von Bernd Greiner

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1. Juni 2017

Gibt es Parallelen zwischen den USA unserer Tage und den frühen 1930er Jahren in Deutschland, zwischen dem Triumph einer Diktatur und einem Präsidenten, der erklärtermaßen zum Kampf gegen das „alte System“ angetreten ist? Wie anfällig und wie widerstandsfähig sind Demokratien in Zeiten fundamentaler Herausforderungen? Allein diese Fragen bieten Anlass zu hitzigen Debatten, Streit und nicht zuletzt zu Missverständnissen. Deshalb muss das Offenkundige immer wieder betont werden: Geschichte wiederholt sich nicht, jede Zeit verlangt ihre eigenen Antworten, weil sie sich auf stets eigene Weise entwickelt – ausgestattet mit unverwechselbaren Voraussetzungen, Akteuren, Handlungsmöglichkeiten. Eine historisch vergleichende Betrachtung, die sich über derlei Fundamentales hinwegsetzt, hat ihren Sinn und Zweck verfehlt. Entscheidend ist vielmehr die Perspektive: Welche Probleme werden miteinander in Bezug gesetzt? Inwiefern kann der Blick in Vergangenes zum geschärften Verständnis des Hier und Heute beitragen? Und umgekehrt: Wie verändert die „Geschichte der Gegenwart“ unser Bild der Vergangenheit? So gesehen sind historische Vergleiche stets möglich und in der Regel sinnvoll, auch ein Vergleich zwischen dem Ende der Weimarer Republik und den USA unter Trump. Entscheidend ist das Vorhandensein eines gemeinsamen Dritten. In unserem Fall handelt das Verbindende von der Fragilität, der Verletzlichkeit und dem Unfertigen von Demokratien, von Angriffsflächen, die ihre Feinde, egal, in welcher Kostümierung und mit welchen Waffen, zum Zwecke der Revision oder Abschaffung demokratischer Verfasstheit ausbeuten.

Mit Donald Trump betrat im Jahr 2016 ein chronischer Verächter all dessen die Bühne, was Demokratie im Innersten zusammenhält: Gewaltenteilung, Primat des Rechts, Repräsentation und Mitsprache. Im Grunde verging seit seiner Bewerbung um das höchste politische Amt kein Tag, an dem er sich nicht über traditionelle Spielregeln lustig gemacht und megalomanischen Phantasien über die eigene Machtvollkommenheit freien Lauf gelassen hätte. Für die Publizität einschlägiger Attribute betrieb er selbst den größten Aufwand: Oligarch, Plutokrat, Populist, Angstunternehmer oder eben Autokrat. Andererseits scheinen diese tradierten Kategorien nicht trennscharf genug. Dafür lieferte Trump das Anschauungsmaterial ebenfalls frei Haus, nämlich in Gestalt eines Interviews mit dem Londoner „Economist“, das von künftigen HistorikerInnen möglicherweise als Schlüsseltext zu seiner Präsidentschaft gewertet werden wird.[1] Im Grunde weckt dieser Text Gefühle, die sich auch in Erinnerungen an die späte Weimarer Republik zuhauf finden: Ungläubigkeit, Fassungslosigkeit und Schock. Wann ist es je vorgekommen, dass ein amerikanischer Präsident buchstäblich auf keine Frage auch nur eine halbwegs zusammenhängende Antwort geben kann? Dass sich groteske Ahnungslosigkeit mit irrlichternden Assoziationen paart und grenzenlose Selbstbewunderung als einzige Konstante übrigbleibt? Mehr noch: Was hat es zu bedeuten, dass dieses Interview autorisiert und zur Publikation freigegeben wurde?

Es ist ein Leichtes, derlei Auftreten zu psychologisieren oder gar zu pathologisieren. Zumal einiges dafür spricht, dass Trump tatsächlich eine multiple gestörte Persönlichkeit ist und, in den Worten der „New York Times“, die „Gefährlichkeit eines innerlich hohlen Menschen“[2] oder schlicht eines Infantilisten ausstrahlt, der nur die Spielregeln einer einzigen Welt kennt und gelten lässt – die seiner eigenen. Ins Politische gewendet, lässt dieser Befund auf eine zum Programm geadelte Unberechenbarkeit schließen. Hier und jetzt, so soll die über den „Economist“ verbreitete Botschaft offenbar verstanden werden, ist alles möglich, alle müssen jederzeit und überall mit allem rechnen – eingedenk des Kalküls, dass verängstigte und eingeschüchterte StaatsbürgerInnen eigentlich keine StaatsbürgerInnen mehr sind, sondern Gefolgsleute. Dass damit zugleich der Goldstandard internationaler Politik, nämlich Berechenbarkeit, Verlässlichkeit und Transparenz, entsorgt wird, versteht sich von selbst.

