sondern eine Collage an Eindrücken, die jeder Zuschauer selbst zu einem Bild zusammenfügen kann.
Aber auch wenn Lada nicht für alle Protagonisten ein Symbol bedeutet: Der Film zieht durchaus Parallelen zwischen den dargestellten Menschen und der Automarke. Lada ist ihren Besitzern in gewisser Weise ähnlich: Auch sie stammt aus einer anderen Zeit und fand sich durch die Entwicklungen in Russland in einer gesellschaftlichen Außenseiterrolle wieder. Auch sie ist flexibel und gibt sich mit improvisierten Lösungen (= notdürftigen Reparaturen) zufrieden. Auch sie weiß nicht, was ihr die Zukunft bringen wird, verbreitet aber den russischen Optimismus des „Vse budet!“ („Wird schon werden!“) So verkörpert Lada im Film das Lebensgefühl der portraitierten Menschen, die zwar in die Zukunft blicken und teilweise bereit sind, sich auf diese Zukunft einzulassen, aber ihre Kraft aus der Vergangenheit schöpfen. Ihren Ausweg aus dieser Situation formuliert Lada folgendermaßen: „Ich werde einfach das Gute behalten und die Nostalgie wegrosten lassen!“
Sie werden sich schon irgendwie durchschlagen, Lada, Murat, Julija, Kolja und die anderen...
Siehe dazu außerdem den Beitrag auf filmportal.de