Welche Messlatte man auch immer anlegt, es bleibt das politische Novum und das moralische Skandalon zu konstatieren, dass es jemand dieses Schlages in das höchste Staatsamt geschafft hat. Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Welche Personen und Umstände hievten einen Mann auf den Thron, der in jeglicher Beziehung für das Weiße Haus ungeeignet ist? Der es in kürzester Zeit geschafft hat, das Ansehen seines Amtes im Kern zu beschädigen? Und von dem alle, die je mit ihm zu tun hatten oder ihn aus der Nähe beobachten konnten, exakt diese Bilanz erwartet haben?

Die Frage so zu stellen, heißt, den Blick über Trump hinaus zu richten und zur Kenntnis zu nehmen, dass dieser Präsident nicht die Ursache des Problems, sondern ein Symptom vieler Probleme ist. Nichts davon ist neu oder unerforscht, zu allem gibt es umfangreiche Literatur und hitzige Debatten. Neu ist allenfalls die eruptive Wucht, die schiere politische Urgewalt, mit der lange Angestautes an die Oberfläche drängt und den Berstschutz einer demokratischen Verfassung unkalkulierbaren Belastungsproben aussetzt. Womit eine nicht zu übersehende Parallele zur Spätphase der Weimarer Republik angesprochen ist: die hintergründige Nervosität der Zeitgenossen, das dumpfe Gefühl, einer Entwicklung ausgesetzt zu sein, die sich nur noch mit größter Mühe, wenn überhaupt steuern lässt, nicht zuletzt, weil man das Bedrohliche allzu lange nicht ernst genommen, kleingeredet oder vollends ignoriert hat.

Die Rede ist erstens von einem dysfunktionalen Parteiensystem. Warum sich seit Ende des 19. Jahrhunderts in den USA zwei Parteien etablieren und im Laufe der Zeit einer oft vielfältigen Konkurrenz die Luft zum Atmen nehmen konnten, wäre eine eigene Erörterung wert. Für unseren Zusammenhang ist die Leerstelle am vorläufigen Ende dieses Prozesses von Bedeutung. Nicht nur verweigert die Hälfte der Wahlberechtigten regelmäßig den Urnengang; mit dem galoppierenden Niedergang der Gewerkschaften entfällt auch jener Ort kollektiver Interessenvertretung, der das Fehlen einer politisch dritten Kraft jahrzehntelang abgefedert hatte. Politische Ortlosigkeit wird in der Kombination mit ungelösten sozialen Problemen bekanntlich zum Sprengsatz. Wie anders soll man Zustände benennen, in denen ehedem Undenkbares neuerdings zur Normalität gehört – etwa eine seit Jahren rückläufige Lebenserwartung beim unteren Mittelstand? In den frühen 1930er Jahren entgiftete Franklin D. Roosevelt eine ähnliche Melange mit einem Geniestreich, indem er die Demokratische Partei für neue Wählergruppen öffnete und einem sozialdemokratischen Reformflügel der Arbeiterbewegung den Rücken stärkte. Wie weit man sich seither von dieser Politik sozialer Inklusion distanziert hat, unterstrich der Oberste Gerichtshof im Jahr 2010 mit dem Grundsatzurteil „Citizen United“: indem Großspenden zu legitimen Akten freier Meinungsäußerung erklärt wurden, fielen ausgerechnet in der sklerotischen Phase des Zweiparteiensystems alle Barrieren einer kapitalfixierten Lobbypolitik. Welche Schlüsse real oder imaginiert Ausgeschlossene daraus ziehen, liegt auf der Hand. Ebenso, dass elitäre Demagogen in solchen Zeiten sich als Sachwalter aller Verlierer erfolgreich in Szene setzen können.

Zum politischen Lebenselixier selbst ernannter Retter gehört zweitens der machtpolitische Opportunismus eingesessener Eliten. Seit Jahren gibt der Obstruktions- und Blockadekurs der Republikanischen Partei Rätsel auf, wird darüber gestritten, warum deren Führung jeglichen Respekt vor dem „common good“ vermissen lässt und eher bereit ist, einen Staatsbankrott zu riskieren als mit den Demokraten Kompromisse zu schließen – siehe die wiederholten Erpressungsmanöver in den Haushaltsdebatten seit 2008. Die überzeugendste Antwort verweist auf die Panik vor einem drohenden politischen Bedeutungsverlust. Im Inneren ist die wahlentscheidende Bedeutung weißer WählerInnen durch den demographischen Wandel und die kulturelle Diversifizierung des Landes gefährdet, im Äußeren sind die Zeiten amerikanischer Vor- oder gar Hegemonialmacht endgültig vorbei. Beides nötigt zu gedanklichen Experimenten und politischen Umorientierungen, die Zeit kosten und mit dem Risiko rückläufiger Popularität behaftet sind. Darauf will sich die Führung der Republikaner offenkundig nicht einlassen. Stattdessen wirft sie sich um des kurzfristigen Vorteils willen jedem Mehrheitsbeschaffer an den Hals. Solange die politischen Dividenden stimmen, ist schlichtweg jeder willkommen, christliche Fundamentalisten, Tea Party-Ideologen und libertäre Radikale sowieso, aber eben auch ein irrlichtender Aufsteiger vom Schlage Donald Trumps. Dass sich viele offenbar der Illusion hingeben, die Realität der Macht werde den Unkalkulierbaren zur Aussöhnung mit der Realität zwingen oder man könne ihn im Zweifel mit vereinten Kräften bändigen, macht den Vorgang nicht besser – im Gegenteil. An anderen Orten und zu anderen Zeiten gemachte Erfahrungen unterstreichen, wie selbstverblendet und am Ende fatal ein derartiges Kalkül sein kann. Wer sich dabei nicht mehr als die Finger verbrennt, hat schlicht das Glück auf seiner Seite.

Drittens ist seit gut zwei Jahrzehnten eine Radikalisierung der politischen Mitte in den USA zu beobachten und mit ihr eine Selbstmobilisierung, die zwar in das traditionelle Parteienspektrum hineinreicht, aber von dort nicht mehr richtungsgebend beeinflusst werden kann. Evangelikale Fundamentalisten gaben den Anstoß, Aktivisten der Tea Party schreiben seit 2008 das vorerst letzte Kapitel. Sie sind die treibende Kraft hinter dem „Trumpismus“, sie verfügen über ein klar definiertes Welt- und Politikbild, sie folgen einem Fahrplan zur Macht – im Unterschied zu den Abgehängten und Depravierten, die ohne den ideologischen Glutkern im Zentrum eine politisch volatile Irritation geblieben wären. Auf diesem Weg wurde die Sprache des Ressentiments, der Wut und des blanken Hasses zur politischen Leitwährung. Vor allem aber kam ein aus vergangenen Epochen bekannter, aber in den USA nie mehrheitsfähiger Begriff zu neuem Ansehen: der „Volkswille“. Was darunter zu verstehen ist, können auch seine amerikanischen Multiplikatoren nicht erklären. Umso deutlicher benennen sie die aus dem „Volkswillen“ abzuleitenden politischen Forderungen: Abschaffung der repräsentativen Demokratie samt ihrer arbeits- und machtteiligen Verfahren, Übertragung der Staatsgeschäfte auf denjenigen, der den Willen des Volkes vermeintlich lesen kann und zum Maßstab seines Handelns macht. Das Handbuch politischer Herrschaft kennt hierfür die Begriffe „autoritär“ und „autokratisch“ – oder eben „Führerprinzip“. Mit Elitenkritik und einem für Demokratien unerlässlichen Gegengewicht zum „Establishment“ hat dergleichen nicht mehr viel zu tun. Es geht um einen im Prinzip anderen Entwurf von Gesellschaft, Politik und Staat, um eine Ideenwelt, die keinen Platz für Interessenausgleich und Kompromissbildung lässt, weil sie vom totalitären Begehren nach Alleinvertretung komplett okkupiert ist.

Wie es mit der Präsidentschaft Donald Trumps nach 100 Tagen weitergehen wird und ob die bereits jetzt erkennbaren Beschädigungen – von der politischen Kultur bis zum institutionellen Gefüge – repariert werden können, ist offen. Bei allem Respekt vor den Aktivisten, die auf jede erdenkliche Art Paroli bieten wollen: Ihr Engagement ändert nichts daran, dass Amerikas Demokratie einer schweren, vielleicht der gravierendsten Belastungsprobe ihrer Geschichte ausgesetzt ist. Das sklerotische Parteiensystem, der Machtopportunismus konservativer Eliten und die Selbstradikalisierung der politischen Mitte bedeuten keine kurzfristigen Abweichungen, sondern stehen für strukturelle Herausforderungen, die allen Korrektoren einen langen Atem abverlangen. Will heißen: Selbst wenn Donald Trump sein Projekt gegen die Wand fährt, ist das Kapitel „Trumpismus“ noch längst nicht geschlossen.
Es bliebe vielmehr eine eindringliche Erinnerung an die Gefahr, die von autokratischen Politikern ausgeht. Schließlich lebt Demokratie von Voraussetzungen, die sie aus sich selbst heraus nicht garantieren kann, was sie zur verletzlichsten Staatsform überhaupt macht.

 

 

 

[1] Transkript: Interview with Donald Trump. The Economist talks to the President of the United States about economic policy, May 11th 2017, letzter Zugriff: 29.06.17.
[2] David Brooks, "When the World Is Led by a Child", in: The New York Times, 15.5.2017, letzter Zugriff: 29.06.17.